Der Vorwurf
Die Aktion der Punkgruppe »Pussy Riot« und der nachfolgende Prozess erregte international erhebliches Aufsehen und löste weltweit Protestaktionen aus. Vorgeworfen wurden Menschenrechtsverletzungen und politische Einflussnahme im gerichtlichen Verfahren. Tatsächlich wurde hier gegen völkerrechtliche Menschenrechtsstandards verstoßen. Dies ist jedoch kein Einzelfall. Die Verstöße beruhen vielmehr auf systemischen Mängeln, die mehrfach vom EGMR gerügt wurden, die aber seit Jahren nicht behoben werden.
Die tatsächlichen Vorkommnisse sind im Wesentlichen unstreitig. Am 21. Februar 2012 begaben sich fünf Frauen in der Moskauer Christus-Erlöser-Kathedrale vor die Ikonostase im Altarbereich, der dem Klerus vorbehalten ist. Sie beginnen in bunter Kleidung und Sturmhauben über dem Gesicht zu tanzen und imitieren Bekreuzigungen. Nach wenigen Sekunden wird Jekaterina Samuzewitsch von herbei eilendem Aufsichtspersonal aus dem Altarraum weggezerrt, die anderen Mitglieder lassen sich zunächst nicht überwältigen. Erst nach knapp einer Minute ist die Aktion beendet. Die Aktion wird gefilmt und später mit anderen Szenen zusammengeschnitten, mit einem Liedtext unterlegt und im Internet veröffentlicht. Kritisiert werden im Text die Nähe der russisch-orthodoxen Kirche zum Staat und insbesondere zum KGB, sowie die Homophobie der Kirche. Über die Gläubigen heißt es im Text »Alle Bittsteller kriechen zur Verbeugung«, der mehrfach wiederholte Ausspruch »göttlicher Dreck« kann sich auf die Kirche oder die Gläubigen beziehen sowie allgemein verstanden werden.
Tatbestandlich kennt das russische Gesetz für ein derartiges Verhalten zunächst Art. 5.26 Abs. 2 des Ordnungswidrigkeitengesetzbuches (OWiGB; russ.: »KoAP«). Dort ist für die »Verletzung der religiösen Gefühle von Bürgern oder die Entweihung von Gegenständen, Zeichen oder Emblemen mit weltanschaulicher Symbolik« eine Geldbuße von 500 bis 1000 Rubel vorgesehen.
Allerdings mussten die Bandmitglieder davon ausgehen, dass ebenfalls eine Strafbarkeit nach Art. 282 des russischen Strafgesetzbuches (StGB) in Betracht kommen konnte. Danach werden öffentliche Handlungen, die auf die Erregung von Hass und Feindschaft sowie auf die Herabsetzung der Würde des Menschen und einer Gruppe von Menschen auf Grundlage des Geschlechts, der Rasse, der Nationalität, der Sprache, der Abstammung oder der Beziehung zur Religion gerichtet sind, mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren verurteilt. Auf dieser Grundlage wurden 2005 Beteiligte an der Kunstausstellung »Achtung, Religion!« für die öffentliche Präsentation von religionskritischen Darstellungen verurteilt, ohne dass es hier auf die tatsächliche Intention der Beteiligten ankam.
Im Verfahren gegen »Pussy Riot« geht das Gericht noch weiter, indem es das aus sowjetischer Zeit berühmt-berüchtigte Rowdytum heranzieht. In der Sowjetunion wurde der Artikel als Auffangtatbestand für jede Form von Gegnerschaft gegenüber dem Regime eingesetzt. Das Strafgesetzbuch der Russischen SFSR aus dem Jahr 1960 kannte drei Stufen von Rowdytum: Art. 206 bestrafte Rowdytum als »grobe Verletzung der öffentliche Ordnung, die den fehlenden Respekt gegenüber der Gesellschaft zum Ausdruck bringt«, mit bis zu einem Jahr, grobes Rowdytum in Form von »außergewöhnlichem Zynismus, besonderer Impertinenz oder Widerstand gegen die Staatsgewalt« mit bis zu zwei Jahren, sowie »Rowdytum unter Gebrauch von Waffen« mit bis zu sieben Jahren Haft.
