Radikalisierung und gewaltsame Konflikte im Nordkaukasus: Eine Faktorenanalyse

Von Alexey Gunya (Institut für Geographie der Russischen Akademie der Wissenschaften, Moskau)

Zusammenfassung
Radikalisierung steht in einem engen Zusammenhang mit Mobilisierung und Sozialisierung. Im Nordkaukasus begünstigen folgende Faktorengruppen der modernen Sozialisation und Mobilisierung eine Radikalisierung: 1) kulturelle und geographische Faktoren; 2) das historische Erbe und verschleppte Kränkungen; 3) ein drastischer Wandel der politischen Institutionen; 4) intensive Informationsflüsse; 5) mangelhafte Beziehungen zwischen Staat und Gemeinschaft; 6) das Entstehen neuer Sozialisierungsräume für junge Menschen. Es bestehen große regionale Unterschiede bei der Mobilisierungsaktivität und dem Einsatz von Gewalt. Sie reichen von unterdrückter Mobilisierung in Tschetschenien bei hohem Gewaltniveau bis zu sehr starker Mobilisierung bei einem relativ niedrigen Niveau der Gewalt in Karatschai-Tscherkessien. Zu den allgemein im Nordkaukasus bestehenden Voraussetzungen für eine Radikalisierung gehören die ungünstigen Bedingungen für die Sozialisierung junger Menschen und für deren Integration in das Geflecht gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Beziehungen sowie das fehlende Vertrauen in die Sicherheits- und Justizbehörden.

Einführung

Unter Radikalisierung wird hier eine der Formen wiederholter Mobilisierung verstanden, bei der jenseits der in der Gesellschaft bestehenden formalen und informellen Normen (Institutionen) Gewalt eingesetzt wird. Es bestehen tiefgreifende soziokulturelle Verbindungen zwischen Radikalisierung und den in der jeweiligen Gesellschaft existierenden Formen der Mobilisierung. Friedliche Mobilisierungsformen, die in geregelten Bahnen erfolgen, vollziehen sich gemäß den lokalen (formalen wie informellen, darunter auch traditionsgebundenen) Institutionen mit wirksamen Kontroll- und Sanktionsmechanismen. Mobilisierung wiederum ist eng mit den soziokulturellen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen verbunden, unter denen die Sozialisierung erfolgt. Für eine Analyse von Radikalisierung müssen die Faktoren und Bedingungen in einer logischen Kette betrachtet werden: Sozialisierung – Mobilisierung – Radikalisierung.

Im Nordkaukasus begünstigen folgende wichtige Faktorengruppen der modernen Sozialisation und Mobilisierung eine Radikalisierung: 1) kulturelle und geographische Faktoren, nämlich die Fragmentierung des Raumes und die ethnische Vielfalt; 2) das historische Erbe und verschleppte Kränkungen; 3) ein drastischer Wechsel der politischen Institutionen (Zerfall der UdSSR); 4) intensive Informationsflüsse und die Öffnung zuvor relativ geschlossener Gemeinschaften für Kontakte mit anderen Kulturen; 5) mangelhafte Beziehungen zwischen Staat und Gemeinschaft, mit einem Überwiegen staatlichen Drucks bei der Lösung drängender Probleme; 6) das Entstehen neuer Sozialisierungsräume für junge Menschen.

Sozialisierung, Mobilisierung, Radikalisierung

1. Die große ethnische und kulturelle Vielfalt des Kaukasus galt lange Zeit als wichtiger Entstehungsfaktor von Konflikten. In den 1990er Jahren wurde erwartet, dass es zu einer Vielzahl ethnisch oder religiös motivierter Zusammenstöße und Konflikte kommen werde. Die Konflikte jedoch, die stattfanden (z. B. zwischen Inguschen und Osseten), entwickelten sich nicht zu massenhaften Zusammenstößen. Im Grunde kam es nicht einmal zwischen Christen und Moslems zu Konflikten. Allerdings begünstigten die schwierigen geographischen Bedingungen, vor allem die isolierten und schwer zugänglichen Berggegenden, in den 1990er Jahren das Entstehen von Enklaven, in denen eigene Lebensregeln geschaffen wurden, die sich von denen im Staate unterschieden, und in denen Gewalt eingesetzt wurde. Das gilt beispielsweise für das Kadar-Gebiet auf dem Territorium des dagestanischen Rayons Bujnaksk, wo 1998–1999 die Gesetze der Scharia eingeführt wurden.

