Der Getreidemarkt in Russland

Von Vera Belaya (Pfalzgrafenweiler), Maryna Mykhaylenko (Münster)

Zusammenfassung
Die Getreideproduktion hat für Russland strategische Bedeutung. Das Land verfügt insgesamt über gute natürlich klimatische Bedingungen, welche sich hervorragend für die Produktion von Getreidekulturen hoher Qualität eignen. Zu den Hauptbesonderheiten des Getreidemarktes in Russland zählen vor allem die niedrige Nachfrage sowie die hohe Deckungsrate der Binnennachfrage durch einheimische Produzenten. Die potentiellen Möglichkeiten für eine Erhöhung der Getreideproduktion in Russland werden bislang nicht vollständig verwirklicht. Nach Einschätzungen von Experten wären etwa 23 Mio. Hektar ungenutzter Ackerflächen in Regionen mit genügender Niederschlagsmenge für die Getreideproduktion verfügbar. Kein anderes Land der Welt verfügt über vergleichbare Ressourcen. Der Getreideexport bietet eine reale Chance, diese ungenutzten Böden zu einzusetzen.

Einführung – die volkswirtschaftliche Bedeutung der Getreidewirtschaft für Russland

Die Getreideproduktion gehört in Russland zu den traditionellen Landwirtschaftszweigen und ihre Entwicklung bestimmt nicht nur die Versorgung der Bevölkerung mit Teig- und Backwaren, sondern auch die Effektivität der Viehzucht. Der Anteil Russlands an der globalen Getreideproduktion beträgt derzeit rund 5  %, während die Saatflächen einen Anteil von ca. 10 % der weltweit verfügbaren ausmachen. Im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt Russland als größte Kornkammer der Welt und verfügt heute immer noch über ein riesiges Potential bei der Entwicklung seiner Getreideproduktion. Die Getreideproduktion hat für Russland strategische Bedeutung. Von der Entwicklung dieser Branche hängen die Lebensmittelsicherheit, der Lebensstandard und die Lebensqualität der Bevölkerung ab. Russland verfügt insgesamt über gute natürliche und klimatische Bedingungen, die sich hervorragend für die Produktion von Getreidekulturen hoher Qualität eignen. Zu den wichtigsten Besonderheiten des Getreidemarktes in Russland zählen vor allem die geringe Nachfrage und die hohe Deckungsrate der Binnennachfrage durch die einheimischen Produzenten.

Die Bedeutung des russischen Getreideexportes für die Stabilisierung des Binnenmarktes in Russland ist kaum zu überschätzen. Es ist der günstigste Weg, mit den notwendigen Produktionsüberschüssen umzugehen. Die Produktion auf das Niveau des Eigenverbrauchs in Russland zu drosseln, wäre ein zu großes Risiko. Eine Missernte würde nicht nur die ökonomische, sondern auch die soziale und politische Stabilität des Landes gefährden. Die überschüssige Produktion ist also eine Bedingung für Stabilität auf dem Binnenmarkt und dient der Absicherung bei Missernten. Das Risiko von Missernten ist allerdings nicht der einzige Grund, der für eine Überschussproduktion spricht. Wenn die Getreideproduktion verringert würde, so wäre die ohnehin schon schwere Lage der russischen Landwirtschaft fast aussichtslos. Schließlich machen Gewinne aus dem Verkauf von Getreide einen Großteil der Einnahmen der Agrarproduzenten aus.

Es ist es die Hauptaufgabe des Staates, günstige Bedingungen für die Akteure auf dem Getreidemarkt zu schaffen, damit die Umwandlung des Landes in einen der weltweit führenden Getreideproduzenten möglich wird. Russland hat die Chance, seinen Anteil am globalen Getreidemarkt zu erhöhen und die so verdienten Gelder in die Modernisierung der Landwirtschaft zu investieren. Das Land ist mit stabilen Exportmärkten und geographischer Nähe zu Abnehmern in Europa, Nord Afrika, Nahen Osten und Asien ein wichtiger Spieler auf dem globalen Getreidemarkt und gut in die Weltmärkte integriert. Die Binnenpreise zeigen eine hohe Korrelation mit den Weltmarktpreisen. Infolge der Bevölkerungszunahme und des Einkommenswachstums in den Entwicklungsländern wird ein Anstieg von Weizen-Importen dorthin, vor allem nach Nord Afrika und in den Nahen Osten erwartet. Russland ist in der Lage, seine Getreideexporte in diese Länder auszubauen.