Im postsowjetischen russischen Strafgesetzbuch wurden die Hürden für die Verurteilung wegen Rowdytums aufgrund der problematischen Vergangenheit des Artikels bewusst hoch gehängt. Strafbar blieb lediglich das Rowdytum mit Waffen. Nach der Neufassung in Art. 213 russisches StGB wird die Handlung beschrieben als »grobe Verletzung der öffentlichen Ordnung, die eine offene Missachtung der Gesellschaft zum Ausdruck bringt und mit Anwendung von Waffen oder in der Eigenschaft von Waffen benutzten Gegenständen begangen wird«. Es kann eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren verhängt werden. Abs. 2 bestraft die bandenmäßige Begehung mit bis zu sieben Jahren Haft. Die hohe Strafe schien gerechtfertigt, als nur noch das Rowdytum unter Anwendung von Waffen als besonders schwerer Fall übrig geblieben war.
Doch an dieser Restriktion wurde nicht festgehalten. Im Rahmen der Extremismusbekämpfungsgesetzgebung wurde der Tatbestand 2007 wieder erweitert: Rowdytum kann seither nicht mehr allein unter Anwendung von Waffen, sondern auch aus politischem, ideologischem, rassistischem, nationalem oder religiösem Hass begangen werden. Die Höhe der Strafe blieb gleich.
Nach dieser Änderung blieb unklar, wie sich der Tatvorwurf konkret vom sogenannten Extremismus nach Art. 282 russisches StGB unterscheidet. Tatsächlich ist das StGB heute nach zahlreichen, aus politischem Aktionismus eingeführten Änderungen ohne innere Stimmigkeit und von Widersprüchen gezeichnet. Eine systematische Auslegung muss aber ergeben, dass der Tatvorwurf in Art. 213 StGB angesichts der Höhe des Strafmaßes deutlich schwerwiegender ist als die Verletzung der religiösen Gefühle Einzelner und die Entweihung von Symbolen nach dem russischen OWiGB sowie die Herabsetzung einer Gruppe von Menschen auf Grundlage der Religion nach Art. 282.
Weder die Rechtsprechung noch die rechtswissenschaftliche Literatur setzen sich aber mit diesem Problem ausreichend auseinander. Für die zwei Bestandteile des strafrechtlichen Vorwurfs, das Rowdytum und den religiösen Hass, gibt es insgesamt keine aussagekräftigen Definitionen. Anklage und Gericht können insofern nicht auf Definitionen oder eine klare Rechtsprechung zurückgreifen, die den Vorwurf näher bestimmen und es dem Bürger erkennbar machten, welche Strafe auf ein bestimmtes Verhalten steht. Gerade bei derart unbestimmten Begriffen erfordert der rechtsstaatliche Anspruch an die Bestimmtheit der Normen allerdings in besonderem Maße die Auslegung der Normen durch die Gerichte. Zwar hat das Plenum des Obersten Gerichts 2007 eine Erläuterung veröffentlicht, die das Rowdytum als »offene Verachtung der Gesellschaft« definiert, die sich »in der Verletzung von etablierten Normen und Verhaltensregeln zeigt und von dem Wunsch getragen ist, sich Anderen zu widersetzen«. Auch dies erscheint aber angesichts des hohen Strafmaßes sehr unbestimmt. In den Kommentaren wird außerdem neben der bloßen Wiedergabe des Textes eine »spöttische, zynische Haltung« des Täters zugrunde gelegt, die aus dem sowjetischen Gesetzestext stammt. Immerhin gibt das Oberste Gericht den Gerichten vor, Art und Weise, Zeit und Ort der Begehung, sowie Intensität, Dauer und andere Umstände zu berücksichtigen.
Die Anklage
Nach der Anklage im Fall »Pussy Riot« ergeben sich Rowdytum und religiöser Hass dagegen unproblematisch aus dem Verstoß gegen die »allgemeinen Verhaltensregeln in der Kathedrale«. Die Ermittlungsbehörden nehmen Rowdytum insofern an, als »Regeln der Kirche nicht eingehalten wurden«. Dies sei Ausdruck der Respektlosigkeit gegenüber der Gesellschaft und verletze die religiösen Gefühle der Anwesenden in der Kathedrale sowie aller gläubigen Bürger, motiviert aus religiösem Hass und Feindschaft.
