Ost oder West? Mehr oder weniger?
Gegenwärtig steht die Ukraine hinsichtlich ihrer regionalen wirtschaftlichen Integration vor einer wichtigen Wahl. Diese Wahl wird am häufigsten als eine geografische dargestellt, also zwischen einer engeren Integration mit der EU oder aber mit Russland, Belarus und Kasachstan (RBK) in Form einer Zollunion. Es wäre allerdings richtiger, diese Wahl in Abhängigkeit von der Integrationstiefe darzustellen, wobei ein Freihandelsabkommen eine weniger intensive Form der Integration darstellt als eine Zoll- oder Wirtschaftsunion. Eine einfache Analyse der Handelsströme zu den unterschiedlichen Wirtschaftsräumen ist somit als Entscheidungsbasis unzureichend, da die politischen Implikationen der Integrationsstrategie nicht berücksichtigt werden (s. Grafik 2).
Im Fall der EU liegt der erwartete Integrationsgrad über dem Niveau von üblichen Freihandelsabkommen, die die EU mit ihren Wirtschaftspartnern abschließt. Mit der Ukraine ist die Unterzeichnung eines tiefergehenden und umfassenden Freihandelsabkommen (Deep and Comprehensive Free Trade Agreement – DCFTA) vorgesehen. Momentan basieren die Beziehungen zwischen der EU und Ukraine auf dem 1994 unterzeichneten Partnerschafts- und Kooperationsabkommen. Das DCFTA, ein Teil des 2012 paraphrierten Assoziierungsabkommens, würde beträchtliche Auswirkungen auf die inneren wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Ukraine, insbesondere auf der Gesetzes- und Verwaltungsebene haben. Die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens, ebenso wie die Ratifizierung des Abkommens durch das ukrainische Parlament und die Parlamente der europäischen Mitgliedsstaaten stehen jedoch noch aus.
Russland, Belarus und Kasachstan bieten die Mitgliedschaft in ihrer Zollunion an und stellen tiefergehende Formen regionaler Integration in die Eurasische Wirtschaftsunion in Aussicht. Das würde über die derzeit bestehenden Freihandelsabkommen mit diesen Ländern hinausgehen.
Der entscheidende Unterschied zwischen den bestehenden Integrationsoptionen ist der, dass die Ukraine zwar mehrere Freihandelsabkommen mit Partnerländern abschließen, aber nicht Mitglied verschiedener Zollunionen sein kann. Die Unterschrift unter das Assoziierungsabkommen (einschließlich DCFTA) mit der EU würde das Bestehen oder den zukünftigen Abschluss anderer Freihandelsabkommen durch die Ukraine mit Ländern außerhalb der EU nicht ausschließen. Eine Mitgliedschaft in der Zollunion hingegen bedeutet, dass sämtliche bestehenden Freihandelsabkommen mit den Vorgaben der Zollunion in Einklang gebracht werden müssten. Das wäre das Ende einer unabhängigen Handelspolitik der Ukraine.
Bislang hat die Ukraine vierzehn Freihandelsabkommen unterzeichnet – bilaterale Abkommen mit jedem der GUS-Staaten, Georgien und der Ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien sowie multilaterale Abkommen mit der EFTA und der GUS. Außerdem laufen Verhandlungen über Freihandelsabkommen z. B. mit der Türkei, Singapur, und Kanada.
Im Folgenden werden die Vor- und Nachteile einer Mitgliedschaft der Ukraine in der Eurasischen Zollunion im Vergleich zum Status Quo, nämlich der Beibehaltung oder Ausweitung der Freihandelsabkommen zwischen der Ukraine und Russland, Belarus und Kasachstan erläutert
Status quo: Freihandelsabkommen zwischen der Ukraine und Russland, Belarus und Kasachstan
Der gegenwärtige Rahmen für den Handel zwischen der Ukraine und Russland, Belarus und Kasachstan wird durch eine Reihe von Freihandelsabkommen sowie durch Regeln und Handelspraktiken der WTO definiert.
Die Ukraine hat 1992 mit Belarus, 1993 mit Russland und 1994 mit Kasachstan bilaterale Freihandelsabkommen unterzeichnet. Diese sahen grundsätzlich – mit einigen Ausnahmen – einen zollfreien Handel mit Gütern vor. In der Praxis galt jedoch das System der Reziprozität: als Antwort auf Exportzölle oder -quoten, die von einem der Handelspartner eingeführt wurden, konnten diese Güter vom zollfreien Handel ebenfalls ausgenommen werden. Keines dieser Abkommen deckte den Dienstleistungssektor oder andere handelsrelevante Bereiche wie z. B. den Schutz von Rechten an geistigem Eigentum oder ausländische Direktinvestitionen ab.
