Fünf Jahre nach der Annexion der Krim a) beschäftigt der Vorgang eine außergewöhnlich hohe Zahl an internationalen und nationalen Verfahren, b) ohne dass die Kernfrage nach dem völkerrechtlichen Status der Krim gerichtlich entschieden ist und c) ohne dass durch das (Völker-)Recht eine juristische Aufarbeitung oder gar Streitbeilegung erzielt werden konnte. Im Gegenteil, die Krimfrage hat die europäische völkerrechtliche Architektur mächtig ins Wanken gebracht. d) Im Windschatten der zahlreichen Beschwerden konnte Russland seine territoriale Hoheitsgewalt sogar noch erweitern.
Internationale Verfahren
a) Bereits kurze Zeit nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch die Russische Föderation begann die Ukraine mit der Anrufung zahlreicher internationaler Gerichte, um die Vorgänge auf der Krim und in der Ostukraine juristisch aufarbeiten zu lassen. Ende Februar 2014 hatten russische Spezialeinheiten ukrainische Verwaltungs- und Militärstandorte sowie die Verkehrswege der Krim okkupiert. Bereits am 16. März 2014 wurde unter russischer militärischer Besetzung ein umstrittenes Referendum abgehalten, in dem sich eine überwältigende Mehrheit für einen Beitritt der Krim zur Russischen Föderation aussprach. Die Aufnahme der Krim erfolgte kurz darauf. Insofern wird Russland von zahlreichen Staaten und unter anderem auch dem Europarat vorgeworfen, gegen das Prinzip der territorialen Integrität und damit das völkerrechtliche Gewaltverbot verstoßen zu haben. Russland argumentierte völkerrechtlich mit dem Selbstbestimmungsrecht des Volkes der Krim, einer Art Notstandsrecht infolge des durch die Proteste auf dem Maidan ausgelösten angeblich vom Westen unterstützten coup d’état in der Ukraine sowie historischen Ansprüchen auf die Krim.
Bereits am 13. März 2014 wurde die erste Staatenbeschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingelegt. In vier heute anhängigen Beschwerden wirft die Ukraine Russland unter anderem vor, auf der Krim und in der Ostukraine Menschen getötet, gefoltert und ihrer Freiheit beraubt zu haben. Zusätzlich zu den Beschwerden, die die Ukraine als Staat eingebracht hat, sind nach Angaben des EGMR ca. 4.000 weitere Individualbeschwerden von Bürgern im Hinblick auf die Krim und die Ostukraine anhängig.
Im Januar 2017 hat die Ukraine überdies Klage vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) auf der Grundlage des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung eingereicht. Die Ukraine will damit feststellen lassen, dass der Zugang zu Bildung in der Muttersprache verwehrt sowie die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheiten der auf der Krim lebenden Tataren und Ukrainer infolge der Annexion verletzt worden seien.
Daneben wurden zahlreiche Beschwerden auf Grundlage des im Jahr 1998 geschlossenen Investitionsschutzabkommens zwischen Russland und der Ukraine vor dem Ständigen Schiedshof in Den Haag eingereicht. Darin wird Russland vorgeworfen, die Rechte ukrainischer Investoren auf der Krim unter anderem durch Enteignungen verletzt zu haben.
Zuletzt hat die Ukraine ein Verfahren vor dem Ständigen Schiedshof auf der Grundlage des Seerechtsübereinkommens angestrengt, um die Rechtmäßigkeit russischer Maßnahmen im Asowschen Meer zu klären, das durch die Annexion der Krim weitgehend unter russische Kontrolle geraten ist.
Für Aufmerksamkeit sorgte der Bericht der Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs im November 2016, der die Situation auf der Krim ab dem 25. Februar 2014 entgegen der russischen Auffassung als »internationalen bewaffneten Konflikt« einstufte.
Völkerrechtlicher Status der Krim
b) Keines der von der Ukraine angerufenen Gerichte ist indes ermächtigt, die Kernfrage des Konflikts gerichtlich zu entscheiden, das heißt die Frage, ob Russland durch die Übernahme der Hoheitsgewalt über die Krim gegen das völkerrechtliche Gewaltverbot verstoßen hat. Eine Klärung vor dem Internationalen Gerichtshof würde die Zustimmung Russlands voraussetzen.
Keine Streitbeilegung
c) Es ist ohnehin die Frage, was mit den völkerrechtlichen Urteilen überhaupt erreicht werden kann. Aber auch ohne Klärung der Kernfrage sind die Beschwerden für die Ukraine von Bedeutung. Besonders die Beschwerden vor dem EGMR, aber auch vor dem IGH sind geeignet, den zugrundeliegenden Sachverhalt aufzuarbeiten.
Außerdem wird den Beschwerdeführern Schadensersatz zugesprochen. Dies gilt für die Beschwerden vor dem EGMR, aber insbesondere für die Klagen im Investitionsrecht. Allein die auf der Krim enteignete staatliche ukrainische Ölgesellschaft Naftohaz, deren Anspruch in der Sache kürzlich bereits bestätigt wurde, verlangt von Russland Schadensersatz in Höhe von 5 Milliarden Dollar. Angesichts der innenpolitischen Probleme, mangelnder militärischer Erfolge sowie fehlender internationaler Verhandlungen sind die Verfahren für die ukrainische Regierung Gelegenheit, internationale Aufmerksamkeit zu erzielen.
