Der rasante Wandel des globalen Erdgasmarkts
Die Schiefergasrevolution in den USA hat die Prognosen für die internationalen Erdgasmärkte und die Zukunft des russischen Erdgases gleichermaßen verändert. Bis zu Beginn der 2000er Jahre sahen alle Prognosen die USA als einen der größten Importeure von Erdgas. US-amerikanische Energieunternehmen bauten Häfen mit Regasifizierungsanlagen, um die aus dem Mittleren Osten erwarteten Schiffslieferungen von Flüssiggas aufnehmen zu können. Dann entwickelten jedoch eine Reihe kleinerer Unternehmen in den USA neue Technologien in den Bereichen horizontales Bohren und hydraulisches Aufbrechen, die dem US-Markt Zugang zu enormen Mengen neuer unkonventioneller Erdgasvorkommen im eigenen Land verschafften. Mithilfe der neuen Produktionstechniken konnten die US-Erdgasunternehmen buchstäblich Gas aus Stein gewinnen und quasi aus dem Nichts wuchs ihr Anteil an der gesamten US-Produktion bis zum Jahr 2009 auf 20 %.
2005 erwarteten die meisten Analysten noch, dass die USA bis 2030 große Mengen Erdgas importieren würden. So geht etwa »Hard Truths«, eine Studie des National Petroleum Council von 2005, davon aus, dass die USA beträchtliche Erdgasmengen aus Russland, dem Mittleren Osten, Westafrika, Venezuela und Asien beziehen werden. 2010 waren die USA dann aber bereits in der Lage, den größten Teil ihres Bedarfs aus inländischen Quellen zu decken. Im Dezember 2010 begannen sie sogar, Erdgas in kleinerem Umfang nach Europa zu exportieren. Die Internationale Energieagentur (IEA) schätzt, dass die USA über 230 Billionen Kubikmeter Erdgasreserven in Form vor allem von Schiefergas verfügen. Auch China könnte 100 und Europa 30 Billionen Kubikmeter Reserven haben.
Während die USA die Schiefergasproduktion stark expandierten, steigerte Katar seine Produktions- und Exportkapazitäten im Bereich Flüssiggas. 2009 wurden hier – der staatlichen US-amerikanischen Energy Information Agency (EIA) zufolge – 91 Mrd. Kubikmeter Flüssiggas produziert, das ist dreimal soviel wie im Jahr 2000. Die gestiegene Gasproduktion war ursprünglich für die US-Märkte vorgesehen gewesen, die an diesen Importen jedoch nicht mehr interessiert waren, so dass Katar sich stattdessen hauptsächlich auf die rasch wachsenden chinesischen und indischen Märkte konzentrierte. Ein Drittel seiner Erdgasexporte geht jedoch auch nach Europa. 2009 erreichten die Flüssiggasimporte der EU mit 68 Mrd. Kubikmetern einen bisherigen Höchststand, der 13 % des Bedarfs der EU entsprach.
Die steigende Erdgasproduktion in Kombination mit einem Nachfragerückgang im Zuge der globalen Wirtschaftskrise von 2008 hat die internationalen Erdgasmärkte stark verändert. Es kam zu einem enormen Überangebot. Die Höhe dieses Überangebots, gemessen als Differenz zwischen dem tatsächlich gehandelten Exportvolumen und den Exportkapazitäten in Form von Pipelines und Terminals für Flüssiggas, betrug 2009 insgesamt 130 Mrd. Kubikmeter und wird laut dem Weltenergieausblick der IEA von 2010 bis zum Jahr 2011 auf mehr als 200 Mrd. Kubikmeter anwachsen.
Kurzfristig wird das Überangebot niedrigere Erdgaspreise nach sich ziehen. Da Gas aber eine sauberere Energiequelle als Kohle oder Öl ist, werden diese niedrigen Preise mittel- und langfristig eine höhere Nachfrage generieren, was möglicherweise zu einer stärkeren Auslastung der Produktions- und Exportkapazitäten führen wird. Das wiederum könnte längerfristig wieder steigende Preise bewirken, wenn Kohle und Erdöl durch Erdgas ersetzt werden.
