Potjomkinscher Konservatismus. Ein ideologisches Instrument des Kreml

Von Witold Rodkiewicz, Jadwiga Rogoza (beide Warschau)

Zusammenfassung
Zu Beginn seiner dritten Amtszeit als Präsident hat Wladimir Putin offen erklärt, dass er sich künftig bei seiner Politik von »konservativen Werten« werde leiten lassen. Tatsächlich aber hat der Kreml seine konservative Ideologie rein instrumentell eingesetzt. Der Rückgriff auf den Konservatismus soll allein der Legitimierung des Regimes dienen, indem behauptet wird, er spiegle die russische Tradition wider. Während die eigentliche Intention des Kreml darin zu sehen ist, die starke, zentralisierte staatliche Autorität aufrecht zu erhalten, wird die konservative soziale und moralische Rhetorik in Wirklichkeit als eine weitere »Polittechnologie« eingesetzt, also als Instrument zur Manipulierung der öffentlichen Meinung, sowohl in Russland als auch jenseits seiner Grenzen. Eine Berufung auf diese Ideologie bedeutet weder, dass die derzeitigen Herrscher in Russland tatsächlich konservativen Werten anhängen, noch, dass sie über ein langfristiges Programm für deren Implementierung verfügen. Tatsächlich haben wir es mit einer neuen Art »Potjomkinsches Dorf« zu tun, das dazu dienen soll, die Aufmerksamkeit von Russlands realen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Problemen abzulenken und die Regierung mit Argumenten für eine repressive Innenpolitik und eine antiwestliche Außenpolitik zu versorgen.

Wurzeln und Entstehungsgeschichte des »konservativen Projekts«

Konservative Themen sind im ideologischen Arsenal des Kreml nichts völlig Neues. Sie tauchten dort erstmals mit Putins Machtantritt 2000 und erneut nach 2003 auf. Dabei haben sie die ideologische Botschaft des Kreml nicht dominiert, sondern existierten parallel zu anderen ideologischen Strömungen. Erst während Putins letzten Präsidentschaftswahlkampfes 2011/12 wurden konservative Themen ins Zentrum seiner Rhetorik gerückt, um später das offizielle Narrativ zu dominieren und zur wichtigsten ideologischen Basis des Regimes zu werden.

Der Rückgriff des Kreml auf konservative Ideologie war eine Reaktion auf das Entstehen einer städtischen Mittelschicht, die Forderungen nach systematischen Reformen des Regimes artikuliert hatte, nämlich nach wirtschaftlicher Liberalisierung, politischem Pluralismus, Verringerung der staatlichen Einmischung in das soziale Leben, und für mehr Spielraum für zivilgesellschaftliche Initiativen. Das Engagement dieser Bevölkerungsgruppe resultierte in einer Fülle von Graswurzelinitiativen, die Mechanismen schaffen wollten, durch die die Regierung gegenüber der Gesellschaft rechenschaftspflichtig wäre. Die Unzufriedenheit mit Putins angekündigter Rückkehr in den Kreml mündete dann in die massenhaften Straßenproteste von 2011/2012.

Ein weiterer Grund, warum Putin die konservative Flagge hisste, war sein Glaube, dass das ideologische Vakuum nach dem Zusammenbruch des Kommunismus die Ursache für die Empfänglichkeit eines Teils der Bevölkerung für liberale Ideen ist. Daher hielt es die Regierung für notwendig, der Gesellschaft eine attraktive ideologische Alternative anzubieten, die diesen Leerraum füllen und somit die Ausbreitung liberaler Einstellungen und Überzeugungen verhindern soll. Dieses Angebot richtete sich vor allem an Putins traditionelle soziale Basis, die einkommensschwächeren Bewohner in den Regionen, die im öffentlichen Bereich, in der Industrie oder in der Landwirtschaft beschäftigt sind.

Merkmale des Kremlschen »Konservatismus«

Bei der Entscheidung für einen Einsatz des Konservatismus zur Stützung des Regimes berief sich Putin auf dessen radikale Variante, die in früherer Zeit an den Rändern des politischen und intellektuellen Lebens in Russland zu finden war. Sie war extrem antiwestlich und antiliberal ausgerichtet und trat für eine Wiederbelebung des Reiches ein. Das Ergebnis war, dass der nationalkonservative Diskurs von der Peripherie ins Zentrum der öffentlichen Debatte in Russland rückte.