Produktionsstrukturen

Nach aktuellen Angaben sind in der Getreideproduktion in Russland rund 70.000 Unternehmen tätig, darunter 25.000 große Kooperativwirtschaften und Aktiengesellschaften sowie über 20.000 private Landwirtschaftsbetriebe. Eine wichtige Rolle bei der Getreideproduktion in Russland spielen die großen Landwirtschaftsunternehmen, die aus ehemaligen Genossenschaften und staatlichen Farmen hervorgegangen sind. Sie dominieren die Produktion im Bereich der meisten landwirtschaftlich produzierten Roherzeugnisse, darunter der Getreideproduktion. Nach Angaben des Instituts für die Konjunktur der Agrarmärkte (IKAR) bewirtschaften allein in Russland 350 Agroholdings landwirtschaftliche Flächen von rund 8 Millionen Hektar. Mindestens 12 Agroholdings verfügen über eine Größe von 150.000 ha (u. a. Cherkizovo, Nastyusha, Prodimex, Razgulay, Rusagro, SAHO, YugRusi). Es wird geschätzt, dass bis 2016 auf Agroholdings 40–50 % der Getreideproduktion in Russland entfallen werden. Die Unternehmen in den Regionen, in denen Sommerweizen angebaut wird (hauptsächlich Sibirien) sind im Allgemeinen größer als die Unternehmen im europäischen Teil Russlands. 24.000 dieser Betriebe verfügen durchschnittlich über etwa 6.000 ha Land und beschäftigen jeweils 150 Leute. Aktuell nutzen diese Großfarmen etwas mehr als zwei Drittel der in Russland vorhandenen landwirtschaftlichen Flächen. Hauptsächlich sind diese Betriebe im Bereich der Getreide- und Ölsamenproduktion aktiv. Ein Teil der Großfarmen wird generell unter dem Begriff Agroholding gruppiert. Nach der Finanzkrise von 1998 war zu beobachten, dass russische Agrarunternehmen sich immer häufiger zu großen Einheiten zusammenschlossen, die zwischen 10.000 und 250.000 ha kultivierten. Diese neue Organisationsform wird in der Literatur unter vielen verschiedenen Bezeichnungen erwähnt: neue Agraroperatoren, Unternehmensriesen, integrierte agrarindustrielle Formationen, vertikal integrierte Holdings oder Agroholdings. Die großen Hersteller sind oft mit verarbeitenden Unternehmen vertikal integriert und bilden finanz- und agrarindustrielle Einheiten mit holdingartigen Strukturen. Steuervorteile waren ein starkes Argument, insbesondere für Banken und andere Finanzgesellschaften, um in den Agrar- und Lebensmittelsektor auf diese Weise zu investieren.

Wenn eine Bank Teil einer Agroholding ist, wird die resultierende Struktur häufig als »Agro-Finanz-Industrieller Komplex« bezeichnet. Der grundlegende Unterschied zwischen einem Agroholding und einem Agro-Finanz-Industriellem Komplex ist, dass letzterer in ein Handelsregister eingetragen wird, was manchmal den Zugang zu Steuerermäßigungen und Subventionen erleichtern kann. Auch verfügen diese Großproduzenten meist über eigene Einzelhandelsniederlassungen oder haben Langzeitzulieferverträge mit Einzelhandelsunternehmen. Die Entstehung von Agroholdings erfolgte in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre, vor allem nach der Finanzkrise von 1998. In dieser Phase intensivierten sich die Integrationsprozesse im Agrarsektor in Russland. Als Auslöser für die vertikale Integration der Agrarunternehmen werden hauptsächlich die hohen Transaktionskosten als Folge der Risiken und Unsicherheiten in diesen Ländern gesehen. Darüber hinaus ist die Integration und Kombination mehrerer Aktivitäten innerhalb einer Einheit aus technologischer Sicht vorteilhaft, weil auf diese Weise Größen- und Verbundvorteile erzielt werden können. Produktion und Absatz von verschiedenen Gütern kann in einer Organisationseinheit kostengünstiger geschehen, was zu einer unmittelbaren Einsparung von Transaktionskosten führt.