Im Oktober wurde ein neues Freihandelsabkommen der GUS durch acht der elf Mitgliedsstaaten unterzeichnet, unter anderem durch die Ukraine, Russland, Belarus und Kasachstan. Die Bestimmungen des GUS-Freihandelsabkommens von 2011 sind im Vergleich zu bilateralen Abkommen besser ausgearbeitet, doch sind einige bedeutsame Punkte beibehalten worden. Wie auch zuvor die bilateralen Abkommen, konzentriert sich das GUS-Abkommen auf den Handel mit Gütern. Zudem hat das GUS-Abkommen die meisten – wenn auch nicht alle – der bestehenden Ausnahmen in Bezug auf Export- und Importzölle beibehalten. Die Unterzeichnerstaaten sind jedoch übereingekommen, einen regelmäßigen Dialog zur Reduzierung und Abschaffung von Exportzöllen einzurichten.
Ein wichtiger und positiver Unterschied des GUS-Abkommens zu den bilateralen Freihandelsabkommen besteht jedoch darin, dass es explizit einen Verweis auf die WTO enthält und somit die Einrichtung eines Schlichtungsmechanismus bei Handelsstreitigkeiten vorsieht. Das GUS-Freihandelsabkommen legt fest, dass der Handel mit Gütern innerhalb der GUS auf der Grundlage der WTO Regeln und –Praktiken erfolgt, etwa in den Bereichen technische Handelshemmnisse (TBT), Sanitäre und Phytosanitäre Maßnahmen (SPS), handelspolitische Schutzmaßnahmen und Transitfreiheit, und somit das Abkommen im globalen Handelssystem verankert.
Gleichzeitig sind die Interessen der verschiedenen Unterzeichnerstaaten des GUS-Abkommens nicht voll ausbalanciert und die Mitgliedsstaaten der Zollunion mit einem zusätzlichen Schutzinstrument ausgestattet. So können Mitglieder der Zollunion im Prinzip das zollfreie Regime widerrufen und nach dem Meistbegünstigungsprinzip (MFN) Importzölle auf Güter erheben, die nicht aus Mitgliedsstaaten der Zollunion stammen und die einen Anstieg der Importe in die Zollunion nach sich ziehen und der Industrie der Zollunion Schaden zufügen oder zufügen könnten. Diese Regel kann angewendet werden, wenn die Nichtmitglieder der Zollunion andere Freihandelsabkommen außerhalb des Wirkungsbereiches des GUS-Abkommens unterzeichnet haben. Dieses Instrument ist bislang jedoch noch nicht zur Anwendung gekommen.
Seit 2012 wird der Handel zwischen der Ukraine und der Eurasischen Zollunion auch durch WTO-Bestimmungen reguliert. Russland ist im August 2012 WTO-Mitglied geworden. Um potentielle Konflikte zwischen den Verträgen der Zollunion und den WTO-Abkommen aufzulösen, haben die Mitglieder der Zollunion einen Vertrag über das Funktionieren der Zollunion im Rahmen des multilateralen Handelssystems geschlossen, der im November 2011 ratifiziert wurde. Gemäß diesem Vertrag haben sich die Mitglieder der Zollunion verpflichtet, bei der Unterzeichnung eines internationalen Vertrags im Rahmen der Zollunion sicherzustellen, dass dieser mit den WTO-Verpflichtungen eines jeden Unterzeichners der Zollunion vereinbar sind. Somit sind nicht nur Russland, sondern auch Belarus und Kasachstan verpflichtet, die WTO-Abkommen und Russlands WTO-Konzessionen einzuhalten, da mit Russlands WTO-Beitrag die entsprechenden Abkommen und Konzessionen Teil des Gesetzeswerks der Zollunion geworden sind.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Ukraine bei den meisten Gütern einen zollfreien Zugang zum Markt von Russland, Belarus und Kasachstan hat und den meisten russischen, belorussischen und kasachischen Gütern einen zollfreien Zugang zu seinem Markt gewährt. Es gibt allerdings Ausnahmen, meist in Bezug auf Produkte, auf die in den Partnerländern Exportzölle erhoben werden (Russland erhebt beispielsweise Exportzölle auf Holz, Felle, Öl und andere meist unverarbeitete Produkte). Die Länder setzen intensiv Handelsschutzmaßnahmen ein, um bestimmte Sektoren gegen unfairen Wettbewerb (Maßnahmen gegen Preisdumping) und gegen übermäßig wachsende Importe (Sicherungsmaßnahmen) zu verteidigen. Auch sind mittlerweile Handelsstreitigkeiten über sanitäre und phytosanitäre Maßnahmen zunehmend zu verzeichnen.
