Gemeinsam mit örtlichen Historikern suchte der Permer Memorial-Mitarbeiter Alexander Kalich im Jahr 1988 das ehemalige Arbeitslager im Dorf Kutschino auf, auf das sein Sohn zufällig bei einer Paddeltour gestoßen war. Schnell erkannten sie dessen welthistorischen Wert: Etwa 150 Kilometer von Perm entfernt, steht dort die einzige nahezu vollständig erhaltene Anlage mit den typischen Holzbaracken eines Straflagers aus der Stalinzeit.
Lager von welthistorischem Wert
1946 als eines der zahlreichen stalinschen Arbeitslager errichtet, sollte es der Holzbeschaffung für die Industrie und für den Wiederaufbau des Landes nach dem Krieg dienen. Wegen seiner günstigen Lage am Flussufer blieb das Lager jedoch auch nach Stalins Tod noch in Betrieb und trägt so auch bauliche Spuren späterer Sowjetepochen. Ende der 1950er Jahre erhielt es verstärkte Sicherungsanlagen für die Unterbringung krimineller Mitarbeiter der Sicherheitsorgane. Von 1972 bis 1987 diente die Anlage unter strenger Geheimhaltung als Speziallager für politische Gefangene. Eine etwas abgelegene Scheune wurde zu einer zweiten Abteilung umgebaut, in der überzeugte Gegner der Sowjetmacht im »Sonderregime für besonders gefährliche Wiederholungstäter« ihre mehrjährigen Strafen verbüßten. Dissidenten saßen in einer Zelle mit Nazikollaborateuren. Der ukrainische Dichter Wassyl Stus, der 1985 für den Nobelpreis vorgeschlagen worden war, kam hier im selben Jahr unter bis heute ungeklärten Umständen ums Leben.
Wegen des außerordentlichen historischen Werts des Geländes setzte sich in den 1990er Jahren insbesondere Viktor Schmyrow, Dekan an der Permer Pädagogischen Hochschule, gemeinsam mit einigen ehemaligen Insassen aus dem Dissidentenkreis und örtlichen Aktivisten aus dem Umfeld von Memorial, für dessen Erhalt als Gedenkstätte ein.
Am 5. September 1995 war es dann soweit: Die Baracke des »Sonderregimes« konnte erstmals für den Besucherverkehr geöffnet werden. Viktor Schmyrow und seine Frau, die Permer Historikerin Tatjana Kursina, übernahmen die Leitung der Gedenkstätte. Sie kündigten ihre Stellen an der Pädagogischen Hochschule und widmeten sich ganz der Weiterentwicklung des Museums und Gedenkzentrums für die Geschichte der politischen Repressionen Perm-36 – so der Name der Trägerorganisation. Dank ihrem Engagement erhielt das erste und bis heute einzige Museum in Russland, das sich am Ort eines ehemaligen Arbeitslagers stalinistischen Typs befindet, bald regelmäßige Zuwendungen aus dem Permer Regionalhaushalt.
2001 konnten schließlich auch die in den 1940er Jahren errichteten Gebäude für den regulären Besucherverkehr geöffnet werden. Auf der Grundlage der Forschung zu den sowjetischen Repressionen in den Archiven der Region konzipierte das Museum Ausstellungen, die nicht nur in Russland, sondern auch in den USA, Großbritannien und Italien gezeigt wurden. Für Schüler, Studierende, Lehrer und Museumsfachleute wurden Bildungsprogramme entwickelt. Dabei bemühten sich die Verantwortlichen stets, sowohl die Epoche der Säuberungen und des Gulags als auch die der Repressionen gegen das spätere Dissidententum in den Blick zu nehmen.
Hauptstadt der russischen Zivilgesellschaft
In den 2000er Jahren entwickelte sich das Museum schließlich zu einem Anziehungspunkt für all jene, die sich in Russland zu einer liberalen Bürgergesellschaft zählten. Besonders deutlich wurde das beim Bürgerfestival Pilorama: ein Festival mit Konzerten, Kunstausstellungen, Theateraufführungen und zahlreichen Diskussionsforen, das jährlich tausende Teilnehmer für ein Juliwochenende nach Kutschino lockte. Auf dem Festival diskutierten Vertreter der liberalen Parteien mit ehemaligen politischen Gefangenen über die brennenden Fragen der Zeit. Musiker wie Andrej Makarewitsch gaben Konzerte, 2010 inszenierte ein internationales Künstlerteam auf dem Lagergelände die Oper Fidelio von Beethoven.
Das Pilorama, aber auch die vielfältigen Permer Bürgerinitiativen, verschafften der Stadt den Ruf als »Hauptstadt der russischen Zivilgesellschaft«. Dies passte perfekt in das Entwicklungskonzept, das der damalige Gouverneur Oleg Tschirkunow für die Region hegte. Er lud wichtige Vertreter der russischen liberalen Kulturelite nach Perm ein – wie den Galeristen Marat Gelman, den Dirigenten Teodor Currentzis und den Regisseur Boris Milgram, die mit avantgardistischen Ausstellungen, Ballett- und Theateraufführungen eine »kulturelle Revolution« entfachten. So brachte er Perm kurzzeitig auf die Liste der interessantesten kulturellen Zentren Europas.