Eines der charakteristischen Merkmale des Kremlschen Konservatismus ist seine vorwiegend negative Agenda. Es werden dort deutlich jene Phänomena und Werte definiert, die es zu bekämpfen gilt, während sein positives Programm vage und unfertig bleibt. Das hervorstechendste Merkmal ist die Ablehnung der politischen, sozialen und kulturellen Modelle des modernen Westens. Es wird gepredigt, dass Russland und der Westen fundamental unterschiedliche Zivilisationen darstellen. Diese Unterschiede seien eine Folge davon, dass der Westen die Werte der christlichen Zivilisation aufgegeben habe, traditionelle Identitäten ablehne und moralischen Relativismus zulasse. Eine solche Charakterisierung des Westens erlaubt es, Russland als Verteidiger und wichtigste Stütze der europäischen Zivilisation hinzustellen.

Auf der positiven Seite tritt der Konservatismus des Kreml für die Aufrechterhaltung politischer und sozialer Stabilität ein, für die Wiederbelebung der nationalen Identität, die Pflege des Patriotismus, wie auch für eine Rückkehr zum traditionellen Familienmodell, zu staatlichem Paternalismus und sozialem Korporatismus. Insbesondere wird die Notwendigkeit betont, einen starken, hierarchisch strukturierten und zentralisierten Staat zu unterhalten, dessen Inbegriff ein charismatischer Führer sein soll, dessen Autorität von besonderer, gleichsam sakraler Art ist, ungeachtet der formalen Beibehaltung demokratischer (elektoraler) Legitimierungsmechanismen.

Die Ideologie stellt die Gesellschaft als in der russischen Tradition verwurzelt und auf natürliche Weise konservativen Werten verbunden dar. Sie fordert die Pflege des traditionellen Modells einer großen, kinderreichen Familie, eine Wiedereinsetzung der Orthodoxen Kirche (wie auch anderer traditioneller Religionen) als Quelle moralischer Grundsätze. Der »Konservatismus« des Kreml stellt einen Gegensatz her zwischen gewöhnlichen Russen und den Eliten. Der Kreml appelliert somit an reale soziale Stimmungen, die aus einer Mischung von elitenfeindlichen, antiamerikanischen und fremdenfeindlichen Haltungen gespeist werden. Gleichzeitig sieht Putins Vision des Staatsmodells vor, dass die Rolle der Gesellschaft sich auf passive Beteiligung an Prozessen beschränkt, die von der Regierung initiiert werden.

Das »konservative Projekt« in der Innenpolitik

Die Reaktion des Kreml auf die politischen und sozialen Herausforderungen beschränkt sich nicht auf den ideologischen Bereich, sondern umfasst auch eine Reihe legislativer und administrativer Maßnahmen. Der Kreml hat umfangreiche Gegenreformen unternommen, die zu einer weiteren Zentralisierung der Macht, zur Beschneidung von politischer Aktivität und Bürgerrechten, einer intensiveren Gängelung der Opposition und mehr Macht für den Repressionsapparat geführt haben. Unter dem Banner des »konservativen Projekts« wurden die Repressionen über den politischen Bereich hinaus ausgedehnt und auch gegen Personen eingesetzt, die keine unmittelbaren Opponenten des Regimes sind. Es wurde nun Verhalten bestraft, das jenseits des traditionellen – vom Kreml definierten – Kanons der Lebensweisen und Weltsichten liegt. Die Opposition im weiteren Sinne ist auch Gegenstand einer Propaganda geworden, die Kritik an der Regierung mit Opposition zu Russland als Ganzem gleichsetzt, oder gar mit Landesverrat. Der Kreml hat versucht die Opposition mit der Behauptung zu diskreditieren, die von ihr vertretene liberale demokratische Ideologie würde naturgemäß und unausweichlich zu einer Ausbreitung nichttraditioneller Lebensweisen und moralischem Verfall führen. Eine der wirksamsten Taktiken der Regierung ist schließlich die Brandmarkung jeder Kritik an der Annexion der Krim als antirussisch und unpatriotisch (Putin hatte Kritiker der Annexion als »Nationalverräter« beschrieben), was jegliche prowestliche Agenda ins Abseits, jenseits der engen Grenzen des offiziellen politischen Wettbewerbs befördert.

