Welche Ziele soll Wirtschaftspolitik verfolgen?
Am 25. Mai 2016 fand eine Sitzung des Präsidiums des Wirtschaftsrates beim Präsidenten der Russischen Föderation statt, auf der die vom Stolypin-Klub, vom Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung und von der Kudrin-Gruppe ausgearbeiteten Wirtschaftsprogramme erörtert wurden – die Diskussion hinterließ einen ambivalenten Eindruck. Einerseits ist es gut, dass »auf höchster Ebene« unter persönlicher Beteiligung Wladimir Putins nun endlich andere Wirtschaftsstrategien diskutiert wurden. Das ist auch deshalb wichtig, da in den letzten Jahren eine Reihe sehr wichtiger Entscheidungen ohne eine Berücksichtigung ihrer wirtschaftlichen Folgen getroffen wurden. Hierzu sei lediglich auf die Feststellung der Ersten stellvertretenden Finanzministerin, Tatjana Nesterenko, verwiesen: »Das Finanzministerium wurde nicht gefragt, wieviel die Entscheidung zur Krim kosten wird« (s. »Forbes«, 05.03.2015; <http://www.forbes.ru/forbes-woman/karera/281919-minfin-ne-sprashivali-vo-skolko-oboidetsya-reshenie-po-krymu>). Andererseits lässt einen die Ansammlung von Ideen, die in den erörterten Programmen enthalten sind, an den bekannten Ausspruch Winston Churchills über Generäle denken, die sich stets auf den vergangenen Krieg einstellen – mit dem einzigen Unterschied, dass es sich hier um Generäle der Wirtschaftspolitik handelt.
Meiner Ansicht nach liegt das Problem bei allen drei vorgelegten Programmen darin, dass in keinem von ihnen klar und deutlich die letztendlichen Ziele der zu verfolgenden Wirtschaftspolitik formuliert sind, weder in der Formel einer »nachhaltigen Gewährleistung des Wirtschaftswachstums« und einer »Erhöhung des Lebensstandards«, noch in der Formel eines Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells, das uns als Orientierung dienen würde. Schließlich ist es so, dass Wirtschaftspolitik immer ein Instrument zur Umsetzung bestimmter Ziele ist. Und bevor man die »Instrumente« diskutiert, muss man sich untereinander darauf verständigen, was die Eliten letztendlich aufbauen wollen.
Die Kudrin-Gruppe und das liberale Programm
Meinem Verständnis nach gehen Alexej Kudrin und der Minister für wirtschaftliche Entwicklung Alexej Uljukajew innerlich davon aus, dass man nach wie vor eine offene liberale Volkswirtschaft aufbauen müsse, in der Privatunternehmen – auch ausländische Firmen – der wichtigste Motor sind. Und die Ressourcen für Investitionen würden diese Unternehmen unter anderem auf den globalen Finanzmärkten gewinnen. Das offensichtliche Problem dieses Ansatzes besteht darin, dass in Russland bereits versucht wurde, eine solche Wirtschaft aufzubauen, der Prozess aber ganz eindeutig nicht zu seinem logischen Abschluss gebracht wurde. Wobei auch klar ist, warum dies nicht erfolgte: wegen der geringen Qualität der Institutionen (vor allem der staatlichen) und wegen des hierdurch fehlenden Vertrauens der Unternehmen wie auch der Bevölkerung in die Wirtschaftspolitik, die verfolgt wird. Wenn in diesem Bereich keine radikalen Veränderungen erfolgen, dann ist unklar, wie ein erneuter Versuch, einen »liberalen Markt« zu schaffen zu den gewünschten Ergebnissen führen soll.
Es besteht aber ein noch grundlegenderes Problem für die Vorschläge aus dem liberalen Lager: Die Welt ist nach 2014 eine andere geworden. Die Angliederung der Krim und der bewaffnete Konflikt im Osten der Ukraine haben die Beziehungen Russlands mit den entwickelten Ländern radikal beeinträchtigt und einen point of no return markiert. Selbst wenn der Westen morgen formal alle Sanktionen aufheben sollte (was nur schwer vorstellbar ist), blieben die informellen Barrieren für einen Zugang russischer Firmen zu Kapital und Technologien zweifellos bestehen, schlicht und einfach deshalb, weil Russland heute vom Westen als potenzieller Gegner wahrgenommen wird. Und das wird noch viele Jahre so bleiben.
Der Stolypin-Klub: Korruption ohne Diebstahl?
