Der Abschuss der russischen SU 24 und seine Auswirkungen
Man kann sich nur schwer der Schlussfolgerung entziehen, dass die Phase der russisch-türkischen strategischen Allianz endgültig vorbei ist, nachdem die Türkei am 24. November 2015 über der syrisch-türkischen Grenze ein russisches Kampfflugzeug abgeschossen hat. Der Zwischenfall hat eine recht lebhafte Debatte darüber ausgelöst, welche Entscheidungsprozesse zu dem Abschuss geführt haben. Es wurde argumentiert, dass die Türkei, deren vorrangiges außenpolitisches Ziel seit 2011 die Vertreibung des Regimes von Baschar al-Assad in Syrien war, den Abschuss als Instrument nutzte, um die entstehende, gegen den Islamischen Staat gerichtete Koalition zwischen Russland und dem Westen aufzubrechen, die in nahezu jeder praktischen Hinsicht den Kampf gegen Assad völlig an den Rand drängt (s. Shlykov: The End of a Russian–Turkish ‘Golden Age’…; i. d. Lesetipps). Die gleiche Interpretation wurde jüngst von Patrick Cockburn vorgelegt (s. Cockburn: Syrian civil war…; i. d. Lesetipps); er kommt zu dem Schluss, dass der Abschuss ein geplanter Hinterhalt der Türkei gewesen sei, um das russische Engagement im Syrien-Krieg teuer und unpopulär zu machen. Andererseits hat zumindest ein türkischer Experte argumentiert, dass der Zwischenfall mit dem Kampfjet in Wirklichkeit ein geplanter russischer Trick war, um die Türkei zu isolieren und die AKP-Regierung dazu zu bringen, ihre vehemente Haltung gegen Assad aufzugeben (s. Gursel: Ankara falls into Moscow’s trap; i. d. Lesetipps). Worin sich die meisten Kommentatoren einig zu sein scheinen, ist, dass für die Türkei als Ergebnis des Zwischenfalls letztendlich nicht nur der mehr oder weniger vollständige Bankrott der türkischen »Akteursrolle« in Syrien steht – diese ließe sich jetzt nur durch eine direkte militärische Einmischung wiederherstellen – sondern auch das abrupte Ende der ein Jahrzehnt lang erfolgten Annäherung mit Russland.
Von strategischer Zusammenarbeit zu plötzlicher Feindschaft
Nachdem sich Putin und Erdoğan im Dezember 2014 in Ankara in anscheinend herzlicher Weise getroffen hatten, wobei die russische Delegation von erheblichem Gewicht war, begann das Jahr 2015 mit der Erwartung, dass sich die heiklen, gleichzeitig jedoch gegenseitigen Nutzen bringenden Beziehungen fortsetzen und sogar weiterentwickeln würden, zumindest durch intensivierte Wirtschaftsbeziehungen, gemeinsame Energieprojekte und einen lösungsorientierten Dialog zu internationalen Konflikten (Tarasov, Stanislav: Türkiye ve Rusya, stratejik ittifak kuruyor, in: Sputnik Türkiye, 12. Januar 2015; <http://tr.sputniknews.com/ana liz/20150112/1013408602.html>). Es wurde weithin angenommen, dass die beiden Länder es geschafft haben, ihre offensichtlichen Streitigkeiten – insbesondere in Bezug auf die Ukraine-Krise, die Krimtataren und vor allem auf Syrien – einzuhegen. Über die starke wirtschaftliche Grundlage hinaus ist die Entwicklung der persönlichen Beziehung zwischen Putin und Erdoğan weithin beachtet und publizistisch aufgearbeitet worden, etwa mit Schlagzeilen westlicher Medien wie »Putin und Erdoğan sind füreinander geschaffen« (s. z. B. Tharoor: How Russia’s Putin…; i. d. Lesetipps).
