Interview mit Arsenij Roginskij, Vorstandsvorsitzender von Memorial, zu den massenhaften Überprüfungen russischer NGOs durch Staatsanwaltschaft, Justizministerium und Steuerbehörde

Das Interview wurde am Freitag, 22.3.2013 von Swetlana Rejter geführt.

Frage: Ist das die erste Prüfung durch die Staatsanwaltschaft bei Ihnen?

AR: Vor einigen Jahren sind sie schon einmal gekommen. Aber damals war das etwas Kleines, nichts Ernstes.

Frage: Und diesmal?

AR: Lassen Sie mich zunächst erzählen, welche Gedanken mich beschäftigten; ich hoffe, ich kann es kurz machen. Ich fühle schon den zweiten Tag hintereinander ein ungutes Gefühl. Ich hatte dieses Gefühl gestern und heute hat es sich verstärkt. Ich habe eine Liste aller Publikationen über die gegenwärtig laufenden Prüfungen erhalten. Das sind sehr viele. Briefe und Anrufe gibt es noch mehr. Wissen Sie, es ist immer ein bisschen unangenehm, wenn es nicht darum geht, was man selbst gemacht hat, sondern darum, was mit einem gemacht wird. Es ist eine feste Logik. Ich verstehe das natürlich, so etwas sind »Medienanlässe«, oder sonst etwas, aber für mich ist das schmerzlich: In den vergangenen drei Wochen sind zwei Bücher erschienen, an denen Memorial mitgewirkt hat. Sie liegen hier auf meinem Schreibtisch: »Stalins Erschießungslisten«, das ist die riesige Geschichte der Erschießungslisten, die Stalin persönlich unterschrieben hat. Und dann ist da noch das in Paris heraus gegebene Album »Der Große Terror« [Le grande terreur en URSS 1937–1938; Anm. d. Red.]. Das sind Ereignisse, die ein Lebenswerk markieren, und ich weiß, was darüber zu sagen wäre. Aber ins Zentrum der Aufmerksamkeit sind wir nicht wegen des Guten gerückt, das wir getan haben, sondern weil die da oben mit ihren Drohungen zu uns gekommen sind.

Frage: Wann sind sie gekommen?

AR: Die Obrigkeit ist gestern Morgen gekommen, wird heute bleiben und sie wird noch sehr lange bei uns sein. Die Frage ist also: Womit hängt das zusammen? Mir scheint, diese Frage zerfällt in zwei Teile. Der erste betrifft den Sinn der Überprüfungen, der zweite die praktischen Folgen, die sie für uns haben können. Wenn man nach dem Sinn fragt, dann geht es natürlich um das, was es immer gab; es hatte seinen Höhepunkt in den Stalin-Jahren, und es hat sich in den 2000er Jahren erneut verstärkt, das Stereotyp im Massenbewusstsein, das von oben eingepflanzt wurde: dass Russland eine Großmacht ist, von Feinden umgeben, die uns immer irgendetwas Schlechtes wollen. Und im Inneren des Landes arbeitet eine fünfte Kolonne, die für diese Feinde arbeitet.

Das ist ein Grundstereotyp des Stalinismus, das sich auch nach dem Tod Stalins gehalten hat, in den 1990er Jahren ein wenig schwächer wurde und in den 2000er Jahren eine Renaissance erlebt. Was macht die Staatsmacht mit diesem Stereotyp? Sie kann dagegen kämpfen, wenn sie ein demokratisches Land aufbauen will, oder sie kann es unterstützen. Unsere Staatsmacht hat den Kurs gewählt, dieses Stereotyp zu unterstützen: Der Westen ist unser Feind. Die USA sind unser Hauptfeind, Für die Rolle der fünften Kolonne werden unterschiedliche Kräfte bestimmt. In letzter Zeit sind das NGOs, die Geld aus dem Ausland erhalten. Das ist die Grundidee. Aus ihr ergeben sich die gegenwärtigen hysterischen Gesetze: die Änderungen des Gesetzes über Landesverrat, das Gesetz, das als Antwort auf die Magnitskij-Liste verabschiedet wurde, oder die Änderungen zum NGO-Gesetz.

Frage: Was halten sie vom Magnitskij-Gesetz der USA?

AR: Ich fände sie gut, wenn sie sich nicht nur auf Russland beziehen würde. Wenn sich ein solches Gesetz auf eine große Gruppe von Ländern bezöge, dann wäre das ein echter Sieg der Idee der Menschenrechte auch in staatlichem Handeln. Wenn dann auch noch andere Länder solche Gesetze beschlössen, wäre das überhaupt wunderbar. Aber kommen wir auf unsere Gesetze zurück. Niemand weiß, wie das Gesetz über »ausländische Agenten« umzusetzen ist.

Frage: Soweit ich das verstehe, ist das juristisch unmöglich.