Darüber hinaus könnte der Zugang der Ukraine zum Markt von Russland, Belarus und Kasachstan über Freihandels-Instrumente durch Beseitigung der bestehenden Ausnahmen verbessert werden. Auch eine bessere Ausbalancierung der Interessen der Mitglieder und Nicht-Mitglieder der Zollunion würde sich positiv auswirken, ebenso wie eine Ausweitung der Freihandelsabkommen, beispielsweise durch die Einbeziehung von Dienstleistungen (etwa das Bank- und Versicherungswesen), der Rechte auf geistiges Eigentum, sowie durch Regelungen für ausländische Direktinvestitionen. Ein Abschluss der WTO-Verhandlungen durch Belarus und Kasachstan würde der Ukraine ebenfalls nützen, da es die gesamte Eurasische Zollunion de jure den WTO-Regeln unterwirft, wodurch die Ukraine nicht nur bei einem Streit mit Russland, sondern auch bei einem mit der gesamten Zollunion den Schlichtungsmechanismus der WTO nutzen könnte.
Der ukrainische Ministerpräsident hat kürzlich erklärt, dass die Ukraine den Vorschlag eines Beobachterstatus bei der Eurasischen Zollunion verhandelt. In diesem Falle würde das Land nicht die Verpflichtungen eines Vollmitglieds eingehen; ein Beobachterstatus würde anderen regionalen Integrationsinitiativen der Ukraine nicht im Wege stehen.
Intensivere Integration: Die Ukraine in der Eurasischen Zollunion
Eine Mitgliedschaft der Eurasischen Zollunion würde durch den Zugang zu diesem Markt einige Vorteile bringen, da bestimmte Ausnahmen vom gegenwärtigen zollfreien Regime (z. B. der im GUS-Freihandelsabkommen festgelegte Importzoll auf Zucker) ausgesetzt würden. Diese Vorteile könnten allerdings auch durch eine Ausweitung der bestehenden Freihandelsabkommen erreicht werden. Eine Mitgliedschaft in der Zollunion ist hierfür nicht zwingend notwendig.
Ein weiterer Vorteil könnte sich durch eine Aufhebung der Zollkontrollen an den Binnengrenzen der Zollunion ergeben. Dieser Vorteil ist allerdings von zweifelhafter Natur, da die Mitgliedsstaaten der Zollunion seit der Aufhebung der Zollkontrollen über zunehmenden Schmuggel und fehlerhafte Berichterstattung zu den Handelsströmen klagen. Der Wegfall der Zollkontrollen an der Grenze bedeutet darüber hinaus keine Aufhebung der Kontrollen an sich, sondern lediglich eine Änderung und Vereinfachung der Zollprozeduren. Importeure müssen auf jeden Fall indirekte Steuern (Mehrwertsteuer, Akzisen) zahlen und u. a. die TBT- und SPS-Vorschriften beachten.
Billigere Energieimporte werden ebenfalls als wichtiger potentieller Nutzen eines Beitritts der Ukraine zur Zollunion genannt. Dies könnte einmal durch eine Reduzierung der Gaspreise erreicht werden. Diese werden jedoch nicht direkt durch Abkommen der Zollunion reguliert. Sie werden in bilateralen Übereinkommen festgelegt; im Falle der Ukraine wird der Preis des importierten Gases per Übereinkunft durch zwei Unternehmen definiert, Gazprom und Naftagas. Eine Mitgliedschaft in der Zollunion könnte diese Übereinkunft nicht ändern. So könnte die Ukraine einen niedrigeren Gaspreis nur über Subventionen erreichen, und solche Subventionen könnten in einem gesonderten Abkommen vorgesehen werden. Die Glaubwürdigkeit einer Zusage der Zollunion über eine langfristige und erhebliche Subvention der ukrainischen Wirtschaft ist sehr in Frage zu stellen.
Eine Reduktion der Gaspreise kann zum anderen durch die Aufhebung der russischen Exportzölle für Produkte, die in der Ukraine verbraucht werden, also auch Gas, erreicht werden. Gemäß dem Abkommen über die Zollunion werden Exportzölle durch die nationalen Behörden festgelegt und sind somit nicht Teil eines standardisierten Rechtsrahmens zum Beitritt zur Zollunion. Die Aufhebung von Exportzöllen muss ausgehandelt werden, und es ist unklar, welche Zugeständnisse im Gegenzug von der Ukraine verlangt würden. Zudem könnte die Aufhebung von Exportzöllen Teil eines Freihandelsabkommen sein und benötigte keine tiefergehende Integration.