2. Über die Jahrhunderte hinweg ist es in der Geschichte des Kaukasus zu einer Vielzahl von Kriegen (der Kaukasische Krieg der Völker des Nordkaukasus gegen eine Kolonisierung durch Russland, Auszug vieler Moslems) und zu Unrecht gekommen (Deportation einer Reihe nordkaukasischer Völker nach Sibirien und Kasachstan 1943–1944). Historische Kränkungen waren ein wichtiges Motiv der Nationalbewegungen in den 1990er Jahren. Ungefähr seit Mitte der 1990er Jahre lagen der Mobilisierung andere, vor allem religiöse Faktoren zugrunde.

3. Der drastische Wechsel der politischen Institutionen durch den Zerfall der UdSSR und die anschließende Wirtschaftskrise führten zu Arbeitslosigkeit, Verarmung, drastischer Stratifizierung in Arm und Reich sowie zu einer Reduzierung der Aufstiegsalternativen und -möglichkeiten. Das Absterben der kommunistischen Ideologie und ein Aufblühen der Religiosität wurden von einem massenhaften Wertewandel begleitet, bei dem immer mehr traditionelle Mobilisierungsformen in den Vordergrund traten, religiöse Feiertage, Dorfversammlungen, Beratungen der einflussreichen Sippen oder Zusammenkünfte von Sufi-Brüderschaften usw.

4. Für die Entwicklung neuer Mobilisierungsformen spielte die Öffnung zuvor praktisch abgeschlossener Gemeinschaften von Bergbewohnern eine überaus große Rolle. In den 1990er Jahren fuhren Hunderte junger Menschen zum Erhalt einer religiösen Bildung nach Ägypten, Jordanien, Syrien und in andere islamische Länder. Tausende Muslime vollzogen den Hadsch nach Mekka. Die Ausbreitung des Internet brachte die Möglichkeit mit sich, alternative Ansichten zu den wichtigsten Problemen des sozialen und politischen Lebens kennenzulernen. Junge Menschen, die diese Bildung erhielten, wurden zu Vermittlern neuer Ideen für unterschiedliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, u. a. für die Religion. Der traditionelle Islam erfuhr Kritik. Neue Formen der Mobilisierung junger Menschen entstanden, die auf Solidarität in Fragen der Kritik an den religiösen Traditionen, an einer korrumpierten Regierung usw. beruhten. Das Internet und die sozialen Netzwerke wurden zu den wichtigsten Instrumenten, mit denen radikale Gruppen junge Menschen rekrutierten.

5. Das staatliche Gewaltmonopol brach in den 1990er Jahren zusammen. In Tschetschenien und einigen anderen Regionen des Kaukasus entstanden bewaffnete Gruppierungen, die mit einem schwachen Staat im Wettkampf um die vorhandenen Ressourcen standen. Andererseits wurden wieder die traditionellen Institutionen der Konfliktlösung nachgefragt, die sich auf eine jahrhundelange Erfahrung des Vermittelns stützen konnten. Nach dem Tschetschenienkrieg überwog der Ansatz gewaltsamer Problemlösung durch den wiedererstarkten Staat. Es entstand eine eigene »Maschine« staatlicher Gewalt in Gestalt von Sondertruppen, Spezialeinheiten der Polizei usw. Diese Maschine war nicht nur auf die Unterdrückung der bewaffneten Aufständischen gerichtet, sondern diente auch dem Kampf gegen Opponenten der offiziellen Regierung. Die Gewalt ging nicht nur von den Aufständischen aus, sondern auch vom Staat. Razzien in Moscheen, Festnahmen von Verdächtigen und die Anwendung von Gewalt gegen sie, eine intransparente Abwicklung der Gerichtsverfahren usw. führten zu Widerstand auf Seiten der radikal eingestellten Jugend und zu »Personalnachschub« für die Aufständischen. Die Errichtung des »Kaukasus-Emirats« 2007 bedeutete eine Institutionalisierung der Aufstandsbewegung. Im Vorfeld der Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi war hier allerdings ein besonders starker Rückgang zu beobachten, weil die meisten Aufständischen nach Syrien und in den Irak verdrängt wurden. Aus Grafik 1 auf S. 12 wird ersichtlich, dass die Anzahl der Opfer in verschiedenen Regionen des Nordkaukasus drastisch zurückging. Die meisten Opfer wurden in Dagestan registriert (824 im Jahr 2011). Die niedrigsten Opferzahlen gab es in der Region Stawropol und in Nordossetien, in zwei Regionen, deren Bevölkerung überwiegend christlich ist. Bezieht man die Anzahl der Opfer auf die Gesamtbevölkerung einer Region, liegt Inguschetien an der Spitze. Hier entfielen 2010 auf 100 000 Einwohner 65 Opfer, also dreimal so viele wie in Dagestan.