Der Vorsatz wird auch bezüglich des religiösen Hasses unterstellt und nicht gesondert nachgewiesen. Mehrfach vorgeworfen wird ein »blasphemisches Verhalten« und eine »Entweihung religiöser Symbole«. Außerdem stehe die Tat für »eine Herabwürdigung der geistigen Grundlagen des Staates«. Angesichts der verfassungsrechtlichen Neutralität des Staates gegenüber den Religionen bleibt die juristische Bedeutung dieser Aussagen unklar. An anderer Stelle wird ausdrücklich jenseits eines rechtlichen Diskurses sehr pauschal mit moralischen Aspekten argumentiert: Das Verhalten entbehre »jeglicher Grundlagen der Sittlichkeit und Moral«. Die Angeklagte Tolokonnikowa habe »vulgär, trotzig und zynisch« gehandelt.
Insgesamt wird nicht klar, ob alle Vorwürfe und Ausführungen als für den Tatvorwurf konstitutiv gelten sollen.
Untersuchungshaft
Die Zustände in den russischen Untersuchungsgefängnissen hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (EGMR) mehrfach auf Grundlage von Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), dem Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung kritisiert. Erst im Januar 2012 wurden Beschwerden über Untersuchungsgefängnisse in Russland aus dem Verfahren »Ananjew und andere« sogar Gegenstand eines sogenannten Pilotverfahrens. Ein solches wird vom EGMR äußerst selten im Fall eines strukturellen Defizits im Rechtssystem eines Mitgliedstaats angeordnet. In diesem Fall werden dem Mitgliedstaat besondere Auflagen gemacht. Der EGMR begründet das Pilotverfahren damit, dass Russland in diesem Bereich bereits 80 Mal verurteilt wurde und 250 weitere, prima facie erfolgreiche Beschwerden im Januar 2012 anhängig waren. Inhalt des Vorwurfs sind nicht allein die Zustände in den Gefängnissen, sondern die hohe Zahl der Beschuldigten, die teilweise über mehrere Monate ohne Urteil in der Sache festgesetzt werden. Russland wurde insofern bereits aufgefordert sicherzustellen, dass die Untersuchungshaft aufgrund der Unschuldsvermutung und dem Schutz der Freiheit nur in besonderen Ausnahmefällen angewandt wird. Davon geht grundsätzlich auch das russische Strafprozessrecht aus: Danach kann Untersuchungshaft nur verhängt werden, wenn die Annahme begründet ist, dass sich der Angeklagte dem Verfahren entzieht, weitere Straftaten begeht, Zeugen bedroht oder Beweise vernichtet. Allerdings ist hier eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen, bei der die russische Verfassung, die EMRK, aber auch die Schwere der Verbrechen, die Person des Angeklagten, Alter, Gesundheit, Familie, Status, Beruf und sonstige Umstände, z. B. Vorstrafen, berücksichtigt werden müssen. Zahlreiche Verstöße zeigen indes, dass die Untersuchungshaft bei zu erwartenden Freiheitsstrafen nahezu standardmäßig verhängt wird. Im Fall »Pussy Riot« müssten die Vertreter Russlands vor dem EGMR nachweisen, dass es Gründe gab, eine entsprechende Gefährdung anzunehmen und diese mit den persönlichen Umständen abgewogen wurden.
