Ordnungspolitischer Führungsanspruch im postsowjetischen Raum
In den letzten zwei Jahren hat Russland seine Politik der Einbindung der postsowjetischen Staaten intensiviert. Diese soll die weitere Erosion des russischen Integrations- und Sicherheitsraumes aufhalten und die Entwicklung umkehren. Sie soll zudem einer eventuellen Westbindung osteuropäischer Staaten sowie einer handelspolitisch bedingten Bindung der Staaten Zentralasiens an China vorbeugen.
Die jüngsten Aktivitäten Russlands sind nicht zuletzt durch die Verabschiedung der Östlichen Partnerschaft der Europäischen Union motiviert, die den Staaten in Osteuropa und im Südkaukasus die Perspektive einer politischen Assoziation und der wirtschaftlichen Integration in die EU anbietet. Nach der Verabschiedung der Östlichen Partnerschaft sieht sich Moskau unter Zeitdruck, wenn es um den Erhalt seines Machtbereiches geht.
Eine Reihe von Entwicklungen der letzten Jahre bestärkten die russischen politischen Eliten aber in dem Glauben, dass der ordnungspolitische Führungsanspruch Russlands mindestens in einem Teil des postsowjetischen Raumes erfolgreich durchgesetzt werden kann.
Nachdem die Kontroverse über den möglichen Beitritt der Ukraine und Georgiens zur NATO im Jahr 2008 vorbei ist, steht die Beitrittsoption seit 2009 vorübergehend nicht mehr auf der Tagesordnung.Die beschleunigte Einführung der trilateralen Zollunion von Belarus, Kasachstan und Russland hat bei den Versuchen zur Schaffung eines postsowjetischen Integrationskerns um Russland herum eine neue Dynamik entstehen lassen.Die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen in der Ukraine von 2010, in denen die für die »Westbindung« der Ukraine eintretenden politischen Kräfte abgewählt worden waren, haben in Moskau die Hoffnung aufkommen lassen, dass die Option einer Einbindung der Ukraine wieder Aktualität gewinnen könnte.
Doch gegenwärtig bleibt die Integrationspolitik Russlands auf zwei Staaten – Belarus und Kasachstan – beschränkt, obwohl Moskau die Idee einer zügigen räumlichen Erweiterung der Zollunion in allererster Linie um die Ukraine parallel zu ihrer Vertiefung keineswegs aufgegeben hat.
Die Konzentration Moskaus auf die Zollunion hat gleichzeitig die Aktivität in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) mit ihren zehn Mitgliedstaaten und im Rahmen der seit geraumer Zeit von Moskau favorisierten Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft (EAWG) mit fünf Staaten (vgl. Tabelle 2 auf S. 11) deutlich zurückgehen lassen. Moskau bemüht sich allerdings um die Ausarbeitung eines neuen Freihandelsabkommens der GUS-Staaten, das das nie vollständig umgesetzte Abkommen von 1994 ersetzen soll.
Moskau sucht zwar auch die Konsolidierung der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) zu erreichen, deren Mitgliederschaft weitgehend mit der der EAWG identisch ist (vgl. Tabelle 2 auf S. 11), aber weiterhin ohne sichtbaren Erfolg. Als Konsequenz musste man die Option einer noch 2007 ernsthaft erwogenen engeren Verknüpfung zwischen der EAWG und der OVKS ruhen lassen.
Die Zollunion
Alle diese Entwicklungen rückten die Gestaltung der Zollunion mit Belarus und Kasachstan in den Mittelpunkt der russischen Einbindungspolitik gegenüber dem postsowjetischen Raum.
Das gegenwärtige Projekt der Zollunion hat seinen Ursprung im Abkommen von 2003 über die Gründung eines Einheitlichen Wirtschaftsraums (EWR) von vier Staaten – Belarus, Kasachstan, Russland und der Ukraine –, der die konsekutive Einführung einer Freihandelszone, einer Zollunion und eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes anstrebte. Letzterer wird als Sicherstellung einer Harmonisierung des Regelwerkes für wirtschaftliche Aktivitäten und der freien Bewegung von Waren, Dienstleistungen, Arbeitskräfte sowie Kapital definiert.
Schon bei der Unterzeichnung des Abkommens machte der damalige Präsident der Ukraine Leonid Kutschma deutlich, was dann auch das ukrainische Parlament bei der Ratifizierung bestätigte, dass Kiew nur beschränkt an dem Vorhaben teilzunehmen bereit war. Es zeigte, wie auch bei allen früheren Verhandlungen im Rahmend der GUS, allein an der Entwicklung des freien Handels Interesse und lehnte kategorisch jegliche übernationale Strukturen ab. Das letztere war ein Grund dafür, dass bei der Verhandlung über das Abkommen, die man unbedingt vor den ukrainischen Präsidentschaftswahlen abschließen wollte, keine Einigung über die einzusetzenden Gremien des EWR erzielt und aus diesem Grunde das Sekretariat der EAWG mit der Ausarbeitung der vorgesehenen Einzelabkommen betraut wurde.