6. Die neuen sozialen und politischen Bedingungen haben für junge Menschen neue Mobilisierungsräume geschaffen. Zu sowjetischen Zeiten hatten die Belegschaften (der Kolchosen, Sowchosen, Fabriken usw.), das Milieu auf den Straßen (mit seiner Wertehierarchie und nicht selten mit einem eigenen Jargon) bei der Sozialisierung eine große Rolle gespielt. Für junge Männer spielte der Armeedienst eine Rolle, bei dem viele Russisch lernten, einander Fertigkeiten vermittelten und durch die »Schule« der sogenannten Dedowschtschina gingen, einer künstlich erzeugten sozialen Hierarchie [die mit Hilfe z. T. gewalttätiger Schikanen durchgesetzt wurde; Anm. d. Red.], in der Image und körperliche Kraft eine wichtige Rolle spielten. Durch den Niedergang der Wirtschaft verloren die Belegschaften bald weitgehend ihre Rolle als Sozialisierungsinstitutionen. Zu einem wichtigen sozialen Raum wurde die religiöse Gemeinde, wo Solidarität und gegenseitige Hilfe einen besonderen Platz einnahmen. Im virtuellen Raum spielen die sozialen Netzwerke eine Schlüsselrolle für Mobilisierung. Sportzirkel und -vereine spielen eine gewisse Rolle: Sportler werden nicht selten von politischen Akteuren als militantes Einflussinstrument gegen Opponenten genutzt. Haftanstalten nehmen hinsichtlich der Sozialisierung einen besonderen Platz ein. Dort konnte die Teilhabe an einer gemeinsamen religiösen Identität für den Häftling eine erhebliche Unterstützung bedeuten. Der Staat versucht, die bestehenden Sozialisierungsräume auf jede erdenkliche Art unter seine Obhut zu nehmen. Eine große Bedeutung haben hier die Bildungseinrichtungen. Das Organisieren von Kulturveranstaltungen und die Kontrolle über die Freizeit der Studierenden wird vom Staat als ein wichtiges Element bei der Radikalisierungsprävention wahrgenommen. Allerdings berichten die Studenten, dass die vielen von oben ergehenden Instruktionen gegen Radikalismus und auch die Veranstaltungen zur Unterhaltung der Jugend langweilig seien.

Regionale Besonderheiten

In jeder einzelnen Region des Nordkaukasus sind die Radikalisierungsfaktoren unterschiedlich ausgeprägt. Die höchsten Opferzahlen entfallen auf Inguschetien, Dagestan, Kabardino-Balkarien und Tschetschenien. Diese vier Republiken haben unterschiedliche Verwaltungsstrategien: In Tschetschenien ist ein hoher Zentralisierungsgrad der Staatsgewalt und ein niedriger Mobilisierungsgrad der Opposition kennzeichnend, während in Inguschetien eine schwache Zentralisierung und eine recht aktive Opposition festzustellen sind. Die einzige Region mit überwiegend islamischer Bevölkerung, die ein relativ geringes Niveau an Gewalt bei recht aktiver Opposition aufweist, ist Karatschai-Tscherkessien.

Tschetschenien ist ein Sonderfall. Das Gewaltmonopol liegt in den Händen der tschetschenischen Führung, es fehlt eine Opposition, die salafitische Richtung des Islam ist verboten und der Sufismus wird auf vielfältige Art gefördert. Jede Art von Mobilisierung befindet sich unter der Kontrolle des Kadyrow-Regimes. Die Subventionen aus Moskau ermöglichen große Projekte zur Wiederherstellung der Wirtschaft und der Entwicklungsförderung. Da jedoch legale Wege der Opposition fehlen und die Kaderpolitik zu einer Stagnation in Wirtschaft und Verwaltung führt, sorgt das für Unzufriedenheit bei den ganz jungen Menschen, die sich dann auf den Pfad der Gewalt begeben.

In den anderen Republiken erfolgt ein intensiver Kampf zwischen den unterschiedlichen Akteuren um Ressourcen, Posten, Einflusssphären usw. Die schwierige Anpassung an die neuen Bedingungen ist in erheblichem Maße eine Folge dieses Kampfes. Dabei spielt die unausweichliche Zuspitzung der Beziehungen zwischen den unterschiedlichen sozialen Schichten und Gruppen eine gewisse positive Rolle, insbesondere in den multiethnischen Regionen, wo am ehesten große Konflikte und Gewalt erwartet worden waren (Dagestan, Karatschaj-Tscherkessien). Hier haben sich die zugespitzten Beziehungen nicht aus vereinzelten Konfliktherden zu großflächigen Krisengebieten entwickelt. So haben zum Beispiel nach den Zusammenstößen in Dagestan die Verhandlungen über einen Kompromiss dafür gesorgt, dass hier eine Balance unter neuen Bedingungen hergestellt werden konnte. Sie haben »eine stabilisierende Funktion für das politische System als Ganzes erfüllt«.