Wichtigste Kennzahlen des Getreidemarktes

Russland verfügt einschließlich teilweise brachliegender Flächen über rund 200 Millionen ha landwirtschaftlich nutzbares Land. Davon werden rund 120 Millionen ha bewirtschaftet (hauptsächlich zum Anbau von Getreide, einjährigen oder mehrjährigen Futterpflanzen, Sonnenblumen, Kartoffeln und Gemüse). Die Feldfrüchte, die in Russland vorwiegend angebaut werden, sind Weizen, Gerste, Sonnenblumen, Hafer, Roggen und Mais. Getreidekulturen beanspruchen rund 60 % der Gesamtsaatflächen. Der Großteil der Flächen wird zum Weizenanbau verwendet: 7,4–10,6 Mio. ha für Winterweizen und 13,8–15,5 Mio. ha für Sommerweizen. Der Gesamtertrag des Weizens liegt zwischen 34,1 und 50,6 Mio. Tonnen bei einem durchschnittlichen Ernteertrag von 2,1–3,0 Tonnen pro ha (Winterweizen) bzw. 1,3–1,6 Tonnen pro ha (Sommerweizen). Der Inlandskonsum beträgt 36,4–44,2 Mio. Tonnen. Jährlich werden 8,0–15,0 Mio. Tonnen exportiert. Der Import wird auf 0,3–1,3 Mio. Tonnen geschätzt.

Noch in den 1990er Jahren musste Russland Weizen aus den USA importieren, um seine Bevölkerung ernähren zu können, da die Landwirtschaft in den Jahrzehnten der zerstörerischen Wirtschaftsführung der sowjetischen Regierung ineffizient war. Dann haben russische Investoren langsam begonnen, Erde in der fruchtbaren Region des Landes, dem so genannten »Schwarzerdegebiet« (zwischen Ukraine und Schwarzmeerküste) aufzukaufen und dort modernere Methoden der Landwirtschaft einzuführen. 2002 wurde das Land zum ersten Mal seit Jahrzehnten zu einem großen Exporteur und verkaufte 15,6 Mio. Tonnen Getreide ins Ausland. 2008 wurden in Russland rund 108 Mio. Tonnen Getreide geerntet (ungefähr ein Achtel der Gesamternte weltweit). Das war der zweithöchste Ertrag in der Geschichte Russlands. Die Rekordernte 1990 hatte 116 Mio. Tonnen betragen.

Während 2000 der Anteil Russlands am Weltgetreidehandel 1 % betrug, erreichte dieser Wert 2008 etwa 14 %. Im Zeitraum 2008–2009 hatte Russland eine Rekordernte und konnte den Export steigern – auf mehr als 20 Mio. Tonnen im Wert von 4 Mrd. Dollar – und wurde so zum drittgrößten Getreideexporteur der Welt nach den USA und der EU. Vor allem ist klar geworden, dass Russland viel produzieren und exportieren kann. Im Wirtschaftsjahr 2011/2012 hat Russland 27,2 Mio. t Getreide ausgeführt. Der Eigenbedarf des Landes war dabei in vollem Umfang gedeckt.