2006 schied die Ukraine endgültig aus der Umsetzung des EWR-Abkommens aus, weil ihr die vorbereiteten Teilverträge über den freien Handel und die Zollunion zu weit gingen. Belarus, Kasachstan und Russland beschlossen daraufhin, die Zollunion ohne die Ukraine zu realisieren.
Nach einigen Jahren schleppender Verhandlungen, die an mehrere frühere fruchtlose Anläufe erinnern ließen, beschlossen die drei Staaten überraschend im Juni 2009, die Zollunion im Eiltempo durchzusetzen. Trotz der noch offenen Fragen sollte zu Beginn 2010 der gemeinsame Zolltarif eingeführt werden und die Zollunion im Juli desselben Jahres in Kraft treten. Die Abschaffung der Zollgrenze zwischen Belarus und Russland – weitgehend vorbereitet durch die Arbeit an einem Unionsstaat – sollte im Juli 2010, die der Zollgrenze zwischen Kasachstan und Russland im Sommer 2011 erfolgen.
Trotz der Erfahrungen mit den ewigen Fristenverlängerungen und mangelnder Umsetzung ist dieser Zeitplan trotz aller Schwierigkeiten und ungeachtet wiederholter Handelskonflikte zwischen Belarus und Russland rigoros durchgesetzt worden. Die drei Staaten befinden sich inzwischen in einer Zollunion, deren Regeln – mit ihren zäh ausgehandelten Kompromissen und zahlreichen Ausnahmen – im Konsens von einer gemeinsamen Kommission bestimmt und weiter entwickelt werden.
2010 beschloss man die Einführung des EWR ohne weitere Pause schon für 2012. Zwar rechtfertigt die Liste von 17 abzuschließenden Abkommen die Annahme, dass es dabei noch um keine vollständige Wirtschaftsunion im Sinne des Abkommens von 2003 geht, doch soll das Vertragswerk die Durchführung einer abgestimmten makroökonomischen Politik, eine Vereinheitlichung der Marktregulierungen, die Erweiterung der Bewegung des Kapitals und der Arbeitskräfte über die Grenzen hinweg sowie die Vereinheitlichung der technischen Standards fördern.
Der Zeitplan für die Entwicklung der vorgesehenen Abkommen sowie für deren Ratifizierung ist knapp bemessen, so dass hier und da mit Verzögerungen zu rechnen ist. Doch die Absicht der drei Regierungen, das Vertragswerk trotz der kontroversen Debatten in hohem Tempo zu verwirklichen, ist nicht zu übersehen.
Ein wirtschaftliches oder ein geopolitisches Projekt?
Die wirtschafts- und handelspolitische Relevanz der Zollunion und des EWR bleibt umstritten. Der Effekt der Einführung der Zollunion wird sich erst zeigen müssen, obwohl die bisherige Handelsstatistik eher vermuten lässt, dass er sehr bescheiden ausfallen wird.
In der Tabelle 1 sind die Anteile des gegenseitigen bilateralen Handels der Mitglieder der Zollunion an ihrem gesamten Außenhandelsvolumen zusammengefasst. Es zeigt sich deutlich, dass, zum einen, der gegenseitige Handel zwischen Belarus und Kasachstan für beide Staaten eher unbedeutend ist und unter einem Prozent ihres gesamten Außenhandelsvolumens liegt. Für Russland ist der Handel mit beiden Staaten zwar nicht ganz unbedeutend, fällt aber relativ bescheiden aus. Den Exporten Russlands kommt dabei eine größere Rolle zu, wobei die Einfuhrquote konsequent abnimmt.
Russland kommt eine unvergleichbar größere Rolle als Handelspartner der beiden anderen Zollunionsmitgliedern zu, wobei sie im Falle von Belarus bestimmend ist. Fast die Hälfte des Außenhandelsvolumens von Minsk wird mit Russland abgewickelt. Bei Einfuhren nach Belarus liegt die Quote sogar deutlich über 50 Prozent.
Die wirtschaftliche und Außenhandelsstruktur Russlands und Kasachstans sind dabei so ähnlich – beide Staaten exportieren vorwiegend Energieträger und Rohstoffe und führen Investitionsgüter aus westlichen Staaten ein –, dass ein stärkerer Ausbau ihres gegenseitigen wirtschaftlichen Austauschs nur als Konsequenz einer tieferen, aber bisher ausgebliebenen Diversifizierung ihrer Volkswirtschaften denkbar wäre. Nicht zuletzt ergab sich aus ihren unterschiedlichen wirtschaftlichen Interessen, dass die Verhandlungen zwischen Moskau und Astana über die Einführung der Zollunion sehr viel schwieriger gewesen sind und viel mehr Kompromisse erforderlich gemacht haben, als die Gespräche mit Minsk, obwohl diese nach außen viel dramatischer verliefen.