Darüber hinaus ist der Nutzen subventionierter Energieimporte fragwürdig. Die Ukraine lebt energieintensiv und -ineffizient. Das Land verfügt über ein erhebliches Potential für Energiespar- und Effizienzsteigerungsmaßnahmen. Energiesubventionen im Rahmen der Eurasischen Zollunion würden die Anreize für Veränderungen verringern, die langfristige Wettbewerbsfähigkeit der ukrainischen Wirtschaft untergraben und das Land noch abhängiger von Energieimporten aus Russland machen. Eine nicht diversifizierte Energieversorgung macht das Land verwundbar und abhängig, bedeutet also eine Gefahr für die nationale Sicherheit.
Eine Mitgliedschaft in der Eurasischen Zollunion birgt für die Ukraine eine Reihe signifikanter Kosten. Zum einen wäre da eine Revision der WTO-Konzessionen. Die Ukraine ist WTO-Mitglied und ihre internationalen Handelsverpflichtungen sind liberaler als die der Russischen Föderation. Der durchschnittliche Zolltarif für importierte Güter beträgt für die Ukraine 5,8 % und für Russland 7,8 %, wobei rund die Hälfte der Zölle der Ukraine niedriger als die russischen sind. Es ist anzunehmen, dass Russland in eine Absenkung seiner langwierig ausgehandelten Handelszölle zur Anpassung an die ukrainischen Verpflichtungen nicht einwilligen wird. Die Last der Nachverhandlungen müsste also die Ukraine auf sich nehmen. Ein Nachverhandeln der WTO-Konzessionen könnte sich technisch kompliziert und sehr kostspielig gestalten. Die potentiellen Schwierigkeiten können erfasst werden, wenn man den Prozess der ukrainischen Konsultationen mit den einzelnen WTO-Mitgliedern analysiert, der mit der Absicht, die gebundenen Importzölle für 371 Tariflinien zu ändern, verbunden ist. Angesichts der wirtschaftlichen Situation und der Struktur ihres Außenhandels ist es unwahrscheinlich, dass die Ukraine im Falle eines Beitritts zur Zollunion angemessene Kompensation für die zu ändernden Konzessionen vorschlagen kann.
Darüber hinaus würde die Ukraine durch einen Beitritt die Kontrolle über ihre Außenhandelspolitik verlieren, insbesondere bei Verhandlungen über regionale Handelsabkommen. Gemäß den Abkommen zur Zollunion ist die Kommission der Zollunion (seit 2012 die Eurasische Wirtschaftskommission) berechtigt, handelspolitisch tätig zu werden, unter anderem im Namen von Mitgliedsstaaten bei Verhandlungen zu Außenhandelsfragen.
Die Ukraine könnte zudem gezwungen sein, bestehende Freihandelsabkommen mit jenen Ländern aufzukündigen, die nicht gleichgelagerte Abkommen mit den Mitgliedsstaaten der Zollunion abgeschlossen haben. Das würde eventuell eine Auflösung der Freihandelsabkommen mit der EFTA und mit Mazedonien bedeuten. Eine Unterzeichnung und Ratifizierung des 2012 paraphrierten Assoziierungsabkommens mit der EU würde ebenfalls unmöglich gemacht. Das bedeutete den Verlust eines bevorzugten Zugangs zum größten Markt der Welt (siehe Grafik 3 auf S. 15).
Ein Anstieg der Importzölle auf Güter, die aus Nichtmitgliedsstaaten der Zollunion importiert werden, würde zu Handelsverlagerungen führen und in der Folge die Modernisierung und die Erneuerung des Anlagekapitalstocks der ukrainischen Wirtschaft unterminieren, die sehr von einem Import von Kapitalgütern (vor allem Maschinen und Anlagen) aus der EU, den USA und anderen Staaten außerhalb der Zollunion abhängig ist. Grafik 4 auf S. 15 zeigt, dass Industriegüter überwiegend aus der EU importiert werden und weniger aus den Ländern der Eurasischen Zollunion.
Insgesamt ist der Nutzen einer Vollmitgliedschaft der Ukraine in der Eurasischen Zollunion sehr ungewiss, während die Kosten beträchtlich sind, nämlich eine Verlagerung der Handelsströme, verlangsamte Modernisierung, erhöhte Energieabhängigkeit, Verlust handelspolitischer Unabhängigkeit, die Unmöglichkeit eines DCFTA mit der EU, wie auch die Last von WTO-Nachverhandlungen und Kompensationen. Im Ergebnis besteht für die Ukraine die beste Wahl darin, ihre Beziehungen zur Zollunion von Russland, Belarus und Kasachstan auf bereits bestehende und auf zukünftige Freihandelsabkommen zu gründen.
Übersetzung: Hartmut Schröder