Verhandlung
Der Eindruck von einem zurückhaltenden Umgang mit dem Prinzip der Unschuldsvermutung verstärkt sich bei der Analyse der Hauptverhandlung. Der EGMR hat mehrfach die Tradition gerügt, Angeklagte im Verfahren hinter Gitterstäbe zu setzen, ohne dass von ihnen eine Gefahr der Gewalttätigkeit ausgeht. Im Verfahren Chodorkowskijs gegen Russland führt der EGMR aus, der Käfig diene allein dazu, den Angeklagten in den Augen der Öffentlichkeit als besonders gefährlich erscheinen zu lassen und ihm selbst das Gefühl der Minderwertigkeit zu geben. Im zweiten Chodorkowskij-Prozess vor russischen Gerichten wie auch im Verfahren gegen »Pussy Riot« wurden die Gitterstäbe jedenfalls im Saal der Hauptverhandlung entfernt und durch Glasscheiben mit kleinen Öffnungen zum Sprechen ersetzt. Doch auch dies scheint angesichts des massiven Aufgebots an Sicherheitskräften nicht erforderlich und behindert die wirksame Verteidigung durch die fehlende Schreibablage. Hätte die russische Seite die Kritik des EGMR wie aber auch das Prinzip der Gleichberechtigung der Parteien nach dem russischen Strafprozessgesetzbuch ernst genommen, müssten der »Käfig« in allen russischen Gerichtssälen entfernt und die Angeklagten außer in Fällen besonderer Gewaltbereitschaft an Tische gesetzt werden. Die faktische Schlechterstellung des Angeklagten gegenüber der Staatsanwaltschaft zeigt sich auch darin, dass der Richter bei Beweisanträgen des Angeklagten ein weites Ermessen hat, ohne dass es klare Kriterien gibt.
Das Urteil
Auch das Gericht beim Fall »Pussy Riot« unterlässt es, den Tatbestand sorgsam auszulegen und die Handlungen darunter zu subsumieren. Das Gericht überlässt die Rechtsfindung dagegen den Zeugen der Anklage und den Gutachtern. Insofern ist es bemerkenswert, dass das Urteil zu Beginn das Argument der Verteidigung aufgreift, die Aktivistinnen hätten allein aus politischer Kritik und nicht aus religiösem Hass gehandelt. Die Ausführungen der Angeklagten werden umfangreich wiedergegeben. Anschließend setzt sich das Gericht damit jedoch nicht auseinander. Stattdessen wird auch hier der religiöse Hass aus den Geschehnissen abgeleitet: Nach seitenlang abgedruckten Aussagen für die Anklage formuliert das Gericht lapidar »Alle Handlungen der Angeklagten sowie ihrer nicht bekannten Mittäter zeugen klar und eindeutig von Hass auf die Religion und Feindschaft, was sich in einem Benehmen äußerte, das den allgemeinen Verhaltensregeln in einer orthodoxen Kirche widersprach. Das Tun der Angeklagten verletzte und beleidigte die Gefühle und religiösen Werte der Geschädigten zutiefst.« Im Ergebnis sind damit die Anforderungen an die Strafbarkeit trotz der hohen Strafe erstaunlich niedrig: Wenn es das Gericht auch nicht ausdrücklich so formuliert, ist nach seinen Schlussfolgerung jede Handlung, die von Gläubigen als Verstoß gegen die allgemeinen Regeln der Kirche betrachtet wird, Rowdytum aus religiösem Hass.
Während das Urteil die Handlungen in der Kirche zum Hauptvorwurf macht, wird nicht geklärt, welche Teile des Liedes in der Kirche vorgetragen wurden und wieweit sie Teil des strafrechtlichen Vorwurfs sind. Anklage und Urteil sprechen allgemein von »Schimpfworten«, diese Einordnung nehmen jedoch ebenfalls Zeugen und Gutachter vor, nicht das Gericht.