Auswirkungen auf Russland
Diese sich wandelnden globalen Rahmenbedingungen betreffen auch die russische Erdgasindustrie: Zumindest kurz- bis mittelfristig ist die Nachfrage nach russischem Gas rückläufig. Im Jahr 2010 sind die russischen Gasexporte nach Europa – der Nachrichtenagentur AFP zufolge – um 1,5 % auf 139 Mrd. Kubikmeter gesunken. Russland musste mit einigen seiner Hauptabnehmer über eine Reduzierung der vertraglich festgelegten Mindestabnahmemenge verhandeln. Doch obwohl die russischen Verkäufe nach Europa zurückgehen, ist das Bild, das sich für Russland in den Zeiten steigender Preise abzeichnet, nicht nur düster. Vielmehr ist Russlands gesamter Gasexport um 6% auf etwa 170 Mrd. Kubikmeter gestiegen. Dank der steigenden Lieferpreise ist der Wert der Erdgasexporte – der Bank von Finnland zufolge – sogar um noch eindrucksvollere 15 % auf 48 Milliarden US-Dollar gestiegen. Von ihrem Höchstwert, der 2005 mit 207 Mrd. Kubikmetern erreicht wurde, sind die russischen Gasexporte aber dennoch weit entfernt.
Russland musste auf die neuen Bedingungen reagieren. Traditionell verkauft Russland sein Gas gern in Form von Verträgen mit langen Laufzeiten, die »take or pay«-Klauseln beinhalten und den Preis des Erdgases an den Ölpreis koppeln. Die bei diesen Verträgen üblichen Laufzeiten von 20 bis 25 Jahren verschaffen Russland die Sicherheit, die es benötigt, um in massive Entwicklungsprojekte investieren zu können, die die Förderung neuer Gasvorkommen vorantreiben, die an der russischen Nordküste vermutet werden. Die »take or pay«-Klauseln verpflichten die Kunden zur Zahlung des Gases auch für den Fall, dass sie es nicht wirklich brauchen sollten, was eine zusätzliche Sicherheit für Russland bedeutet.
Mit dem Monopolisten Gazprom ist Russland in der Lage, gegenüber den europäischen Abnehmern mit einer geschlossenen, einheitlichen Position aufzutreten. Die Europäer dagegen haben lange gebraucht, um eine gemeinsame Energiepolitik zu koordinieren. Die größten Energieunternehmen von europäischen Schlüsselmächten wie Deutschland, Frankreich und Italien verfolgen jeweils partikulare Interessen, die sich von denen der Europäischen Union insgesamt unterscheiden. Die großen europäischen Unternehmen profitierten von den stabilen Vereinbarungen mit Gazprom und von hohen Preisen auf ihren Binnenmärkten, dank derer sie hohe Profite machen und gleichzeitig ihre Märkte schützen können. Die EU-Kommission versuchte dagegen, die Energieunternehmen in Produzenten und Pipelinebetreiber aufzubrechen und ihre regionalen Monopole zu beenden. Dazu sollte auch die Rolle der Spotmärkte vergrößert werden. Auf den Spotmärkten gibt es keine Verträge mit langer Laufzeit, hier können die Kunden das Gas dem Anbieter mit dem niedrigsten Preis sofort abkaufen und die Verkäufer können das Gas den Kunden verkaufen, die die höchsten Preise zu zahlen bereit sind.
Aufgrund des derzeitigen Überangebots an Erdgas sind die Spotpreise jetzt niedriger als die Lieferpreise in Gazproms langfristigen Verträgen. Die Liberalisierung des Erdgasmarktes bietet so derzeit offensichtliche Preisvorteile für europäische Verbraucher. Etliche europäische Energieunternehmen nutzen die Entwicklung auf den Spotmärkten auch, um Gazprom unter Druck zu setzen und zu günstigeren Preisen sowie einer Neuverhandlung der Lieferverträge zu bewegen.
Außerdem sorgen sich die europäischen Kunden um ihre Energiesicherheit und versuchen, ihre Abhängigkeit von russischem Gas zu reduzieren. Sie erinnern sich noch gut an den Konflikt zwischen der Ukraine und Russland 2009, der zu Liefereinstellungen in mehrere osteuropäische Länder geführt hat, die größtenteils oder komplett von den russischen Erdgaslieferungen abhängig waren. Russland baut derzeit Pipelines um die Ukraine herum und behauptet, dadurch die Probleme, die zu dem Pipelinekonflikt geführt haben, zu lösen. Einige europäische Beobachter fürchten die durch die höheren russischen Exportkapazitäten möglicherweise steigende europäische Abhängigkeit von Russland aber dennoch. Angesichts des gesunkenen europäischen Verbrauchs von russischem Gas ist für die absehbare Zukunft allerdings gar nicht klar, ob größere Pipelinekapazitäten von Russland nach Europa überhaupt Sinn machen.