Die Tatsache, dass der russische Weizen einer der billigsten weltweit ist, kann durch verschiedene Faktoren erklärt werden. Erstens wird in Russland hochwertiger Weizen tatsächlich nur in geringem Umfang produziert. Zum Zweiten können russische Lieferanten die Erfüllung abgeschlossener Verträge zu den vereinbarten Preisen und Mengen nicht zu 100 % garantieren. Außerdem ist die Infrastruktur in Russland ungenügend entwickelt, was die Erfüllung der Exportverträge beeinträchtigen kann. Trotz aller Mängel hat Russland bemerkenswerte Erfolge in der Entwicklung der Getreidebranche erreicht. Russland führt unabhängig von seiner Ernte jährlich ca. 1 Mio. Tonnen Getreide ein, was in großem Maße auf die qualitativen Besonderheiten des russischen Getreides zurückzuführen ist.

Probleme der Agrarbranche

Der Ausbau der Getreideproduktion wird jedoch durch einige Faktoren behindert. Dazu gehören u. a. die schleppende Entwicklung von Innovationen, einschließlich der Einführung biotechnologischer Verfahren und neuer Technologien, die an die Bedingungen der globalen Klimaveränderung angepasst sind. Außerdem ist das Fehlen langfristiger Programme zur Stimulierung des Vertriebes und des Konsums zu nennen. Zu den weiteren Problemen zählen die Beschränkungen durch die Infrastruktur, unter anderem die Defizite und die territoriale Struktur der Erntelagerung sowie die Produktion des Mischfutters, und darüber hinaus die unangemessen hohen Infrastrukturkosten, die transporttechnisch zu erhöhter Isolierung der regionalen Märkte führen.

Die Infrastrukturkosten beinhalten u. a. Transportkosten, die Bezahlung von Spediteursdienstleistungen, Kosten für die Verladung des Getreides in den Häfen, die Ausstellung der Dokumente, Lagerkosten. Der Anteil der Infrastrukturkosten am Exportpreis beträgt je nach Region etwa 40 %.

Die ungenügende staatliche Regulierung ist einer der Faktoren, die die Entwicklung der Getreideproduktion erheblich bremsen. Der Staat nutzt bereits eine der möglichen Methoden zur Regulierung des Getreidemarktes: Ankaufsinterventionen. Mittlerweile wird der Übergang zu einem komplexen System der Binnenmarktregulierung gefordert, das die Nutzung flexiblerer und operativer Mechanismen zur Einwirkung auf den Markt vorsieht.

Die geografische Lage der Getreideproduktionsbetriebe erschwert die Situation zusätzlich. Das meiste Exportgetreide stammt aus dem Zentralen, dem Südlichen und dem Wolga-Föderalbezirk, doch ein nicht unbedeutender Teil des Getreides kommt aus Sibirien und dem südlichem Ural. Da fast 80 % der Exportverschiffungen von Getreide in Noworossijsk erfolgen, hat sibirisches Getreide mit Blick auf die Transportkosten keine Chance auf gewinnbringenden Export. Wenn es im Fernen Osten Russlands ein Exportterminal gäbe, ließen sich für das sibirische Getreide Exportmöglichkeiten aufbauen, etwa in die asiatische Pazifikregion. Doch existiert ein solches Terminal noch nicht.

Einschätzung des Produktionspotentials

Das Potential der russischen Getreidewirtschaft wird bei weitem nicht vollständig ausgeschöpft. Die Aussichten für die Nutzung dieses Potentials hängen von der Wettbewerbsfähigkeit der Getreideproduktion und der Produkte seiner Weiterverarbeitung zusammen. Die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit verlangt eine Senkung der Kosten (der gesamten Wertschöpfungskette vom Produzenten zum Verbraucher) und eine Qualitätssteigerung der Produktion bei gleichzeitiger Erhaltung der Rentabilität, so dass Investitionen in einen Ausbau der Produktion gewährleistet wären.