Ob das Verhalten unter den Schutz der Meinungsfreiheit fällt, wird vom Gericht ebenfalls nicht geklärt. Dies ist umso erstaunlicher als das Urteil ja ausdrücklich das Argument der Verteidigung aufnimmt, die Angeklagten hätten allein aus politischer Überzeugung gehandelt. Die Meinungsfreiheit wird von Art. 29 der Russischen Verfassung geschützt, nimmt in Abs. 2 aber u. a. die Agitation, die zu religiösem Hass aufstachelt und das Propagieren sozialer, rassenbedingter, nationaler, religiöser und sprachlicher Überlegenheit aus. Nach Art. 55 Abs. 3 der Verfassung können die Grundrechte außerdem zum Schutz der Grundlagen der Verfassungsordnung, der Moral, der Gesundheit, der Rechte und gesetzlichen Interessen anderer sowie zur Gewährleistung der Landesverteidigung und Staatssicherheit eingeschränkt werden. Es liegt auf der Hand, dass diese Abgrenzung von Gerichten zu treffen ist. Sollte es lediglich auf die subjektive Sicht der Gläubigen oder die Ansicht ausgewählter Gutachter ankommen, bliebe der Schutz ohne Gewährleistung. Während es in Russland keine klare Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit nach der russischen Verfassung gibt, erscheint bemerkenswert, dass die Verteidigung sich nicht auf die einschlägigen Urteile des EGMR zur Meinungsfreiheit beruft. So kann nach der EMRK die Meinungsfreiheit nur dann eingeschränkt werden, wenn dies in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral, zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung notwendig ist. Dabei ist jedoch anerkannt, dass die Mitgliedstaaten bei der Abwägung einen großen Beurteilungsspielraum haben. Allerdings muss die gesetzliche Grundlage hinreichend bestimmt sein, um die Gefahr willkürlicher oder übermäßiger Eingriffe zu verringern. Dies scheint hier problematisch.
Fazit
So sind letztlich der pauschale Umgang mit den einschlägigen Rechtsfragen sowie die Vermischung mit moralisch-religiösen Argumenten auffällig. Dabei stellt die eher kursorische rechtliche Prüfung durch das Gericht in der russischen Strafjustiz keine Ausnahme dar. Die mächtige rechtspositivistische Tradition scheint dem durchgängigen Bemühen um eine kohärente und stringente Auslegung und juristische Systematisierung des Normen- und Entscheidungsapparats weiter im Wege zu stehen. Auch die Rechtswissenschaft setzt sich nur punktuell mit der rechtsstaatlichen Auslegung der Normen auseinander. Dies begünstigt eine uneinheitliche, selektive Anwendung des Gesetzes.
Damit geht einher, dass die Richter in ihren Entscheidungen durch das Gesetz nicht ausreichend gegen Einfluss von außen geschützt sind. Während unbefristete Verträge für Richter seit kurzer Zeit die Regel geworden sind, bleiben die Regelungen über die Ernennung zum Richter sowie über Disziplinarmaßnahmen weiter intransparent und kaum vorhersehbar. Unzweifelhaft führt dies zu einem hohen Maß an Loyalität innerhalb der Richterschaft und verhindert eine eigenständige und kritische Auseinandersetzung der Richter mit den Normen und Vorjudikaten. Die Rahmenbedingungen für die Justiz werden seit Jahren auch in Russland stark kritisiert.
Das Besondere am »Pussy Riot«-Prozess aus juristischer Perspektive ist insofern allein die massive Beteiligung der Öffentlichkeit, die nicht nur durch eine umfangreiche Berichterstattung, sondern sogar durch die Live-Übertragung der Verhandlung im Internet gewährleistet wurde. Dies passiert äußerst selten. Zuletzt traten sogar die Richter der zweiten Instanz in einer einmaligen Aktion im Anschluss an die Urteilsverkündung vor die Presse und beantworteten Fragen. Dem Anspruch auf Offenheit und Unvoreingenommenheit stand jedoch die massive Diskreditierung der Angeklagten durch führende russische Politiker entgegen. So wurden die Frauen durch Präsident Putin unter Bezugnahme auf den Namen der Band und frühere Aktionen als kulturlos und untalentiert verspottet. Außenminister Lawrow sah in der Debatte um das Verfahren einen Propagandafeldzug des Westens. Hätte die russische politische Elite den Vorwurf der politischen Einflussnahme wirksamer entkräften wollen, hätte sie den Prozess nicht kommentieren dürfen. Vor allem aber hätten längst umfassende Maßnahmen ergriffen werden müssen, um die entsprechenden völkerrechtlichen Vorgaben durchgängig umzusetzen, die rechtsstaatliche Anwendung der Normen durch die Justiz zu verbessern und die Unabhängigkeit der Justiz strukturell besser abzusichern. So bleibt der Punkgruppe die Beschwerde vor dem EGMR in Straßburg, Anzeichen auf eine grundlegende Verbesserung der strukturellen Probleme des russischen Rechtsstaats fehlen dagegen.