Zur Aufrechterhaltung seiner konventionellen Erdgasproduktion wird Russland früher oder später enorme Investitionen tätigen müssen, um das Stokman-Gasfeld in der Barentssee weit im Norden sowie Lagerstätten auf der abgelegenen Jamal-Halbinsel nördlich des Urals zu erschließen. Wegen des Überangebots von Erdgas auf dem Weltmarkt sind Entscheidungen über eine Fortführung dieser Projekte derzeit ausgesetzt und es ist unklar, wann die russischen Entscheidungsträger und ihre potentiellen westlichen Partner bereit sein werden, sich festzulegen. Alternativ könnte Russland sich dafür entscheiden, dem amerikanischen Beispiel zu folgen und seine mutmaßlich umfangreichen Vorkommen an Schiefergas zu entwickeln. Diese könnten über wesentlich kleinere Investitionen erschlossen werden, als für die Entwicklung der konventionellen Offshore-Vorkommen nötig sind.
Zukünftige Entwicklungen
Das Schicksal der russischen Erdgaswirtschaft ist in hohem Maße von den Entwicklungen auf den internationalen Märkten abhängig. Zentrale Faktoren in diesem Zusammenhang sind die Rolle des Erdgases im Energiemix der Zukunft, die Entwicklung der europäischen Gasnachfrage und die des Schiefergassektors. Der Weltenergieausblick der IEA von 2010 geht davon aus, dass Erdgas in der Weltenergieversorgung der nächsten 25 Jahre eine entscheidende Rolle spielen wird. Erdgas ist der einzige fossile Energieträger, dessen weltweite Nachfrage für das Jahr 2035 höher veranschlagt wird als sie 2008 war. Dabei wird eine Nachfragesteigerung von 1,4 Billionen Kubikmetern oder 44 % gegenüber 2008 prognostiziert. Den größten Anstieg der Erdgasnachfrage soll es in diesem Zeitraum in China geben, wo ein Fünftel der Steigerung bis 2035 verortet wird. Der Mittlere Osten, der über relativ günstig zu förderndes Gas verfügt, wird seine Produktion bis 2035 voraussichtlich auf 800 Mrd. Kubikmeter pro Jahr verdoppeln. Etwa 35 % der neuen Gasproduktion werden nach der Prognose der IEA aus Schiefergasquellen in den USA und in der Asien-Pazifik-Region stammen.
Die europäische Gasnachfrage wird steigen, sobald sich die europäische Wirtschaft von der weltweiten Krise erholt hat. Diese Steigerung wird jedoch nicht mehr für so bald erwartet, und ein Wandel des Energiemixes hin zu erneuerbaren Energien könnte den Nachfrageanstieg dämpfen. Anouk Honore vom Oxford Institute for Energy Studies schätzt, dass die europäische Nachfrage bis 2020 um 0,6 % jährlich steigen wird. Bei diesem Tempo wird die EU bereits 2015 neue Gasquellen für ihre Versorgung auftun müssen.
Die Entwicklung des Schiefergases bleibt eine unbekannte Größe. Es ist unklar, ob die USA in der Lage sein werden, mit der Produktion unkonventionellen Erdgases im bisherigen Umfang fortzufahren. Die USA verfügen über schätzungsweise 12 Billionen Kubikmeter Schiefergas. Die Energy Information Administration erwartet so u. a. aufgrund eines Anstiegs der Schiefergasproduktion bis 2035 eine weitere Reduzierung der momentan sowieso schon geringen Erdgasimporte der USA. Erhebliche Bedenken in Bezug auf die Bohrvorgänge, die bereits Trinkwasserreserven belastet haben, könnten das Wachstum der Schiefergasproduktion letztlich aber auch stoppen. Ebenfalls zentral für die weitere Entwicklung der Erdgasmärkte ist die Frage, ob auch in Europa die Schiefergasproduktion aufgenommen wird. EIA-Schätzungen zufolge verfügt Europa über 3 Billionen Kubikmeter Schiefergas (das sind 11 Prozent der weltweiten Reserven). Europa ist jedoch wesentlich dichter besiedelt als die USA und zunehmend um die ökologischen Folgen der Energieproduktion besorgt.
Die Manager von Gazprom würden den Status Quo gerne möglichst lange aufrechterhalten, denn sie haben enorm von ihm profitiert. Sie leben jedoch in einer unsicherer werdenden Welt mit zahlreichen Herausforderungen und Möglichkeiten und die Beschlüsse, die sie in den nächsten Jahren fassen, werden über das wirtschaftliche Wohlergehen des Unternehmens in den kommenden Jahrzehnten entscheiden.
Übersetzung: Sophie Hellgardt