Die Urheber des Programms des »Stolypin-Klubs« sind sich anscheinend dieser Herausforderungen bewusst und setzen daher auf Modelle einer nachholenden Entwicklung. Dabei orientieren sie sich vielfach an den Erfahrungen der Länder Südostasiens (Südkorea, Taiwan, das heutige China), mit einer aktiven Rolle des Staates in der Wirtschaft, mit einer Stimulierung der Investitionen über Kreditemissionen usw. Allerdings wird dabei nicht berücksichtigt, dass für alle südostasiatischen Länder über viele Jahre hinweg ein hoher Grad der wirtschaftlichen Abschottung kennzeichnend war. Genau genommen arbeitete man für den Export und maß den Erfolg der einheimischen Firmen an ihren Erfolgen auf den Außenmärkten. Gleichzeitig bestanden darüber hinaus Schutzzölle auf Importe. Und die einheimischen Finanzmärkte waren für Ausländer schlichtweg gesperrt. Zudem galten erhebliche Beschränkungen für den Devisenmarkt, durch die es einheimischen Firmen unter anderem verboten war, Devisen frei zu kaufen oder zu verkaufen. Eine Umsetzung der Vorschläge des »Stolypin-Klubs« wäre also nur dann mit positiven Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung möglich, wenn gleichzeitig überaus strenge Maßnahmen zur Devisenkontrolle und zur Sperrung des Finanzmarktes für ausländische Akteure eingeführt würden. Das wird allerdings im Programm des Stolypin-Klubs in keiner Weise deutlich gemacht. Außerdem glaube ich nicht, dass die erfolgreichen mittleren Unternehmen, die zum Verband »Delowaja Rossija« gehören (der zu großen Teilen hinter den Vorschlägen des Stolypin-Klubs steckt), tatsächlich solche Einschränkungen für sich wünschen.
Auch hinsichtlich des Programms des Stolypin-Klubs besteht ein grundsätzliches Problem. Historisch zeigt die Erfahrung mit der Umsetzung einer aktiven Politik des Staates in der Wirtschaft, dass die Maßnahmen nur dann Erfolge zeitigten, wenn ein bestimmtes »Qualitätsniveau der Bürokratie« gegeben war. Selbst die erfolgreichsten südostasiatischen Länder waren nicht frei von Korruption: Generell ist zu beachten, dass Korruption für Länder charakteristisch ist, die auf Staatskapitalismus ausgerichtet sind. Doch erfolgte die »Rentenabschöpfung« in Korea, Taiwan oder dem heutigen China nicht dergestalt, dass der bewilligte Haushalt »verteilt« wurde (wie es für unseren Staatsapparat typisch ist), sondern dass die erzielten Gewinne geteilt werden. In diesem Zusammenhang sei an den bekannten Artikel von Shleifer und Visny aus dem Jahr 1993 erinnert, in dem die Modelle »Korruption mit Diebstahl« und »Korruption ohne Diebstahl« herausgearbeitet werden; in der Theorie wurde aufgezeigt, dass – bei allen Kosten, die Korruption verursacht – letzteres Modell für Wirtschaft und Gesellschaft einen erheblich geringeren Schaden mit sich bringt.
Die Erfahrung der südostasiatischen Länder zeigt, dass »Korruption ohne Diebstahl« mit einer erfolgreichen Stimulierung der wirtschaftlichen Entwicklung durch den Staat vereinbar sein kann. In Russland dominiert bislang eindeutig »Korruption mit Diebstahl«, was mit Entwicklung in keinerlei Weise kompatibel ist. Daher ist für die Umsetzung jeder Wirtschaftsstrategie eine der zentralen Fragen, wie es um die »Qualität des Staates« bestellt ist und welche Stimuli das Handeln des Staatsapparates bestimmen. Diese Frage ist von keinem der im Mai vorgelegten Programme deutlich angesprochen worden.
Für einen öffentlichen wirtschaftspolitischen Diskurs
Welche Alternative gibt es zu diesen Programmen? Ich habe keine Antwort auf diese Frage; meiner Ansicht nach kann eine Antwort nur aus einer öffentlichen Diskussion verschiedener Ideen und unterschiedlicher Ansätze erwachsen, an der Vertreter der diversen Interessengruppen beteiligt wären, die in Wirtschaft und Gesellschaft eine Rolle spielen.