Ohne Perspektiven im Getreideexport wird das riesige Potential der Ackerböden in Russland nicht verwirklicht werden können. Russland verfügt über 55 % der Schwarzerdeflächen der Welt. Dieser Schatz wird zur Zeit nur teilweise genutzt. Obwohl Russland nach Ackerfläche pro Einwohner (0,85 ha) unter den ersten fünf Ländern der Welt ist, verfügt es über riesige Flächen, die ungenutzt bleiben. Die Ackerflächen wurden in den Jahren 1991–2007 um 10,7 Mio. ha (von 132,3 auf 121,6 Mio. ha) reduziert. Im gleichen Zeitraum ist die Größe der ungenutzten Flächen von 0,3 auf 13,9 Mio. ha angewachsen. Der Getreideexport bietet die reale Chance, diese ungenutzten Böden zu nutzten. Es gibt einfach keine andere Verwendungsmöglichkeit für diese Flächen. Nach Einschätzung von Experten stehen etwa 23 Mio. ha ungenutzter Ackerflächen zur Verfügung, die in genügend niederschlagsreichen Regionen liegen. Kein anderes Land der Welt verfügt über vergleichbare Ressourcen.

Der strategischen Konzeption des Getreideverbandes von 2010 zufolge sieht die Entwicklung des Getreidemarktes in Russland eine maximale Nutzung des natürlichen Potentials des Landes, die Deckung des Inlandskonsums mit Waren- und Futtergetreide und eine Festigung der Positionen Russlands auf dem Weltmarkt vor. Experten sind der Ansicht, dass Russland über ein ausreichendes Potential an Saatflächen und Wasserressourcen verfügt, um innerhalb kürzester Zeit seine Produktion auf 120–125 und seinen Export auf 30–40 Mio. Tonnen jährlich zu steigern. Mittelfristig sollen die Ernten auf jährlich bis zu 145–155 Mio. Tonnen zunehmen. Laut Russischem Getreideverband soll das Land auf mittlere Sicht die Getreideernte um 40–50 % (auf 145–155 Mio. Tonnen) jährlich erhöhen. Dabei schätzen die Experten des Russischen Getreideverbandes den Getreideexport zukünftig auf 40–60 Mio. Tonnen (2010: 23 Mio. Tonnen) und den Export von Mehl und anderen Getreideerzeugnissen auf 4 Mio. Tonnen pro Jahr. Die Saatflächen für Getreidekulturen sollen zukünftig nicht weniger als 50 Mio. ha betragen (2010 waren es 48 Mio. ha). Der Ernteertrag der Getreidekulturen (ohne Mais) soll 30 Dezitonnen pro Hektar (dt/ha) nicht unterschreiten.

Unterschiedlichen Schätzungen zufolge betrug 2013 die Getreideernte in Russland 84–98 Mio. Tonnen und der Export 22–23 Mio. Tonnen. In den nächsten Jahren wird die Getreideproduktion in Russland zunehmen, aber für die weitere Entwicklung der russischen Getreidewirtschaft wird eine bessere Infrastruktur vonnöten sein, um der wachsenden Konkurrenz standhalten zu können. Das Landwirtschaftsministerium Russlands rechnet im Jahr 2018 mit Getreideexporten in Höhe von 40 Mio. Tonnen, was sich durch eine erhöhte Produktion und eine Ausweitung des weltweiten Getreidemarktvolumens ergeben könnte. Nach Prognosen des Landwirtschaftsministeriums der USA wird Russland bis zum Jahr 2019 zum weltweit größten Weizenexporteur.

Als die Landwirtschaft der GUS-Länder nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine Übergangsperiode erlebte, schlossen Russland, Kasachstan und die Ukraine in Regionen mit ausreichender Niederschlagsmenge etwa 23 Millionen Hektar Ackerfläche von der Produktion aus. Das war die größte Ackerfläche, die jemals in der Weltgeschichte aus der Produktion genommen wurde. Von diesen 23 Millionen Hektar waren fast 90 % für die Getreideproduktion verwendet worden. Laut Expertenschätzungen können diese Flächen wieder in die Getreideproduktion zurückgebracht werden, wenn die Getreidepreise und Gewinnspannen in der Getreidewirtschaft hoch bleiben und die notwendigen Investitionen getätigt werden. Der Getreideexport bietet eine reale Chance, diese ungenutzten Böden zu nutzten. Es gibt einfach keine andere Verwendungsmöglichkeit für diese Flächen. In keinem anderen Teil der Welt sind vergleichbare Ressourcen vorhanden. Kurzfristig bis mittelfristig wird ein Anstieg sowohl der Getreide- als auch der Ölsaatproduktion in Kasachstan, Russland und der Ukraine erwartet.