Ein wichtiges Element des »konservativen Projekts« ist die Einführung disziplinierender Maßnahmen gegen die Elite unter dem Motto »Nationalisierung der Eliten«. Der Kreml hat eine Reihe von Gesetzen auf den Weg gebracht, durch die Vermögen und geschäftliche Tätigkeit russischer Amtsträger sowie Angestellter von Staatskorporationen im Ausland strenger überwacht werden können. Das hat die Abhängigkeit der Eliten vom Kreml weiter erhöht. Die offizielle Propaganda entwarf dabei das Bild, dass Kontakte und Geschäftsbeziehungen der Eliten zum Westen ein Instrument seien, diese ausländischen politischen Zentren zu unterstellen.

Eines der Ziele des neuen »Projekts« ist es zu demonstrieren, dass Putins Politik die Unterstützung der Mehrheit der allgemeinen Öffentlichkeit genießt, und dass die Menschen die Idee liberaler Reformen ablehnen. Zu diesem Zweck werden die »korrupten« Eliten und die demoralisierte Mittelschicht dem einfachen Volk gegenübergestellt, wobei letzteres angeblich den traditionellen Werten treu und somit gegen putinfeindliche Losungen immun sei.

»Konservatismus« als Instrument der Außenpolitik

Putins »Konservatismus« wird nicht nur vor dem russischen Publikum eingesetzt, sondern auch als Instrument der Außenpolitik. Aus der Sicht des Kreml ist Ideologie zu einem wichtigen Element der internationalen Auseinandersetzung geworden, die die Ebene der Zivilisationen erreicht hat und eine Wahl zwischen unterschiedlichen sozialen und politischen Modellen beinhaltet. Der Kreml sieht also die Notwendigkeit, mit einer ideologischen Formel aufzuwarten, die Russlands Ansprüche auf eine Rolle als einflussreiche Großmacht legitimiert. Eine konservative Ideologie, attraktiv für jene politischen Kräfte, die den westlichen postmodernen Liberalismus ablehnen und den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union feindlich gegenüberstehen, war somit eindeutig das Richtige. Mit der Berufung auf diese Ideologie haben die russische Diplomatie und die russische Propaganda konsequent für ein Narrativ geworben, in dem Russland als wichtigster Verfechter einer stabilen internationalen Ordnung, traditioneller staatlicher Souveränität sowie eines zivilisatorischen und politischen Pluralismus dargestellt wird.

Ein weiterer Teil des »konservativen Projekts« des Kreml ist das Konzept der so genannten Russischen Welt (»Russkij mir«). Dieses Konzept geht von der Existenz einer separaten, multiethnischen und multireligiösen Zivilisation aus, die von einer Gemeinschaft von Menschen getragen wird, die sich nicht nur mit der russischen Sprache und Kultur identifizieren, sondern auch mit den Traditionen des Russischen Reiches und der Sowjetunion. Das primäre Ziel der Kultivierung dieses Konzepts scheint darin zu liegen, die nationalen Identitäten der Bürger der postsowjetischen Staaten zu schwächen und deren Bindungen und Loyalität zum russischen Staat zu fördern. Der Kreml hat sich auch in seiner Propaganda zur Legitimierung der Krim-Annexion im März 2014 und des »hybriden Kriegs« gegen die Ukraine auf diese Idee berufen, indem er auf die religiösen, historischen und ethnischen Verbindungen verwies, die diese Gebiete mit Russland haben.

Das »konservative Projekt« – wirksames Instrument oder Selbsttäuschung?

Der Einsatz der neuen »konservativen« Ideologie und die Umsetzung des konservativen politischen Projektes scheint für den Kreml kurzfristig die gewünschten Ergebnisse erzielt zu haben. Demgegenüber könnten die langfristigen Folgen allerdings ungünstig für die Regierung ausfallen.

Bislang hat die Umsetzung des »konservativen Projekts« die Erosion der Legitimität des Regimes unterbunden. Es hat einen Großteil der Elite um Präsident Putin konsolidiert, indem die aufkeimende Unzufriedenheit über die Richtung, in der sich das Regime entwickelt, unterdrückt wurde. Das Projekt hat die Mechanismen des Kreml zur Aufsicht über Eliten erweitert und jede Aktion, die die Opposition gegen den Kreml unternimmt, delegitimiert. Es hat auch dabei geholfen, in der Gesellschaft die Unterstützung für Putin zu steigern sowie die repressiven Maßnahmen gegen Mitglieder der Elite und der Mittelschicht zu rechtfertigen.