Aber nein, alles ist möglich! Wenn man auf das Recht pfeift, es mit den Füßen tritt, die Logik Logik sein lässt und schwarz weiß nennt, dann geht natürlich alles. Aber trotzdem ist das alles nicht so einfach zu machen. In der allgemeinen Hysterie der vergangenen Monate hören wir andauernd: Wie geht denn das an. Ein Gesetz ist in Kraft getreten und wird nicht beachtet! Allein die Annahme des Gesetzes hat in der Gesellschaft eine bestimmte Atmosphäre geschaffen, hat die Gesellschaft zerstückelt und geteilt, und erzieht die Bevölkerung dazu, die verschiedenen NGOs als Feinde aufzufassen. Es gibt jetzt den Schimpfnamen »ausländischer Agent«. Irgendwelche Abgeordnete springen auf und schreien: »Schaut, die da sind Agenten. Und die da, und die da auch!« Das NGO-Agentengesetz soll Angst machen, es ist ein Schreckgespenst, das die einen von den anderen trennt. Und Mitte Februar hat Putin bei einer internen Sitzung des FSB etwas in der Art gesagt, dass Gesetze nicht angewandt werden. Da war allen klar, welches Gesetz er meinte und seither geschieht das, was gerade passiert: Die Staatsanwaltschaft [in Moskau] weist alle regionalen Staatsanwaltschaften an und es beginnen massenhaft Prüfungen. Verstehen Sie doch: Wir sind nicht allein. Wir sind viele! Eine Vielzahl von NGOs wird in ganz unterschiedlicher Form überprüft. In einigen Regionen lesen sie die Publikationen, die hinter den Direktoren im Regal stehen. Sie suchen »Extremismus«. In anderen Fällen verlangen sie den Nachweis, dass die Mitarbeiter nicht an Tuberkulose erkrankt sind, und sagen: »Sie kommunizieren doch mit der Bevölkerung?!« Wieder anderen sagen sie: »Lassen sie uns mal Ihre Räume inspizieren«. Es gab bisher allerdings nirgendwo Durchsuchungen, solche Prozeduren gibt es ja erst nach Eröffnung eines Strafverfahrens. […]

Frage: Worin bestehen die Überprüfungen?

AR: Gestern kamen Vertreter von drei Behörden zu uns: der Staatsanwaltschaft, dem Justizministerium und der Steuerbehörde. Sie erklärten, dass sie eine Organisation mit der Bezeichnung »Internationales Memorial« prüfen. Sie forderten sehr viele unterschiedliche Dokumente, angefangen von Satzungen, über Protokolle von Vorstandssitzungen bis zu Beschlüssen über Stellenbesetzungen, Mitarbeiterlisten und Belegen für Gehaltszahlungen. Darüber hinaus die Abrechnungen über Vorschusszahlungen, die Budgets der vergangenen Jahre, Stellungnahmen der Kassen- und der Wirtschaftsprüfer und irgendwelche weiteren Unterlagen, von deren Existenz ich bisher nicht einmal geträumt habe, wie z. B. ein »Journal der Bewegung der Arbeitsbücher«.

Frage: Hätten Sie die Herausgabe dieser Dokumente verweigern können?

AR: Ich habe unseren Besuchern die Frage gestellt: »Warum sind sie gekommen?«. Als Antwort hörte ich: »Die Generalstaatsanwaltschaft hat die regionalen Staatsanwaltschaften angewiesen, die Prüfungen durchzuführen.« Die Beispiellosigkeit dieser Geschichte liegt darin, dass drei solide Behörden gleichzeitig gekommen sind, zusammen. Wir werden ja ohnehin ständig geprüft, aber diese Prüfung ist eine umfassende, unerwartete. Niemand hat sie uns angekündigt. So etwas passiert in den fast 25 Jahren unserer Tätigkeit erstmalig. Warum? Es ist bekannt, dass die Staatsanwaltschaft auf Anzeigen hin tätig wird. Wenn ich mich über sie beschwere, dass sie Drogen verstecken, dann muss die Staatsanwaltschaft reagieren. Bei uns wurden Papiere zur Überprüfung angefordert, mehr nicht. Aber das bedeutet ganz schön Kopfschmerzen.

Seit Beginn der 2000er Jahre hat der Staat den NGOs eine riesige Menge unterschiedlicher Dokumentationspflichten auferlegt. Soweit ich weiß, kennen kommerzielle Organisationen diese unerhörte Papierproduktion nicht. Nun gut, wir haben jedes Dokument in dreifacher Ausfertigung kopiert, es sind ja drei Behörden. Dabei muss jedes Papier zuerst gefunden werden, dann geprüft, beglaubigt und zum Schluss gebunden, unterschrieben und gestempelt. Eine schreckliche Sache! Acht Stunden habe ich mit den Prüfern gesprochen. Auf jede Frage antworteten sie: »Das wissen wir nicht und wollen es noch nicht einmal wissen.« Trotzdem entsteht der Eindruck, dass sie die Finanzierung aus dem Ausland am meisten interessiert.