Gleichzeitig ist der Schaden für Russland gering. Bei Investitionsschutzklagen ist die Vollstreckbarkeit stets ein großes Problem. Im November 2016 zog Russland außerdem seine Unterschrift unter das Abkommen zum Internationalen Strafgerichtshof mit dem Vorwurf zurück, der Gerichtshof sei nicht unabhängig. Gegenüber der Zulässigkeit der Beschwerde auf Grundlage des Seerechtsübereinkommens hat Russland zahlreiche Einwände vorgebracht. Unter anderem kritisiert Russland, dass eine Beschwerde nicht zulässig sei, weil es der Ukraine eigentlich nicht um das Seerecht gehe, sondern um die Frage der Rechtmäßigkeit der Annexion der Krim, die lediglich Auswirkungen auf das Recht der angrenzenden Küstengewässer habe. Urteile des EGMR gegen Russland werden vor der Umsetzung durch das russische Verfassungsgericht geprüft. Kritische Urteile wurden in der Vergangenheit vielfach innenpolitisch als Ausdruck einer antirussischen Haltung des EGMR gewertet, zur Begründung einer antiwestlichen Politik herangezogen und so instrumentalisiert. Überhaupt ist fraglich, ob die Entscheidungen noch Bindungswirkung gegenüber Russland entfalten können. Die Parlamentarische Versammlung des Europarats hatte als Sanktion nach der Annexion der Krim einen Stimmrechtsentzug gegenüber der russischen Delegation verhängt. Als Reaktion darauf hatte Russland im Jahr 2017 seine Zahlungen an den Europarat gestoppt. Nach zweijähriger unterlassener Zahlung droht Russland im Sommer 2019 das Ende der Mitgliedschaft. Man kann insofern sogar sagen, dass die Krimkrise als »Stresstest« die Russland bisher einschließende europäische Menschenrechtsarchitektur mächtig ins Wanken gebracht hat. Statt Streitschlichtung zu ermöglichen, ist der Europarat durch die Krimkrise selbst unter Druck geraten.
Russlands territoriale Hoheitsgewalt faktisch noch erweitert
d) Im Schatten von unzähligen Beschwerden ist es Russland indes gelungen, seine Sicht auf das Völkerrecht in der Praxis durchzusetzen und sogar zu perpetuieren. Dies zeigt sich beim Blick auf die jüngste Auseinandersetzung im Asowschen Meer. Seit der Annexion der Krim kann Russland faktisch auch das ukrainische Küstengewässer der Krim und mithin die Straße von Kertsch kontrollieren, mit fatalen Folgen für die ukrainische Wirtschaft, für die der Zugang zu den Häfen am Asowschen Meer zentral ist. Nach wiederholten Zwischenfällen hatte die russische Küstenwache im November 2018 drei ukrainischen Kriegsschiffen die Durchfahrt durch die Straße von Kertsch verweigert, die Schiffe beschossen und aufgebracht. Zentrale Begründung dafür ist die aus russischer Sicht rechtmäßige Angliederung der Krim.
Die Rechtfertigungsstrategie erweist sich als inhaltlich fragwürdig und völkerrechtlich inkonsistent. Russland unterstellt im Widerspruch zu unabhängigen Berichten, dass die Durchfahrt der ukrainischen Schiffe nicht friedlich erfolgt sei. Im Sicherheitsrat warf Russland der Ukraine vor, das Gewaltverbot verletzt zu haben. Mit der Erklärung vom 21. November 2018 unterstrich das russische Außenministerium, die Wasserstraße von Kertsch sei kein internationales Gewässer, sondern russisches Hoheitsgebiet. Der seerechtliche Anspruch auf eine friedliche Passage und den Transit sei nicht gegeben. Tatsächlich wäre das Seerecht nicht anwendbar, wenn sich die Schiffe unfriedlich verhalten und russisches Hoheitsgebiet verletzt hätten bzw. wenn man aufgrund der Annexion und der andauernden Okkupation der Krim ohnehin annähme, dass ein internationaler bewaffneter Konflikt vorliege. Dann würde das Recht des internationalen bewaffneten Konflikts, das Humanitäre Völkerrecht, gelten. In diesem Fall wäre es indes mit wenigen Ausnahmen verboten, die gegnerischen Matrosen vor nationalen russischen Gerichten anzuklagen, wie hier aber geschehen. Sowohl die Ukraine mit ihrer Beschwerde auf der Grundlage der Seerechtskonvention als auch Russland wechseln in ihrer Argumentation insofern zwischen dem in Friedenszeiten geltenden Seerecht und der Annahme eines bewaffneten internationalen Konflikts mit einem eigenen Rechtsregime als Konsequenz.
Im Ergebnis ist der Analyse von James Kraska zuzustimmen, wonach es Russland gelungen sei, auch durch die gerichtlich ungeklärte Situation der Krim eine vermeintlich unübersichtliche völkerrechtliche »Grauzone« zu errichten, in der es seine geopolitische Agenda ungehindert weiterentwickele.
Und während die russische Regierung das Völkerrecht in der Krimfrage als unabhängiges streitschlichtendes Instrument leerlaufen lässt, ist letztlich bemerkenswert, dass innerstaatlich außergewöhnlich viele Gerichtsverfahren durchgeführt wurden, um die Vorgänge auf der Krim gerichtlich »aufarbeiten« zu lassen. Dies gilt zunächst für das höchst problematische Urteil des russischen Verfassungsgerichts zur Angliederung der Krim sowie für zahlreiche rechtsstaatswidrige Strafverfahren gegen Ukrainer und Krimtataren vor russischen Gerichten, die es wie im Fall Oleh Senzow offensichtlich zum Ziel haben, Kritiker der Annexion einzuschüchtern und die offizielle Bewertung der Ereignisse durch die russische Regierung gerichtlich zu legitimieren. Insofern ist das Recht auch für Russland in der Krimfrage nicht ohne Bedeutung, vielmehr ist es innerstaatlich ein wichtiges Instrument autoritärer Herrschaft.