Die aggressive antiwestliche Außenpolitik ist ebenfalls ein effektives Mittel zur Mobilisierung von Unterstützung in der Gesellschaft. Die Annexion der Krim hat sich als besonders wirksam herausgestellt, indem sie Präsident Putins Umfragewerte ansteigen ließ und sowohl die russische Öffentlichkeit, als auch die Eliten um den Kreml konsolidierte.

Die Berufung auf eine konservative Ideologie hat zudem dafür gesorgt, dass die Unterstützung für Russland unter der radikalen, populistischen und euroskeptischen Rechten breiter wurde. Sie bekräftigte auch die Versuche des Kreml, mit konservativen christlichen Kreisen ein taktisches Bündnis einzugehen. Der vom Kreml verkündete »Konservativismus« erschien auch als ein wirksames Instrument gegen die »soft power« der Europäischen Union in postsowjetischen Staaten.

Andererseits hat das Aufsetzen einer konservativen Maske durch den Kreml beim Mainstream der öffentlichen Meinung im Westen zu einem erheblichen Verlust an Sympathie für Russland und insbesondere dessen gegenwärtige Regierung beigetragen.

Auf lange Sicht wird jedoch diese konservative Ideologie in den Augen jener Teile der russischen Elite, die eine schrittweise Liberalisierung des Systems erwartet hatten, das Problem der fragilen Legitimität der Autorität des Kreml nicht lösen. Der scharfe antiwestliche Politikwechsel und die Annexion der Krim sind sicherlich nicht in deren Interesse. Ihre Sorgen sind durch Versuche des Kreml, große Vermögen wieder neu zu verteilen, weiter erhöht worden. Somit birgt die Stärkung durch das »konservative Projekt« langfristig auch das Risiko einer Destabilisierung des Regimes in sich: Viele Gruppen in der Elite und den reicheren Bevölkerungsschichten könnten verärgert werden, weil ihre wirtschaftliche Situation und ihr Sicherheitsgefühl untergraben werden.

Darüber hinaus kann der Kreml wohl kaum mit einer massenhaften Unterstützung für sein ideologisches Projekt rechnen. Die tief verwurzelte Passivität in der Gesellschaft Russlands bedeutet, dass selbst solche Initiativen, die von der Gesellschaft unterstützt werden, diese nur selten dazu motivieren, zivilgesellschaftlich im Einklang mit den Instruktionen des Kreml aktiv zu werden. Viele der konservativen Forderungen, die vom Kreml vorgebracht werden, weichen von den tatsächlichen Bedürfnissen und Zielen größerer Bevölkerungsgruppen ab.

Der Effekt der konservativen Ideologie des Kreml könnte auch dadurch abgeschwächt werden, dass der herrschende Clan selbst diese Ideologie in rein instrumentellen Kategorien wahrnimmt. Viele der »konservativen« Erklärungen sind in Wirklichkeit zu Propagandazwecken geheuchelt; das Vorgehen des Kreml ändert nichts an der oligarchischen Natur von Putins System; sie lässt sich auch nicht als wachsender Einfluss »des Volkes« auf die Regierungsmechanismen des Staates deuten. Der extreme Materialismus und die pompöse Konsumneigung der herrschenden Eliten stehen in starkem Kontrast zu den verkündeten Werten, was der öffentlichen Wahrnehmung nicht entgangen ist. Wegen ihrer instrumentellen Natur dürfte die Ideologie des Kreml nicht in der Lage sein, eine langfristige echte Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft entstehen lassen, die die Regierung vor einer wegen verschlechterter Wirtschaftsbedingungen schwindenden Unterstützung bewahren würde.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

Informationen über die Autoren und Lesetipps finden Sie auf der nächsten Seite.

Eine ausführliche Fassung dieses Beitrags wurde im Februar 2015 veröffentlicht: Rodkiewicz, Witold, Jadwiga Rogoża: Potemkin conservatism. An ideological tool of the Kremlin [= OSW Point of View, Nr. 48], Warschau, Februar 2015; <http://www.osw.waw.pl/sites/default/files/pw_48_potemkin_conservatism_net.pdf>

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