Dem OECD-FAO Agricultural Outlook zufolge werden die Produktion von Weizen und groben Getreidearten in Russland, der Ukraine und Kasachstan im Jahr 2016 auf 159 Mio. Tonnen ansteigen und die Getreideexporte auf 35 Mio. Tonnen zunehmen. Laut einer Prognose des Instituts für die Konjunktur der Agrarmärkte (IKAR) hingegen wird die Getreideproduktion bis zum Jahr 2016 auf 164 Mio. Tonnen ansteigen. Diese beiden Prognosen berücksichtigen allerdings nicht die vorhandenen Einschränkungen bezüglich der Ackerfläche und der Erträge. Falls diese beseitigt werden, könnte die Getreideproduktion bis zu 230 Mio. Tonnen erreichen.

Das Exportpotential des russischen Getreides steigt. Der Binnenverbrauch ist verhältnismäßig stabil, wobei eine Tendenz zum Rückgang des Konsums zu beobachten ist. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen: Zum einen ist da der Bevölkerungsrückgang und die Veränderung der Ernährungsstruktur hin zu einem verminderten Konsum von Teig- und Backwaren. Das lässt sich u. a. durch den Anstieg der Preise für Backwaren erklären. Andere Gründe sind moderne Verfahren in der Viehzucht, die eine Restrukturierung der Futterbasis bedingen. Bei einer relativen Rückständigkeit der Futterverwertung dürfte eine Zunahme der Milch- und Fleischproduktion erfolgen. Russlands stärkste Konkurrenten sind die Ukraine, die EU, die USA und Australien. In diesem Zusammenhang zählen die Erhaltung der Konkurrenzfähigkeit und die Entwicklung der Branche bei voller Nutzung des Agrarpotentials des Landes zu den Hauptzielen der Getreidewirtschaft in Russland.

Fazit

Das Exportpotential des Getreidemarktes in Russland wird von der Fähigkeit des Agrarsektors abhängen, unter Berücksichtigung der klimatischen, natürlichen und anderen objektiven Faktoren auf dem Markt jährliche Lieferungen entsprechender Qualität zu gewährleisten. Zwei Hauptfaktoren spielen dabei eine große Rolle: Land und Erträge. Die potentiellen Möglichkeiten eines Ausbaus der Getreideproduktion in Russland werden bislang nicht vollständig verwirklicht. Die erfolgreiche Realisierung dieser Aufgabe wird von dem Einsatz neuer, wissenschaftlich ausgearbeiteter Verfahren abhängen, die aber zum heutigen Tage praktisch fehlen. Die Perspektiven für die Ausschöpfung dieses Potentials hängen von der Wettbewerbsfähigkeit der Getreideproduktion und der Getreideerzeugnisse ab. Die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit erfordert eine Senkung der Kosten (in der gesamten Wertschöpfungskette vom Produzenten bis zum Verbraucher) und eine Qualitätssteigerung der Produktion bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung ihrer Rentabilität, damit Investitionen in eine Produktionssteigerung gewährleistet werden können. Die Umsetzung dieser ehrgeizigen Pläne erfordert jedoch nicht nur eine günstige Preiskonjunktur und passende Wetterbedingungen, sondern auch neue Technologien, ein Ausbau der Saatflächen und Ernteversicherungen für die Landwirte.