Dagestan ist mit einer Bevölkerung von drei Millionen die größte Region des Nordkaukasus. Kennzeichnend für diese Republik ist die große Vielfalt ethnischer Gruppen, die um beschränkte Ressourcen kämpfen. Zu einem gewissen Grad erschwert das eine umfassende Mobilisierung auf der Grundlage einer einzigen ethnischen Gemeinschaft. Die Mobilisierung auf religiöser Grundlage, unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit, spielt wiederum eine sehr viel größere Rolle. Die regionale Regierung zeichnet sich durch eine Unstetigkeit der Strategien in Bezug auf radikale Teile der Gesellschaft aus: Sie reichen von unversöhnlicher Bekämpfung mit Methoden der bewaffneten Staatsgewalt bis hin zu Verhandlungen. In den vergangenen Jahren ist ein Verständnis dafür erkennbar geworden, dass machtstaatliche Methoden nicht geeignet sind, die Gründe für die Zunahme radikaler Elemente in der Gesellschaft zu identifizieren und zu bekämpfen. Es besteht ein ganz erhebliches Missverhältnis hinsichtlich der Präsenz des Staates und seiner Institutionen in der Hauptstadt oder aber in entlegenen Gemeinschaften im Gebirge. Oft wird in der Peripherie bei der Lösung lokaler Probleme den Regeln der Scharia der Vorrang gegeben. 2018 wurde in Dagestan ein neues Republikoberhaupt ernannt, das nicht aus dieser Region stammt; damit sollte die Korruption bekämpft und der Einfluss der lokalen ethnischen Clans beschränkt werden.

In Inguschetien ist eine relativ flexible Haltung gegenüber potentiell radikalen Bevölkerungsschichten zu beobachten. Das Oberhaupt dieser Republik versucht – anders als das Oberhaupt Tschetscheniens – religiöse Vielfalt zu fördern und sucht Kontakte zu gemäßigten salafitischen Gemeinden. In der Republik findet auf vielfältige Art intensive Mobilisierung statt. In letzter Zeit steht diese im Zusammenhang mit Problemen der administrativen Grenze zu Tschetschenien. Die Mehrheit der Bevölkerung hält die Abgrenzung zwischen Inguschetien und Tschetschenien für ungerecht. Die Grenzprobleme haben sowohl im Zusammenhang mit der Westgrenze zu Nordossetien in den 1990er Jahren, wie auch mit der Ostgrenze zu Tschetschenien große Teile der Bevölkerung vereinigt und sind ein Musterbeispiel für Mobilisierung auf ethnisch-nationaler Grundlage.

In Kabardino-Balkarien herrschen zentralisierte Verwaltungsmethoden, die demokratischen Institutionen befinden sich in einem deprimierenden Zustand, gegen eine Privatisierung der landwirtschaftlichen Flächen besteht ein Veto und die Unternehmen in der Region stehen unter der Kontrolle der machthabenden Elite. In diesem Zustand galt die Republik lange Zeit als eine der stabilsten im Nordkaukasus. Diese Lage stand im Kontrast zu den wachsenden sozialen Widersprüchen, der Arbeitslosigkeit (besonders bei jungen Menschen), der Korruption, den klientelistischen Beziehungen, wenn es um den Erhalt sozialer Dienstleistungen geht (Einstellung zur Arbeit, Aufnahme in die Universität, medizinische Leistungen usw.), und der Ungleichheit zwischen verschiedenen Bevölkerungsschichten. Die russischsprachige Bevölkerung verließ die Republik nicht – wie im Fall Tschetschenien – wegen drohender Instabilität und Gewalt, sondern wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage. Angesichts der fehlenden Aussichten auf Arbeit und ein gesichertes Leben entstand allmählich der Boden für eine Radikalisierung junger Menschen, die keine Möglichkeiten für einen Aufstieg, für eine Verwirklichung ihrer persönlichen – vor allem religiösen – Interessen erhalten hatten, und die oft einem Druck seitens der Sicherheitsbehörden ausgesetzt waren.

Die Ereignisse des 13. und 14. Oktober 2005 in Naltschik, der Hauptstadt von Kabardino-Balkarien, wurden zu einem Wendepunkt in der staatlichen Entwicklung dieser Republik. Sie markieren den Übergang in eine neue, wichtige Phase der Beziehungen zwischen einem korrumpierten Staat und einer marginalisierten Gesellschaft. Am 13. Oktober überfielen 217 bewaffnete Kämpfer (überwiegend junge Männer aus Kabardino-Balkarien) Einrichtungen der Sicherheitskräfte der Republik. Nach offiziellen Angaben kamen bei den zweitägigen Kämpfen 92 Kämpfer, 35 Angehörige der Sicherheitskräfte und 14 unbewaffnete Zivilisten ums Leben. Diese Ereignisse kamen für die Sicherheitsbehörden und die einfachen Bürger völlig unerwartet. Ein großer Teil der Kämpfer gehörte zum kabardino-balkarischen Dschama’at, einer örtlichen muslimischen Gemeinschaft, die damals eine Alternative gegenüber jener Gemeinschaft der Gläubigen repräsentierte, die von der »Geistlichen Verwaltung der Muslime« [des etablierten Dachverbandes muslimischer Gemeinden; Anm. d. Red.] kontrolliert wird. Das Dschama’at bestand in der Regel aus jungen Gläubigen, die nach einem »reinen« Islam strebten, ohne die tradierten Rituale. Der Umstand, dass eine derart zahlenstarke Mobilisierung zur Gewalt in dieser relativ ruhigen Republik erfolgte, ist ein wichtiger Indikator für die »schlafende« Aktivität potentiell radikaler Bevölkerungsschichten. Nach den Ereignissen von 2005 und im Grunde bis heute überwiegen gewaltsame Sicherheitsmaßnahmen, um radikale Teile der Gesellschaft zu bekämpfen. In der Republik wurde das bislang einzige Ministerium des Nordkaukasus geschaffen, das die Behörden bei der Radikalisierungs- und Extremismusprävention koordinieren soll.

In Karatschai-Tscherkessien ist der Grad der Spannungen recht groß, insbesondere innerhalb des Staatsapparates. Eine Zuspitzung der Situation erfolgt immer bei Wahlen und führt zu einer Spaltung der Gesellschaft in Anhänger des Regimes und Opposition. Die Vielfalt der strategisch relevanten Gruppen angesichts einer offenen Presse schafft objektiv mehr Möglichkeiten für demokratische Verfahren bei der Regulierung von Konflikten. Allerdings werden neben legitimen Formen einer Lösung strittiger Fragen verbreitet auch informelle oder gar rechtswidrige Methoden eingesetzt. Das ist auch der Grund, warum unter den Einwohnern der Republik die Ansicht besteht, dass in dieser Region eine »nicht gelenkte« Demokratie besteht. Gleichwohl ist das Niveau der Gewalt bei relativ starker Mobilisierung in Karatschai-Tscherkessien recht niedrig.

Schlussfolgerungen

Ein allgemeiner Faktor für die Radikalisierung im Nordkaukasus besteht in den mangelnden Bedingungen zur Integration junger Menschen in das Geflecht der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen. Es ist ein Misstrauen gegenüber den staatlichen Behörden festzustellen, insbesondere gegenüber den Sicherheits- und Justizbehörden (Gerichte, Innenministerium, Staatsanwaltschaften). Einer der Faktoren für die Radikalisierung junger Menschen ist die Überschreitung der Befugnisse durch Angehörige der Sicherheitsbehörden, was zu einem Vertrauensverlust bei der Bevölkerung führt. Ein ernstes Problem war und ist weiterhin die Reintegration ehemaliger Aufständischer in die Gesellschaft. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt gestaltet sich die Rückkehr zu einem normalen Leben für junge Menschen, die im Visier der Sicherheitsbehörden waren und sind, äußerst schwierig. Die Ausweglosigkeit in den Republiken des Nordkaukasus könnte die jungen Menschen zur Migration in andere Regionen Russlands bewegen.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

Lesetipps / Bibliographie

Gunya, Alexey: Land Reforms in Post-Socialist Mountain Regions and their Impact on Land Use Management: A Case Study from the Caucasus, in: Journal of Alpine Research / Revue de géographie alpine, 105.2017, Nr. 1, 7. März 2017; http://rga.revues.org/3563.

Koehler, Jan; Gunya, Alexey; Tenov, Timur: Governing the Local in the North Caucasus, in: Eurasian Geography and Economics, 58.2017, Nr. 5. S. 502–532, 13. Dezember 2017.

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