Es gilt in Moskau, dass Russland bis auf die eventuelle Übernahme einzelner attraktiver Aktiva im Infrastrukturbereich (insbesondere Pipelines in Belarus) oder industrieller Natur kein großes wirtschaftliches Interesse an der Zollunion haben kann. Dafür sollten die beiden anderen Partner eher ein größeres Interesse an Zusammenarbeit mit Russland haben. Diese Interessenskalkulation soll deren Einbindung erst recht ermöglichen – aus der russischen Perspektive also pure Geopolitik .
In erster Linie war es aber der politische Wille der jeweiligen Führungen, die die Durchsetzung der Zollunion ermöglicht haben. Besonders stark soll sich der Präsident Kasachstans für das Projekt eingesetzt haben, was den wirtschaftlich motivierten Widerstand der Bürokratie in seinem Land zu brechen half. Moskau wollte sich die Chance nicht entgehen lassen und setzte auf das Projekt, das mit anderen Staatschefs in Minsk und Astana wohl überhaupt nicht machbar wäre. Ob das Projekt lange überlebt, bleibt allerdings offen. Denn in beiden Staaten steht in absehbarer Perspektive ein Wechsel an der Staatsspitze an.
Erweiterungsdebatte
Zu Beginn der Gespräche über den EWR zeigten die anderen zentralasiatischen EAWG-Mitgliedsstaaten – Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan – Interesse an einer Teilnahme. Doch agierte Moskau mit Vorsicht, denn es bemühte sich in erster Linie um die Einbindung der Ukraine. So sagte man allen potentiellen Interessenten ab und machte deutlich: Erst wenn der EWR funktioniert, und die Aspiranten zum Beitritt »fit« sind, sollen die Türen geöffnet werden. Man hatte auch von den Erfahrungen aus anderen Integrationsprojekten in der GUS gelernt: Alle Versuche, diese auf die maximal mögliche Teilnehmerzahl zu erweitern, trugen letztlich zu ihrem Scheitern bei.
Inzwischen scheint sich die Stimmung gewendet zu haben. Die unerwartet hohe Dynamik der Einführung der Zollunion hat Hoffnungen aufkommen lassen, dass es diesmal anders ausgeht. Die Bereitschaft, der Zollunion beizutreten, wird in Moskau wieder als Zeichen der Loyalität und als ein Preis für eventuelle Konzessionen seitens Russlands betrachtet. Als mögliche Aspiranten werden dabei Kirgistan, dessen Handel mit Kasachstan und Russland durch die Einführung der Zollunion stark betroffen war, und die Ukraine, die nach der Präsidentschaftswahl von 2010 erneut die Nähe zu Russland sucht, gehandelt. Gleich nach den Wahlen in der Ukraine wurde in Kiew und in Moskau spekuliert, welchen Beitrag der neue Präsident an Moskau zu leisten bereit sein wird, um einen ermäßigten Gaspreis zu bekommen. Der Beitritt zur Zollunion war eine der diskutierten Optionen.
Janukowitsch lehnte sie zwar mit der Begründung ab, dass der Beitritt mit der WTO-Mitgliedschaft der Ukraine nicht kompatibel sei, doch das Thema kommt immer wieder auf die Tagesordnung. Der verantwortliche Sekretär der Zollunion, Sergej Glasjew, wirbt mit Nachdruck dafür – und hält die Kompatibilitätsfrage für lösbar. Auch der Regierung der Russischen Föderation ist der Gedanke nicht fremd. Moskau lockt Kiew mit dem Argument, als Mitglied der Zollunion könne die Ukraine bessere Bedingungen für freien Handel mit der Europäischen Union in vier oder fünf Jahren aushandeln.
Somit wandelt sich das Konzept der Zollunion und des EWR – von einem fast verzweifelten minimalistischen Versuch, vor dem Hintergrund der Entwicklung der Östlichen Partnerschaft der EU den eigenen Integrationsbereich zu konsolidieren, hin zu einem Instrument einer Reintegration des postsowjetischen Raumes unter der ordnungspolitischen Führungsrolle Moskaus.
Hatte der minimalistische Ansatz Moskau wenigstens einen optischen Erfolg beschert, der als ein Durchbruch gilt, läuft es jetzt allerdings Gefahr, mit dem maximalistischen Ansatz das auszuhöhlen, was man bis dahin auf den Weg gebracht hatte.