In einem Sinne jedoch ist die russisch-türkische strategische Allianz diesem auf Individuen konzentrierten Kommunikationsmodus zum Opfer gefallen. Putin scheint außer sich gewesen zu sein, weil die Türkei nach dem Abschuss nicht sofort mit der russischen Führung kommunizierte, sondern sich stattdessen an ihre NATO-Verbündeten wandte. Darüber hinaus gibt es Anzeichen, die nahelegen, dass Putins wütende Stellungnahme »Die Türkei hat uns einen Dolchstoß versetzt.« die wahren Gefühle eines Menschen ausdrückte, der sich von jemandem betrogen sieht, den er als persönlichen Freund betrachtet hat. Dieses ist vielleicht die wichtigste Komponente für jene Einschätzungen, die die Beziehungen als irreparabel betrachten, solange Putin und Erdoğan an der Spitze ihrer Länder stehen. Wie es der ehemalige FSB-Chef Sergej Stepaschin jüngst beschrieb, »vergisst Putin niemals jene, die ihn verraten oder beleidigt haben« (Sputnik Turkiye: Putin ihaneti asla affetmez, 9. Januar 2016. <http://tr.sputniknews.com/rusya/20160109/1020107141/Vladimir-Putin-Rusya.html>). Wenn diese beiden Narrative zusammengefügt werden, ergibt sich das Bild des russischen Präsidenten (wobei Putin Russland personifiziert), der niemals denjenigen vergisst, der ihm angeblich in den Rücken gefallen ist (Erdoğan, der die Türkei personifiziert).
Andererseits haben in der Türkei sowohl die allgemeine Öffentlichkeit, als auch die AKP-Staatselite jüngst zwei langfristige Reflexe an den Tag gelegt, die beide mit der traditionellen Konzeption von einem einheitlichen »Vaterland« / »Vater Staat« (devlet baba) verbunden sind: Intern wird gegen die kurdische separatistische PKK vorgegangen und nach außen ist da der historische »Große Feind« Russland. In diesem Kontext ist es bemerkenswert, dass kein Tag vergeht, an dem nicht jemand aus der türkischen Führung behauptet, dass Russland direkt die PKK unterstützt (s. Munyar: Weapons seized…; i. d. Lesetipps). Es scheint, als seien alte Ängste vor russischem Expansionismus jetzt, nach der Syrien-Krise, wieder aus dem kollektiven Gedächtnis auf der Überholspur an die Oberfläche gelangt. Während die PKK also als wichtigste innere Bedrohung wahrgenommen wird, ist Russland nun die gefährlichste äußere Bedrohung (s. Hurriyet Daily News: Russia replaces…; i. d. Lesetipps). Die Konzeption einer nationalen Bedrohung der Türkei hauptsächlich anhand dieser beiden Akteure zu vermitteln, könnte allerdings langfristig höchst problematisch werden, zumindest dann, wenn sie eine sehr viel ernstere Wahrnehmung der Gefahr durch den Dschihad verhindern. Viele erfahrene Beobachter weisen darauf hin, dass es insbesondere nach dem Selbstmordanschlag durch den »Islamischen Staat« im Zentrum von Istanbul (12. Januar 2016) von vorrangiger Bedeutung sei, dass die Türkei die Beseitigung der Gefahr durch den IS zur Priorität macht (s. z. B. Taşpınar: Threat perception…; i. d. Lesetipps). Das ist allerdings nicht in Sicht.
Geopolitische und geokulturelle Konfrontation
In diesem Kontext ist es wichtig zu verstehen, dass die antiwestliche, proislamistische Position des AKP-Regimes kein rhetorisches Mittel ist, sondern ein essentielles Element, durch das die Partei als politische Bewegung definiert wird. Eingedenk dieser Prämissen stellt sich die Frage nach den komplizierten Beziehungen mit Russland. Die antiwestliche Staatsideologie des Regimes in Moskau, die Bilder von einer alten und authentischen russisch-orthodoxen imperialen Zivilisation reproduziert, die gegen einen »unmoralischen« Westen kämpft, weist erstaunliche Ähnlichkeiten mit dem islamisch-konservativen Projekt der AKP auf, mit dem diese den Staat transformiert. Das innertürkische Streben, den Staat von den »verabscheuungswürdigen kemalistischen Verwestlichern« zurückzuholen, hat auch eine Verlängerung ins Außenpolitische, der zufolge die Türkei dazu bestimmt ist, Anführer der sunnitisch-islamischen Welt zu werden. Die Vorstellung von einer Welt, die in alte Zivilisationen geteilt ist, die ihre derzeitige Manifestation in den Nationalstaaten Russland und Türkei erfahren, wird explizit in Ahmet Davutoğlus wegweisendem Werk »Strategic Depth« entwickelt, einem Buch, das einen immensen Einfluss auf die Außenpolitik der AKP-Ära gehabt hat. Davutoğlu betrachtet in seinem Buch eindeutig nicht nur den Westen, sondern auch Russland als »natürliche« Gegner der Türkei, während Länder mit einer weit in die Geschichte zurückreichenden imperialen Vergangenheit, etwa Syrien, zweitrangige Staaten und Akteure sind (Davutoğlu, Ahmet: Stratejik Derinlik. Turkiye’nin Uluslararası Konumu. Istanbul: Kure Yayınları 2001). Folgt man diesen Annahmen, ließe sich argumentieren, dass Andrej Kortunows Einschätzung, der zufolge die jüngste »strategische Allianz« zwischen Russland und der Türkei stets eher rhetorisch denn real gewesen sei, auch aus türkischer Perspektive einen Sinn ergibt. Die beiden Länder haben zwar intensive wirtschaftliche Beziehungen entwickelt, sich auf gemeinsame Energieprojekte geeinigt und ihre jeweils antiwestlichen Agenden für die eigenen Zwecke eingesetzt, betrachten einander aber angesichts ihrer jahrhundertealten Rivalität letztendlich als »unnatürliche Partner«.