Politische Kehrtwende
Die Wende zeichnete sich aber schon im Jahr 2012 ab. Kurz vor der Rückkehr Putins ins Präsidentenamt reichte Tschirkunow ein Gesuch auf seine vorzeitige Abberufung ein. Der neu eingesetzte Gouverneur Viktor Bassargin, der zuvor den Posten des föderalen Ministers für regionale Entwicklung bekleidete, entledigte sich zügig der »Mannschaft« seines Vorgängers und berief den Schauspieler Igor Gladnew als regionalen Kulturminister. Dieser wiederum entließ umgehend Marat Gelman als Leiter des örtlichen Museums für moderne Kunst und strich die Fördergelder für dessen avantgardistische Projekte.
Diese politische Kehrtwende konnte auch an dem Museum und seinem Festival nicht spurlos vorübergehen. Einen ersten Hinweis erhielten seine Betreiber bereits im selben Jahr, als in einer regionalen Zeitschrift ein Interview mit einem ehemaligen Wärter des Straflagers Perm-36 abgedruckt wurde: »Im Gulag kamen tausende Leute um […] Das waren die 1930–50er Jahre. Was hat Perm-36 damit zu tun – mit seinen sauberen, satten Häftlingen, die sich auf Werkbänkchen mit der Herstellung von Anschlussklemmen für Bügeleisen beschäftigten?« Dieser Vorwurf der Geschichtsfälschung gegenüber den Betreibern des Museums war der Auftakt einer breiten Kampagne gegen das Museum, an der sich sowohl andere ehemalige Mitarbeiter des Lagerwesens als auch die Kommunistische Partei der Russischen Föderation und die neostalinistische Organisation Sut Wremeni (in Europa unter dem Namen Essence of Time bekannt) beteiligten.
Im folgenden Jahr warfen einzelne Vertreter dieser Gruppen den Museumsbetreibern wiederholt vor, dass sie weder die Haftbedingungen der ehemaligen Insassen noch die Zusammensetzung des Lagers korrekt darstellen würden. Insgesamt schade das Museum der jungen Generation in der Ausbildung einer patriotischen Gesinnung. Die Teilfinanzierung der NGO über US-amerikanische Stiftungsgelder galt als Beleg dafür, dass es sich bei dem Museum um eine feindliche, aus dem Ausland gesteuerte Struktur handele. Auf dieser »NATO-Basis« werde das Ziel verfolgt, Russland von innen heraus zu zerstören.
Perm-36 als ausländischer Agent
Die Attacken boten der neuen Regionalregierung zunächst den Anlass, dem Pilorama im Sommer 2013 die Fördergelder zu streichen, sodass es nicht mehr stattfinden konnte. Der Museumsleitung wurde »zu ihrer Absicherung« die Verstaatlichung angeboten.
Doch die vorgeblich zum Schutz der inzwischen weltweit bekannten Institution initiierte Verstaatlichung stellte sich bald als eigentliche Gefährdung heraus: Durch das Abschalten von Strom, Gas und Wasser wurden die Betreiber gezwungen, das Museum kurz nach der Verstaatlichung im Frühjahr 2014 für den Besucherverkehr zu schließen. Dies war zudem ein willkommener Anlass für den örtlichen Kulturminister, Tatjana Kursina als Direktorin zu entlassen. Im Anschluss wurden Bibliothek, Archiv und Bestände des vorherigen Trägers konfisziert und die Ausstellung an das heroische Geschichtsnarrativ angepasst: Der Raum mit den Biographien ehemaliger dissidentischer Insassen wurde geschlossen, hingegen der Beitrag der Gulag-Häftlinge zum Sieg im Großen Vaterländischen Krieg auf Schautafeln dokumentiert.
Während die ehemaligen Wächter des Arbeitslagers in den Beirat drängten, distanzierten sich die ehemaligen Insassen von der Institution. Der frühere Trägerverein wurde als ausländischer Agent gelistet und mit Gerichtsverfahren überzogen. Zermürbt gaben dessen Akteure im März 2015 auf.
An diesem Vorgang vermochten weder die mit zahlreichen Unterschriften versehene Petition an den Gouverneur und den russischen Präsidenten noch Proteste seitens russischer Prominenter, nationaler und internationaler Organisationen etwas zu ändern – genauso wenig wie die Interventionen des russischen Präsidialen Menschenrechtsrats. Die lang andauernde Skandalisierung in der russischen und internationalen Presse sowie diplomatische Bemühungen scheinen aber zumindest eines erzielt zu haben: 2016 berief man Julia Kantor, die ehemalige Beraterin des Direktors der St. Petersburger Eremitage, zur Kuratorin. Zumindest die ehemaligen dissidentischen Insassen des »Sonderregimes« erfahren durch Kantors Einflussnahme wieder eine Würdigung am Ort ihrer langjährigen Haftstrafen. Bibliothek, Archiv und Museumsbestände der Museumsgründer gelten jedoch bis heute als »verschollen«.