Wenn die Produktion in Russland zunimmt, wird die Binnennachfrage die Exportfähigkeit in diesem Land nicht wesentlich einschränken – im Gegensatz zu anderen Teilen der Welt. Es wird erwartet, dass die Bevölkerung in den kommenden Jahren eher abnehmen wird, während die Einkommen steigen und die Verbraucherpräferenzen sich weg von Zerealien zu mehr Fleisch, Fisch, Obst und Gemüse bewegen. Steigender Fleischkonsum wird die Nachfrage nach Futtergetreide antreiben, aber diese Zunahme wird voraussichtlich durch bessere Futterverwertung teilweise ausgeglichen werden. Die Nachfrage wird im Verhältnis zu dem vorausgesagten Produktionswachstum nur moderat zunehmen. Trotz zahlreicher Projekte wird es nicht erwartet, dass die Erzeugung von Biokraftstoffen einen bedeutenden Einfluss auf die Binnennachfrage nach Getreide und Ölsaaten haben wird. Russland ist netto ein Energieexporteur und hat zur Zeit keine deutlich definierten Anwendungsziele für Biokraftstoffe.

Russland beabsichtigt, seine Getreideexporte auf die neuen Märkte der Länder Südostasiens auszudehnen, wobei es auch Wert auf die Diversifizierung des Exportes und einen erhöhten Anteil von Produkten der Getreideverarbeitung legt. Russland steht vor der Aufgabe, sein reiches Agrarpotential zu verwirklichen und die Umfänge der Getreideproduktion auf ein Niveau zu heben, dass es zusammen mit den anderen großen Erzeugerländern Lebensmittelsicherheit für einen bedeutenden Teil der Weltbevölkerung gewährleisten kann.

Zum Weiterlesen

Analyse

Die russische Landwirtschaft im Privatisierungsprozess: Vom Kolchos- zum Investorenarchipel?

Von Peter Lindner, Alexander Vorbrugg
Nimmt man die im Dezember 1991 unter Präsident Jelzin verabschiedete Gesetzgebung zur Privatisierung der Kolchose und Sowchose als Ausgangspunkt, so ist die russische Landwirtschaft seit mittlerweile ziemlich genau 20 Jahren Ziel intensiver Restrukturierungsbemühungen. Im Rückblick fällt auf, dass erhebliche Diskontinuitäten und Brüche, veränderte Prioritäten und das Experimentieren mit unterschiedlichen Steuerungsinstrumenten diesen Prozess kennzeichnen. Paradox mutet insbesondere der Wandel an, dem das Leitbild der Restrukturierung unterworfen war: Setzten Anfang der 1990er Jahre viele Reformer Privatisierung mit der Entstehung kleinbäuerlicher Familienbetriebe gleich, so wurden später verstärkt die Nachfolgeunternehmen der ehemaligen Kollektivbetriebe unterstützt, und in jüngster Zeit werden vermehrt Großinvestoren im ländlichen Raum aktiv, deren Eigentum (oder gepachtete Fläche) die Größe der ehemaligen Kolchose und Sowchose um ein Vielfaches übersteigt. 20 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion, so zeigt sich, befindet sich die russische Landwirtschaft noch immer in einem Prozess schneller und tief greifender Umbrüche, deren Ergebnis bislang nicht abzusehen ist.
Zum Artikel
Analyse

Russlands Importverbot für Agrarprodukte und die Folgen für die russischen und europäischen Agrarmärkte

Von Vera Belaya
Als Reaktion auf die Wirtschaftssanktionen des Westens hat Russland am 6. August 2014 für ein Jahr ein Importverbot für einige Agrarprodukte aus der EU, den USA, Kanada, Australien und Norwegen verhängt. Davon betroffen sind Fleisch, Milch, Obst, Gemüse, Nüsse und Fisch. Die Folgen sind weitreichend. Die Auswirkungen auf die einzelnen EU-Länder variieren je nach Grad ihrer Handelsabhängigkeit vom russischen Markt und je nach Produktgruppe. (…)
Zum Artikel

Logo FSO
Logo DGO
Logo ZOIS
Logo DPI
Logo IAMO
Logo IOS