Für eine solche Diskussion wäre wichtig, dass es einen »Auftraggeber« gibt, dass es seitens der Regierung einen Bedarf an den Ergebnissen der Diskussion gibt. Es sind bereits erste Anzeichen dafür zu erkennen. Nicht weniger wichtig wäre es, dass für eine solche Diskussion die richtigen Fragen gestellt werden. Eine dieser Frage wäre an die Experten aus dem liberalen Lager adressiert, die für Offenheit eintreten: Wozu braucht die Welt Russland? Die geopolitischen Spannungen der letzten Jahre haben anschaulich gezeigt, dass Russland vom Weltmarkt abhängt, und in der heutigen Zeit ist kein Land der Welt in der Lage, eine solche Abhängigkeit zu überwinden. Gleichzeitig stehen alle Länder in einem harten Wettbewerb, nicht nur um Absatzmärkte, sondern auch um kulturellen und politischen Einfluss. Vor diesem Hintergrund muss klar sein, dass wir niemandem etwas schuldig sind, dass aber auch niemand dazu verpflichtet ist, uns zu mögen. Wenn wir also wollen, dass man uns nicht nur wegen der Atomsprengköpfe beachtet, wäre es wichtig sich klar zu machen, was denn Russland nun der Welt eigentlich (an)bieten könnte, was die Welt nicht ausschlagen oder ablehnen kann. Allein auf einer solchen Grundlage ist ein Übergang von der Konfrontation zu einem Dialog und zu einer Rückkehr Russlands als wachsendes Element der globalen Wertschöpfungskette möglich. Die Anhänger der heute so populären Politik der Importsubstitution wiederum sollten sich die Frage stellen, wen Russland tatsächlich wobei einholen könnte.
Was die an diesem Prozess beteiligten Akteure anbelangt, so ruhte das Steuerungsmodell für die Wirtschaft und die Gesellschaft seit Anfang der 2000er Jahre auf Abmachungen zwischen drei Elitensektoren: der zentralen Bürokratie, den oligarchischen Unternehmen und den »Silowiki« (den Vertretern der »Machtbehörden«). Bis 2003 hatte zwischen ihnen ein relatives Kräftegleichgewicht bestanden. Nach der JuKOS-Affäre änderte sich das Kräfteverhältnis zugunsten der Zentralbürokratie und der Elite der Silowiki. Nach den Ereignissen 2011/12 dann wurden – aufgrund von Befürchtungen, dass sich in Russland das Szenario eines »Arabischen Frühlings« entwickeln könnte – die Silowiki zur dominierenden Elitengruppe. Darüber hinaus entstanden in den 2000er Jahren drei weitere einflussreiche soziale Gruppen: die mittelgroßen Unternehmer, die regionalen Bürokratien und die Eliten des öffentlichen Sektors. Diese Gruppen sind aufgrund des gewachsenen Binnenmarktes und gestiegener Haushaltsausgaben entstanden, sie sind sehr viel zahlenstärker. Diese Gruppen haben heute – anders als in den 1990er Jahren – etwas zu verlieren. Und gleichzeitig verstehen Angehörige dieser Gruppen es jetzt erheblich besser, wie man in der russischen Realität arbeiten kann. Die Einbeziehung von Vertretern dieser neuen Gruppen in einen Dialog über die Entwicklungswege des Landes könnte eine wichtige Voraussetzung sein, um nach einem neuen Entwicklungsmodell zu suchen und Bedingungen für dessen Umsetzung in der Praxis herauszuarbeiten.
Und eine letzte Anmerkung: Es würde allen Beteiligten der aktuellen Wirtschaftsdiskussionen gut anstehen, einige Schritte zurückzugehen und sich über einige grundlegendere Fragen zu verständigen – um dann zu einem Verständnis zu gelangen, was die Eliten Russlands eigentlich aufzubauen versuchen. Die Erfahrung einer solchen Diskussion ist 1999–2000 auf der Plattform des »Zentrums für strategische Ausarbeitungen« (russ. Abk.: ZSR) gemacht worden, und jene Diskussionen (wie auch ein gewisser Konsens, der mehrfach in ihrem Verlauf erreicht wurde) haben meiner Ansicht nach in vielerlei Hinsicht den Charakter der Reformen und der Erfolge bei der Wirtschaftsentwicklung Anfang und Mitte der 2000er Jahre vorbestimmt. Das Projekt eines »ZSR 2.0«, wie es jetzt unter der Leitung von Alexej Kudrin gestartet wird, wird meinem Verständnis nach dann erfolgreich sein können, wenn die Plattform ZSR zur Basis einer Erörterung allgemeinerer Themen wird (über die »Wahl des Modells«), gleichzeitig die veränderten Realitäten berücksichtigt werden und neue Kategorien von Diskussionsteilnehmern hinzugezogen werden. Falls die Beteiligten dann zu diesem oder jenem Kompromiss gelangen, könnte es möglicherweise gelingen, ein realistisches Maßnahmenprogramm für die Wirtschaftspolitik zu formulieren.
Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder