Der »Fall Golunow«

Von Jens Siegert (Moskau)

Jens Siegert (Moskau)

Anfang Juni geschah in Moskau etwas leider sehr Alltägliches. Dem Investigativjournalisten Iwan Golunow wurden durch die Polizei Drogen untergeschoben, um ihn unter diesem Vorwand zu verhaften. Die Drogengesetzgebung mit drakonischen Strafen für kleinste Vergehen macht so etwas leicht. Doch dann lief es nicht wie sonst immer. Erst gab es eine bis dahin beispiellose öffentliche Solidaritätswelle, der sich recht schnell nicht nur die üblichen Oppositionellen anschlossen, sondern die bald bis weit in kremlnahe Kreise hineinreichte. Dann – das erste belastbare Zeichen, dass hier etwas nicht seinen unter Putin sonst vorgezeichneten Weg geht – entschied ein Gericht, Golunow nicht wie üblich, in Untersuchungshaft zu nehmen, sondern nur unter Hausarrest zu stellen. Alle horchten auf.

Im Laufe des folgenden Wochenendes sprachen sich immer mehr öffentlich bekannte Personen für Golunow aus, darunter zur Verwunderung vieler auch Journalisten und Journalistinnen, die sonst nur das Hohelied der Regentschaft Putins singen, wie Margarita Simonjan, die Chefin der Kreml-Propagandamaschine RT. Bis Montag folgten dann sogar aus dem Parlament (unter anderen die Föderationsratsvorsitzende Walentina Matwijenko) einzelne vorsichtige Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Festnahme. Die berühmten »anonymen Quellen« wussten zu berichten, für den Hausarrest anstelle der Untersuchungshaft sei vom Leiter der Präsidentenadministration Anton Vajno und seinem Stellvertreter Alexej Gromow »grünes Licht« gekommen. Und so rasant ging es weiter. Am Dienstag, einen Tag vor einer angekündigten Demonstration im Moskauer Stadtzentrum, geschah dann das bis dahin Unvorstellbare: Golunow wurde nicht nur freigelassen, nein, alle Anschuldigungen wurden fallen gelassen und zwei Polizeigeneräle mussten gehen, eine Entscheidung, die im höchstzentralisierten Russland dem Präsidenten vorbehalten ist. Putin selbst sagte zehn Tage später auf einer Pressekonferenz am Rande des G20-Gipfels in Osaka, die Verhaftung Golunows sei »einfach nur Willkür« gewesen und müsse »Folgen haben«. Welche genau, ließ er offen.

Ausnahmen bestätigen die Regel

Was war da passiert? Was unterscheidet den Fall Golunow von anderen, ähnlich gelagerten Fällen, wie dem des Theaterregisseurs Kirill Serebrennikow, der fast zwei Jahre unter Hausarrest stand, nun zwar frei ist, gegen den aber immer noch vor Gericht verhandelt wird? Oder des Vorsitzenden von Memorial Tschetschenien Ojub Titijew, dem ebenfalls Drogen untergeschoben wurden und der, was als Glück gilt, gerade zu so vielen Jahren verurteilt wurde, dass er nun, nach dem Urteil und mehr als einem Jahr Untersuchungshaft, auf Bewährung entlassen wurde (aber eben ein verurteilter Drogentäter bleibt)? Oder den unzähligen, in die Tausende gehenden anderen Fällen, die maximal regionale Aufmerksamkeit erregen, solange der Prozess läuft, deren Opfer dann aber in den Straflagern vergessen werden (mit Ausnahme von Menschenrechtsorganisationen natürlich, die lange Listen führen)?

Es scheint inzwischen klar zu sein, dass die Entscheidung, Golunow zu verhaften und Beweise für eine spätere Anklage zu fälschen, auf einer eher untergeordneten Ebene getroffen wurde. Der Grund dürften seine ausführlichen und gründlich recherchierten Reportagen über Korruption nicht nur, aber vor allem in der Moskauer Stadtverwaltung und bei anderen Behörden gewesen sein. Er selbst vermutete bei der ersten Anhörung vor Gericht nach der Verhaftung, seine Reportagen zur russischen Beerdigungsmafia seien der Grund gewesen (https://meduza.io/feature/2018/08/14/grob-kladbische-sotni-milliardov-rubley). Die beteiligten und inzwischen entlassenen Polizeigeneräle waren zwar nicht ganz einflusslos, aber Generäle gibt es viele in Russland und diese hier agierten auf der Ebene einer Bezirkspolizeidienststelle. So etwas geschieht tagtäglich in Russland auf allen Ebenen und allein die dokumentierten Fälle gehen jährlich in die Tausende. Oft werden Drogendelikte fingiert. In selteneren Fällen kommen auch andere Anschuldigungen zum Einsatz. Manchmal, eher selten, gibt es politische Hintergründe, meist aber geht es schlicht um Korruption und Geld, seltener um Rache. In den allermeisten Fällen sind die Opfer hilflos, haben weder Verbindungen nach oben, noch in die Öffentlichkeit.

Im Fall Golunow scheint, nach allem, was wir wissen, »Politik« im engeren Sinn, also ein Auftrag von ganz oben nicht im Spiel gewesen zu sein. Das heißt aber nicht, dass die politische Ebene, und das ist in einem Land fast ohne öffentliche Politik der Kreml, keine Verantwortung für solche Fälle wie Golunow trägt. Eher umgekehrt: Eben weil das alltägliche Praxis ist, liegt diese Verantwortung dafür bei der ansonsten alles bis in die Details bestimmenden politischen Führung. Es ist das unter Putin entstandene System eines räuberischen Staates, einer Symbiose von Verbrechen und Staatsmacht, das solche Praktiken nicht nur fördert, sondern in dem diese Praktiken zum konstitutiven Funktionieren des Machterhalts gehören. Sie fördern Loyalität und erzeugen Abhängigkeit: Jeder und jede Beteiligte kann jederzeit – und zwar in der Regel zurecht – strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Alle machen mit und müssen mitmachen: Minister, Polizeichefs, Militärs, Abgeordnete, alle. Wer diese Regeln nicht einhält, den scheidet das System wie einen körperfremden Virus oder eine Bakterie recht schnell wieder aus.

Normalerweise geht das alles ziemlich reibungslos oder zumindest reibungsarm. Das Zusammenwirken von Polizei, Staatsanwaltschaft, Geheimdiensten, Gerichten und Verwaltung ist so eingespielt, wie man sich das von einer Verwaltung eigentlich nur wünschen kann. Nur eben nicht zum Allgemeinwohl, sondern privatisiert im Interesse dieser Korporationen. Warum hat das also diesmal nicht geklappt? Ich denke, zum einen hatten die Organisatoren des Falls Golunow schlicht Pech. Sie hatten sich zum falschen Zeitpunkt das falsche Opfer ausgesucht. Das hat einerseits etwas damit zu tun, dass Golunow Journalist in Moskau ist (in Moskau, nicht anderswo). Andererseits haben sie aber auch schlicht gestümpert. Das Ganze war zu grob inszeniert, zu offensichtlich. Zwar stört auch das in den allermeisten Fällen, nämlich wenn es keine allzu große öffentliche Aufmerksamkeit gibt, nicht. Oder wenn die Auftraggeber mächtig genug, das heißt eng genug mit dem Kreml verbunden sind. Beides war hier offensichtlich nicht der Fall. Gerade diese Leichtigkeit und Regelmäßigkeit, mit der Leute mittels falscher und gefälschter Anklagen hinter Gitter (und neben der Freiheit oft um ihr Geld oder Vermögen) gebracht werden können, befördert Schlamperei. Warum soll man sich anstrengen, wenn es auch ohne geht?

Aber selbst in den Fällen, in denen es eine öffentliche Kampagne zur Unterstützung der so Angeklagten gibt, ist es bisher noch nie gelungen, jemanden, der oder die in die Fänge der russischen Sicherheitsorgane geraten ist, ohne langes Verfahren oder ohne Verurteilung wieder freizubekommen. Das Mildeste, das diese Unglücklichen bisher erwartete, war eine (meist) lange Untersuchungshaft. Denn erstens wird Untersuchungshaft von den Gerichten fast immer angeordnet, wenn die Staatsanwaltschaft das beantragt (und sie ist, ich erinnere daran, Teil des verbrecherischen Spiels), und zweitens mahlen die Mühlen der russischen Gerichtsbarkeit langsam. Wenn dann der oder die Beschuldigte bekannt oder hochrangig (und also glücklich) genug ist, kann auch schon einmal Hausarrest die Alternative sein. In dieser Zeit wird dann hinter den Kulissen verhandelt und gerungen. In den allermeisten Fällen kommt es selbst bestenfalls zu einer Verurteilung. Die Glücklicheren bekommen eine Haftstrafe, die mit der Untersuchungshaft in Kombination mit den Bewährungsregeln bei Urteilsverkündung abgesessen ist. Die Unglücklicheren verschwinden für Jahre in einem der vielen russischen Gefangenenlager.

Die Hintergründe

Was war nun bei Golunow anders? Ich möchte drei Aspekte hervorheben: Erstens spielte eine Rolle, dass Golunow ein Moskauer Journalist ist. Zum Zweiten leben wir in Zeiten fallender Zustimmung zu Putin und vermehrter Proteste. Und zum Dritten stand die Entscheidung über Russlands Rückkehr in die parlamentarische Versammlung des Europarats vor der Tür.

Zuerst zum Journalistischen. Maxim Trudoljubow, selbst Journalist und einer der aufmerksamsten Beobachter der russischen politischen Szene, schreibt zu den spontanen Solidaritätsdemonstrationen vor dem Moskauer Polizeihauptquartier »Petrowka 38«: »Ich denke, ich habe noch nie so viele Kollegen aus der gesamten Moskauer journalistischen Szene so entschlossen und so fröhlich zugleich an einer Stelle versammelt gesehen.« (https://www.wilsoncenter.org/blog-post/golunovs-case-turns-the-kremlins-pr-its-head?fbclid=IwAR2cBbZpdoH_hrCe3oz6BfzyCwsX4OgnyWO0ye8EsAdM3MoSsfCzddfcIm4) Offenbar hat die Verhaftung von Iwan Golunow hier einen Nerv getroffen, der weit über die offen oppositionellen Journalisten hinaus vorhanden ist. Das mag etwas mit dem tadellosen journalistischen Ruf von Golunow selbst zu tun haben (der zwar vor seiner Verhaftung kein Star war, aber eben als ausgesprochen nüchterner, immer freundlicher und höchst kompetenter Kollege bekannt ist). Es hat aber wohl auch etwas mit »Meduza« zu tun, dem Medium, für das er vorwiegend schreibt. Zwar ist »Meduza« offen oppositionell und die Redaktion sitzt gar im Ausland, im lettischen Riga, aber »Meduza« hat es geschafft, zu derjenigen Website zu werden, die, wie der Moskauer Politologe Kirill Rogow auf seinem Facebook-Account schreibt, »all jene morgens als erstes anschauen, die zwar oppositionell gesinnt sind, aber niemals auf die Straße gehen« (https://www.facebook.com/kirill.rogov.39/posts/3052652731418993). Zur großen Überraschung vieler, vielleicht vieler Journalistinnen und Journalisten an erster Stelle, zeigen die Reaktionen auf den Fall Golunow, dass es wohl doch noch so etwas wie eine verbindende professionelle Ethik gibt. Und ein Bewusstsein, zumindest in Bezug auf den Staat und polizeiliche Willkür, für ein gemeinsames Interesse. Golunow, so die allgemeine Stimmung, hätte jede und jeder sein können.

Wie weit das reicht und ob diese Solidarität, dieses Zusammengehörigkeitsgefühl künftig auch in anderen Fällen abgerufen werden kann, ist schwer zu sagen. Eher nicht. Zwar gab es auch Unterstützung aus eher kremlnahen Medien oder reinen Propaganda-Medien wie RT, sie kam aber recht spät und, soweit ich sehen kann, erst nachdem dieselben Medien zuvor die Version von Polizei und Staatsanwaltschaft mit der in diesen Medien üblichen Häme verbreitet hatten. Besonders hervor sticht der Einsatz von Margarita Simonjan für Golunow. Sie hatte als eine der ersten den Hausarrest anstelle von Untersuchungshaft gefordert und behauptete auf Twitter nach seiner Freilassung, sie sei »zu Tränen gerührt«. Simonjan ist eine der Frontleute der Kremlpropaganda, die unlängst in einem Fernsehinterview bekannte, erst kämen für sie die Interessen des Staates und dann erst die ihrer journalistischen Profession. Da niemand ihr diese fast schon Rosamunde-Pilcher-artigen Emotionen abnimmt, ist sie ein Hinweis darauf, dass der Kreml schon sehr früh umgesteuert hat oder es zumindest entsprechende Signale von dort gab.

Das führt zum zweiten Punkt, der sich seit einiger Zeit sehr behutsam, ganz allmählich, eher untergründig ändernden politischen Landschaft. An der Oberfläche drücken sich diese Änderungen unter anderem in den fallenden Zustimmungsraten zu Präsident Putin aus, die inzwischen bisher kaum gekannte Tiefen erreicht haben. Hier nur ein Beispiel: Eine Umfrage des kremlnahen Instituts WZIOM ergab vor einem guten Monat, dass nur noch gut 30 Prozent der Menschen in Russland »Vertrauen« in Putin hätten. Nach einer Intervention aus dem Kreml (wohl, weil nicht sein kann, was nicht sein darf) wurden die Menschen mit einer umformulierten Frage noch einmal um ihre Meinung gebeten. Und siehe da, es sind angeblich doch knapp 70 Prozent der Menschen in Russland, die Putin »vertrauen« [Die Umfragen sind in den Russland-Analysen 372, S. 24–28, verfügbar – Anm. d. Red.]. Dieser Vorgang zeigt zweierlei: Zum einen, wie schlecht die Lage (für Putin) tatsächlich und zum zweiten, wie nervös der Kreml ist. Solche Fehler sind früher nicht passiert.

Ein weiterer Indikator der veränderten Lage ist die Protestbereitschaft. Zwar gibt es schon länger eine Unzufriedenheit mit der Politik des Kremls, vor allem wegen der sich seit nun schon 10 Jahren hinziehenden und nicht enden wollenden Wirtschaftskrise mit sinkenden Reallöhnen. Aber die Bereitschaft, deswegen auf die Straße zu gehen, blieb all die Jahre gering. Bis auf kurzzeitige Ausreißer zu konkreten Anlässen antworteten bei Umfragen des unabhängigen »Lewada«-Zentrums durchschnittlich 13 Prozent positiv auf die entsprechende Frage. Dann kündigte der Kreml 2018, während der Fußballweltmeisterschaft im Land, eine Rentenreform und eine erhebliche Heraufsetzung des Rentenalters an. Die Hoffnung war wohl, die WM-Euphorie werde den Menschen die unpopuläre Pille Rentenreform weniger bitter erscheinen lassen. Doch diese Rechnung ging nicht auf. Die Protestbereitschaft stieg binnen kurzem auf 30 Prozent. Die Rentenreform wurde halbwegs zurückgenommen, aber die Proteststimmung blieb weiter hoch und sank nicht wieder, wie früher immer, auf ihren langjährigen niedrigen Wert zurück.

Inzwischen gibt es an vielen Orten im Land, längst nicht mehr nur in Moskau und St. Petersburg, Proteste. Meist haben die Proteste inzwischen eher sozialen als politischen Charakter. Oft richten sie sich gegen direkte Eingriffe in die unmittelbaren Lebenswelten der Menschen. Das gilt für die sogenannten Müllproteste in der Region Archangelsk ebenso, wie den Protest gegen den Bau einer Kathedrale in einem zentralen Park der Ural-Metropole Jekaterinburg. Auffallend ist, in wie vielen Fällen diese Proteste in den vergangenen Monaten zumindest zeitweise oder teilweise Erfolg gehabt haben. Zwar wurde fast überall von den Behörden versucht, die Proteste als »politisch« motiviert zu diskreditieren. In den allermeisten Fällen ist es auch zu Versammlungsverboten, mitunter zu Rangeleien mit der Polizei und auch Verhaftungen gekommen. Aber sehr oft haben die staatlichen Stellen zurückgezogen, wenn ihnen klar wurde, dass die Proteste größeren Rückhalt in der Bevölkerung haben. Hier zeigt sich deutlich das Bemühen, Proteste nicht aus dem Ruder laufen zu lassen, also keine »Märtyrer« zu schaffen, die dann zu Kristallisierungspunkten für neue Proteste werden können. Nawalnyj ist hier wahrscheinlich Warnung. Es ist nicht ausgeschlossen, dass solche Überlegungen auch im Fall Golunow eine Rolle gespielt haben.

Der dritte Punkt, den ich ansprechen möchte, ist der Europarat. Die Verhaftung Golunows fand sofort ein auch international großes Echo. Anfang Juni war aber ebenfalls bereits klar, dass die Sitzung der parlamentarischen Versammlung des Europarats Ende des Monats eine entscheidende Rolle in der Frage spielen würde, ob die russischen Abgeordneten dorthin zurückkehren dürfen oder nicht. Ein sich länger hinziehender Skandal hätte die jahrelangen Bemühungen des Kremls um Rückkehr seiner Parlamentarier – ohne dabei nennenswerte Kompromisse eingehen zu müssen –, gefährden können.

Kein Kurswechsel

Natürlich sind das alles nur mehr oder weniger begründete Vermutungen. Was tatsächlich zum so schnellen und bedingungslosen Rückzieher des Kremls geführt hat, wird wahrscheinlich ein Geheimnis bleiben. Auch wird sich kaum klären lassen, was zuerst war, ob also die unerwartet heftigen und breiten Proteste dazu geführt haben, dass im Kreml schnell über ein Nachgeben nachgedacht wurde oder ob die von oben offenbar recht früh kommunizierte Möglichkeit eines Rückziehers erst diese Breite ermöglicht hat, weil sich dann viele Leute aus der Deckung gewagt haben, die das normalerweise nicht tun. Aller Wahrscheinlich nach waren das zwei sich wechselseitig verstärkende Bewegungen. Im Kreml wurde offenbar recht früh klar, dass sich dieser Fall schwieriger würde verteidigen lassen als andere und deshalb ein Ende mit Schrecken einem Schrecken ohne Ende vorzuziehen sei.

Wie die Folgeereignisse zeigten, war der Rückzieher auch längst nicht so bedingungslos, wie hier bisher dargestellt. Man sollte es wohl auch eher eine Frontbegradigung als einen Rückzieher nennen. Die Kremlversion, der Putin in Osaka nun öffentlich seinen höchsten Segen gegeben hat, lautet etwa so: Untergeordnete Beamte haben über die Stränge geschlagen. Wir, der Kreml, kämpfen schon lange gegen Korruption. Die Schuldigen werden entlassen und bestraft. Sache erledigt. Dahinter steht natürlich auch das Wissen, dass es aber eben genau so nicht ist, dass der Fall Golunow also keine bedauernswerte Ausnahme, sondern die Regel ist, eine, auf der das System aufbaut. Aber genau das macht ihn, aus Kremlsicht zumindest, so gefährlich. Insofern zeigt die schnelle und bisher beispiellose Kremlreaktion aber auch, dass das politische System weiterhin beweglich genug ist, auf neu auftauchende Bedrohungen seiner Macht aktiv und unerwartet zu reagieren.

Wie das harte Polizeivorgehen schon auf der Demonstration in Moskau am 12. Juni gezeigt hat (nach Angaben der Polizeibeobachter von »OWD-Info« wurden von wohl kaum mehr als 2.500 Demonstranten über 500 festgenommen), gehört hierzu auch, in anderen Fällen die gewohnte, künftig vielleicht gar mehr Härte zu zeigen. Weitere Repressionen gegen jeglichen auch nur einigermaßen ernsthaften Protest werden sicher folgen. Auch neue, noch repressivere Gesetze sind nicht ausgeschlossen. Wahrscheinlich werden andere dafür büßen müssen, dass Golunow so schnell und so bedingungslos wieder freigekommen ist. Das ändert aber nichts daran, dass der Fall auch gezeigt hat, dass es durchaus Risse im System gibt.

Jens Siegert lebt seit 1993 in Moskau. Er war Korrespondent, hat mehr als 15 Jahre das Moskauer Büro der Heinrich-Böll-Stiftung geleitet und bemüht sich seit einigen Jahren, im Auftrag der EU Public Diplomacy in und mit Russland zu fördern.

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