Natürlich gibt es eine Reihe von Drittländern, die die zunehmenden russisch-türkischen Animositäten als erhebliche Störung wahrnehmen. Neben der NATO, die die Türkei und Russland wiederholt zu einer Deeskalierung ihres jüngsten Konfliktes aufgerufen hat, meldeten sich eine ganze Reihe postsowjetischer Staaten (angefangen von Kasachstan und Turkmenistan bis hin zu Georgien und Aserbaidschan) zu Wort und äußerten ihre Befürchtungen hinsichtlich der zunehmenden Spannungen im Kaukasus und in Zentralasien, und unterstrichen dabei, dass die Türkei und Russland so schnell wie möglich ihr ehemals gutes Verhältnis wiederherstellen sollten (s. Gottesman: The Caspian States…; i. d. Lesetipps). Diese Aufrufe, die an eine Vorstellung von »Verantwortung« appellieren, waren jedoch nicht hinreichend, um den Lauf der Ereignisse zu ändern.
Die Türkei ist bekanntermaßen stark von russischen Energieträgern (Erdgas) abhängig und hat nun eine vehemente Kampagne für alternative Energiequellen gestartet, wobei insbesondere versucht wird, den Umfang der Gaslieferungen aus Aserbaidschan zu erhöhen (s. Jones / Safarova: Turkey Hunts …; i. d. Lesetipps). Andererseits braucht Russland die Türkei als wichtigen Energiekunden. Es gibt dennoch keinen Zweifel, dass beide Länder sich auf eine lange Zeit der Animosität einrichten; diese Einschätzung erhielt nach einem weiteren Zwischenfall noch mehr Nahrung: am 29. Januar erklärte das türkische Außenministerium, dass es erneut eine Verletzung des Luftraums durch Russland gegeben habe. Dieser Zwischenfall wurde von den türkischen Medien intensiv aufgegriffen, wobei Präsident Erdoğan verkündete, dass Russland »sich genötigt sehen werde, die Konsequenzen [solcher Aktionen] zu ertragen« (s. Today’s Zaman: Turkish–Russian tension…; i. d. Lesetipps). Solche Stellungnahmen wurden durch Erklärungen von Präsident Erdoğan begleitet, dass er vergeblich versucht habe, Präsident Putin zu erreichen. Auf russischer Seite wurde dies als reiner Bluff bewertet. Der Duma-Abgeordnete Leonid Kalaschnikow meinte beispielsweise, dass der Vorwurf einer weiteren Luftraumverletzung lediglich ein verzweifelter Versuch Präsident Erdoğans sei, den Kontakt zu Präsident Putin wiederherzustellen (Cumhuriyet: Rus milletvekili. Erdoğan, Putin’le goruşebilmek icin her yolu deniyor!, 31. Januar 2016; <http://www.cumhuriyet.com.tr/haber/dunya/472991/Rus_millet vekili__Erdogan__Putin_le_goruse bilmek_icin_her_yolu_deniyor_.html>).