Frage: Gibt es Fristen für die Prüfungen?

AR: Wenn es sich um planmäßige Prüfungen handelt, dann wird in dem Prüfbeschluss genau festgehalten, wie lange geprüft werden darf. Aber unangekündigte, razzienartige staatsanwaltschaftliche Überprüfungen können unendlich lange dauern. Das Absurde ist, dass wir jedes Jahr unsere inhaltlichen Berichte an das Justizministerium schicken und auf unserer Website veröffentlichen. Die Finanzberichte gehen an die Steuerinspektion. Dort sind alle unsere Finanzierungsquellen, alle Zahlen genannt. Seit wir unseren letzten Bericht abgegeben haben, hat sich nichts geändert.

Stellen wir uns mal vor, dass sie, sobald sie unsere Dokumente durchgeschaut haben, zum Schluss kommen, wir würden uns »politisch betätigen«. Und weil wir ausländische Zuwendungen bekommen – wir bekommen welche und haben nicht vor, auf sie zu verzichten; zudem habe ich den Prüfern gesagt, bei welchen Stiftungen wir Anträge gestellt haben –, werden sie zu dem Schluss kommen, dass wir uns als »ausländische Agenten« registrieren lassen müssen. Das könnte ein Ergebnis der Überprüfungen sein. Ein anderes wäre ebenso ziemlich widerwärtig. In der enormen Menge von Dokumenten wird es unweigerlich Fehler geben und auch verschiedene Nachlässigkeiten. Die werden gefunden und damit kann was alles Mögliche machen: Von der Anweisung, die Fehler zu verbessern, bis zu einem Gerichtsbeschluss, die Organisation zu schließen. Möglich ist auch Kompromittierung aller Art.

Frage: Gestern ist ja auch ein Kamerateam von NTW bei ihnen aufgetaucht.

AR: Ja, gleichzeitig mit den Prüfern. Oder gröber gesagt: auf ihren Schultern. Wir waren baff über diese Unverschämtheit, die ich bisher nur in der »Anatomie des Protestes« gesehen habe: Sie sind einfach bei uns mit laufender Kamera eingedrungen und haben Fragen gestellt. Wir dachten erst, dass sie zu den Staatsanwälten gehören und keine Journalisten sind. Die Staatsanwälte sagten: »Nein die haben mit uns nicht das geringste zu tun.« Wir haben dem Kameramann gesagt: »Leute, gehen Sie!«. Sie liefen aber weiter herum, drangen ins Zimmer ein, bis einer der Staatsanwälte sagte: »Die Staatsanwaltschaft Moskau hat keine Aufnahmegenehmigung erteilt«. Dann sind sie immerhin aus dem Büroraum, in dem wir saßen. Später mussten wir sie lange – mit der Polizei – aus unserem Gebäude bringen.

[…]

Frage: Wenn sie sich als »ausländische Agenten« registrieren sollen, werden sie das machen?

AR: Nein, das ist für uns unmöglich. Es geht dabei nicht nur darum, dass das eine Lüge wäre. Und dass das mit Recht nichts zu tun hat. Wir sind doch Memorial. Wir wissen, wie viele Menschen in welchem Jahr unter Folter gestanden haben, dass sie Spione und ausländische Agenten sind. Wir wissen, wie diese Geständnisse aus ihnen heraus geprügelt wurden. In unserem historischen Gedächtnis hat die Wortverbindung »ausländischer Agent« nur diese eine Bedeutung. […]

Übersetzung aus dem Russischen: Jens Siegert

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Vorerst gescheitert: »Pussy Riot« und der Rechtsstaat in Russland

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Die Bilder der »Pussy Riot«-Musikerinnen Nadeschda Tolokonnikowa, Jekaterina Samuzewitsch und Maria Alechina auf der Anklagebank im Moskauer Chamowniki-Gericht gingen um die Welt. Wie kein anderes Verfahren bestimmte der Prozess die politische Debatte in diesem Sommer und rief auch in Deutschland starken öffentlichen Protest hervor. Aus juristischer Perspektive zeigt das Verfahren dagegen nur exemplarisch die bekannten Mängel der russischen Strafjustiz: Die russische Verfassung und die Europäische Konvention für Menschenrechte (EMRK) sowie die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) werden bei der Auslegung der relevanten Normen nicht beachtet. Die Auseinandersetzung mit den Tatbestandsvoraussetzungen bleibt in Anklage und Urteil an der Oberfläche. Wenn auch in diesem Fall eine politische Einflussnahme nicht nachgewiesen werden kann, fehlt es den politischen Eliten seit langem am erkennbaren Willen, die Strafjustiz zu professionalisieren, die Urteile des EGMR systematisch umzusetzen und die Unabhängigkeit der Justiz deutlich zu verbessern. (…)
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Analyse

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