Keine Aussichten auf eine Wiederherstellung der russisch-türkischen Zusammenarbeit
Bei der Betrachtung von all dem stellt sich allgemein das Gefühl ein, dass die türkische Führung recht verzweifelt darum bemüht ist, Kanäle zu finden, über die sie eine Wiederherstellung der Beziehungen zu Russland beginnen könnte, während gleichzeitig Präsident Erdoğan nicht die auf einen Regime Change in Syrien gerichtete Politik aufgeben wird, wie auch die Türkei die von Russland gestellten formalen Bedingungen für eine Normalisierung nicht akzeptieren wird. Also eine offizielle Entschuldigung und Entschädigung. Andererseits besitzt die russische Führung eine Weltsicht, in der das gewandelte Bild von Russland als Großmacht und somit als einem der Akteure, der nun in beträchtlichen Maße die allgemeinen Züge der internationalen Politik definiert, ihre außenpolitischen Initiativen bestimmen, sei es nun in der Ukraine oder in Syrien. In diesem Kontext kann das Bild, dass Russland durch die Türkei öffentlich bloßgestellt wurde (immerhin bejubelten Ukrainer den Abschuss und meinten, sie sollten das Gleich tun), nicht akzeptabel sein, was auch der Grund dafür ist, dass eine formale Entschuldigung durch die Türkei eine Vorbedingung für irgendeine weitere Zusammenarbeit ist. Des Weiteren ist die Ansicht, dass die Vorwürfe über eine weitere Verletzung des türkischen Luftraums durch Russland schlichtweg ein Versuch sind, in der Syrien-Frage eine Annäherung zwischen dem Westen und Russland zu verhindern, mittlerweile in der russischen Führung fest verwurzelt.
Vor diesem Hintergrund wird die türkische Entschlossenheit, weiterhin (zusammen mit Saudi-Arabien) die bewaffnete Opposition gegen das Regime in Syrien zu unterstützen, wie sie vor kurzem von Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu bekräftigt wurde (Daily Sabah: Turkey to continue…; i. d. Lesetipps), jedweder Annäherung zwischen Russland und der Türkei im Wege stehen. Mehr noch: Wie der US-amerikanische Vizepräsident Joe Biden sogar ausdrücklich meinte, hat die Türkei weniger die »Gemäßigten« finanziert, als Hunderte Millionen Dollar und Tausende Tonnen Waffen in die Unterstützung von Dschabhat al-Nusra (al-Kaïda) und anderer extremistischer Dschihad-Elemente aus allen Teilen der Welt gepumpt (s. Al Monitor: Erdogan’s slow turnaround…; i. d. Lesetipps). Die russische Führung weiß das nur zu gut und macht davon in ihrer eigenen Kriegspropaganda ausgiebig Gebrauch. Unter diesen Umständen ist es, anders gesagt, für Russland sehr einfach, sich als wohlmeinender Akteur und Kämpfer gegen den internationalen Dschihad-Terrorismus in Syrien darzustellen, während es selbst mindestens genauso entschlossen ist sicherzustellen, dass sein einziger Verbündeter im Nahen Osten, nämlich das Assad-Regime, sich hält. Während gleichzeitig die Türkei beharrlich versucht, ihre gegen Assad gerichtete Haltung beizubehalten, sehen einige prominente Kommentatoren nun Russland und die Türkei am Rande eines Krieges, da beide Parteien an der türkisch-syrischen Grenze Truppen zusammenziehen (s. z. B. Idiz: Will Turkey risk…; i. d. Lesetipps).
Schlussfolgerungen
Wechselseitige wirtschaftliche Abhängigkeit, gemeinsame Energieprojekte und ähnliche konservative autoritäre innenpolitische Projekte, die in den beiden Ländern verfolgt werden, scheinen alle auf eine umgehende Reparatur der russisch-türkischen Beziehungen hinzuweisen. Gleichwohl ist eine solche Normalisierung nirgendwo in Sicht. Im Gegenteil: Die völlig gegensätzliche strategische Ausrichtung in Syrien und der Standpunkt der derzeitigen russischen Führung, dass es nicht möglich ist, der Türkei ihr erniedrigendes Vorgehen (den Abschuss des russischen Kampfjets) zu verzeihen, und das in einer Zeit, da es für Russland prioritär sei, sein Image als Großmacht wiederherzustellen, schafft eine konfliktgeladene Entwicklungsbahn, auf der die russisch-türkischen Beziehung über Jahre hinweg angespannt bleiben werden.
Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder