Iran im Karabach-Krieg: Ein wichtiger Outsider

Von Zaur Gasimov (Abteilung für Osteuropäische Geschichte, Universität Bonn)

Irans Beziehungen zu Armenien und Aserbaidschan

Die Islamische Republik Iran hat eine gemeinsame Grenze mit Armenien und Aserbaidschan und ist ein aufmerksamer Beobachter der armenisch-aserbaidschanischen Beziehungen. Bergkarabach ist nur vierzig Kilometer von der iranischen Grenze entfernt. Der Ausbruch der kriegerischen Auseinandersetzungen am 27. September 2020 fand somit in unmittelbarer Nähe zum iranischen Staatsgebiet statt. Die größte Herausforderung für die Regierung in Teheran bestand dennoch nicht in der Tatsache, dass in der ersten Oktoberwoche einige Raketen fälschlicherweise auf dem iranischen Territorium landeten und Sachschäden anrichteten. Von viel größerer Bedeutung sind die neuen Dynamiken im armenisch-aserbaidschanischen Kräfteverhältnis, die innenpolitische und interethnische Komponente im Iran selbst und die internationale Dimension des Konflikts.

Seit dem ersten Karabach-Krieg 1992 bis 1994 hat Iran eng mit Armenien kooperiert, wohingegen die Beziehungen zwischen Teheran und Baku äußerst angespannt gewesen sind. Dass die überwiegende Mehrheit der Aserbaidschaner Schiiten und der Armenier Christen sind, hat trotzdem nicht dazu geführt, dass die ebenfalls mehrheitlich schiitische Theokratie Iran den Standpunkt Aserbaidschans in diesem Konflikt unterstützte. Von Pragmatismus und geopolitischen Interessen geprägt, pflegte Teheran eher enge Beziehungen zu Russland. Zudem sagte die prorussische außenpolitische Orientation Armeniens der iranischen Staatsraison zu.

Im Zuge des Krieges verlor Baku die Kontrolle über die Enklave Bergkarabach und die Bezirke südlich und westlich von Karabach, darunter ein erheblicher Teil der aserbaidschanisch-iranischen Staatsgrenze. Die nördlichen Provinzen Irans, die Entitäten (ostanha) West- und Ost-Aserbaidschan, sind aus ethnisch-sprachlicher Sicht aserbaidschanisches Siedlungsgebiet. Die turkophonen Aserbaidschaner mit ca. 15 Millionen Menschen bilden die absolute Mehrheit der Bevölkerung Nordirans und beinahe die Hälfte der Hauptstadt Teheran.

Der ethnisch aserbaidschanische Separatismus im Iran hat seine Vorgeschichte: 1941 bis 1946 waren die Gebiete von der Roten Armee besetzt und faktisch sowjet-aserbaidschanisch bestimmt. 1992 bis 1993 verschlechterten sich die iranisch-aserbaidschanischen Beziehungen, als die russland- und irankritische Volksfront um den Präsidenten Abulfaz Elçibey in Baku an der Macht war. Im Laufe der 1990er Jahre blickten Iran und Aserbaidschan mit Misstrauen aufeinander. Baku zog westliche Ölförderungsunternehmen an, nahm diplomatische Beziehungen zu Israel auf und entwickelte eine intensive Zusammenarbeit mit Ankara und Tel-Aviv. Die religionskonservativen Aktivisten, die den politischen Islam propagierten, enge Kontakte zum Klerus im Iran unterhielten bzw. im iranischen Qum ausgebildet worden waren, wurden von Baku verfolgt. Dieses positionierte sich als weltliche Republik und führte trotz der Proteste aus dem Iran den Eurovision Song Contest 2012 durch.

Für Armenien, dessen Grenzen zur Türkei und Aserbaidschan geschlossen sind, war Iran die einzige sichere Pforte zur Außenwelt. Denn die armenisch-georgischen Beziehungen blieben angespannt, Tbilisi betrachtete die prorussische Orientierung Armeniens mit Misstrauen. Des Weiteren fürchtet Georgien den armenischen Separatismus in der Provinz Dschawacheti und ist durch zahlreiche Gas- und Öl-Pipeline-Systeme mit Armeniens Rivalen, der Türkei und Aserbaidschan, verbunden.

2007 wurde der erste Teil der 2004 vereinbarten armenisch-iranischen, 140 Kilometer langen Gaspipeline eröffnet. Teheran ist ein wichtiger Energielieferant Armeniens und finanzierte mehrere Infrastrukturprojekte, um den Personen- und Warenverkehr zu erleichtern. Im letzten Jahrzehnt ist die Zahl der Touristen aus dem Iran rapide gestiegen, denn im Juni 2016 wurde die Visumpflicht zwischen Armenien und dem Iran aufgehoben.

Baku hielt sowohl an der Visumpflicht mit Iran wie auch an der engen, multidimensionalen Zusammenarbeit mit dem NATO-Mitglied Türkei und dem Staat Israel fest. Beide Länder spielten eine entscheidende Rolle bei der Professionalisierung und Modernisierung der aserbaidschanischen Streitkräfte und der Sicherheitskräfte.

Iran aktiviert seine Außenpolitik als Reaktion auf den Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan

Der Ausbruch der kriegerischen Auseinandersetzungen an der armenisch-aserbaidschanischen Frontlinie Ende September 2020 stellte eine Überforderung für die iranische Staatsführung dar. Diese hing vermutlich mit der Annahme zusammen, dass die Streitigkeiten wie 2016 oder auch im Juli dieses Jahres kurzlebig sein und ohne tiefgreifende Auswirkungen auf das Kräfteverhältnis bleiben würden. Teheran rief beide Seiten zum Frieden auf und bot seine Vermittlung an. Der Einsatz von Unmanned Aerial Vehicles (UAV) und Hightech-Drohnen ermöglichte den aserbaidschanischen Streitkräften die Oberhand an der Front zu erlangen. Zudem unterstützte Ankara Baku – anders als während des Krieges 1992 bis 1994 – auf dem internationalen Parkett. Die Erfolge Bakus lösten mehrtägige Solidaritätskundgebungen unter den iranischen Aserbaidschanern in Tabriz, Ardabil und anderen Städten aus. Viel Aufmerksamkeit erntete die Behinderung eines russischen Konvois über das iranische Territorium nach Armenien.

Am 1. Oktober folgte ein gemeinsames Manifest, das von vier hochrangigen Klerikern aus den iranischen Nordprovinzen unterzeichnet wurde, die die Zugehörigkeit Bergkarabachs zu Aserbaidschan verkündeten. Die Dynamiken im armenisch-aserbaidschanischen Kräfteverhältnis und die Proteste der iranischen Aserbaidschaner führten dazu, dass Iran seine Außenpolitik in der Karabach-Frage aktivierte. Dies könnten angesichts der sich durch das Sanktionsregime und die Pandemie radikal verschlechterten Wirtschaftslage ein größeres und gewalttätiges Potential entwickeln.

Iran stellt seinen eigenen Friedensplan vor und kritisiert den Westen

Teheran verkündete Anfang Oktober die Vorbereitung eines Lösungskonzepts, kritisierte die bisherige Tätigkeit der Minsker Gruppe der OSZE und insbesondere die Rolle der Staaten, die »weit entfernt von der Region« liegen. Es ist naheliegend, dass Teheran dies als eine Chance ergriff, seine Kritik am Westen generell und an den USA im Besonderen auszuüben. Im öffentlichen Diskurs warfen iranische Politiker dem Westen vor, er habe den Konflikt jahrzehntelang nicht gelöst und somit sogar zu seinem Fortbestand beigetragen.

Iran stellte seinen Friedensplan vor, der von der Prämisse der territorialen Integrität und der Wahrung der internationalen Grenzen ausging. Zudem erkannte er die Zugehörigkeit von Bergkarabach zu Aserbaidschan an. Gleichzeitig postulierte er auch indirekt die Wahrung der eigenen territorialen Integrität, was für den multiethnischen Iran mit der staatstragenden persischen Titularnation, die knapp die Hälfte der Bevölkerung ausmacht, lebenswichtig ist. Iran bot seine Hauptstadt als Ort für Friedensverhandlungen an und schlug Gespräche im Format 3+3 vor. Neben Armenien, Aserbaidschan und Georgien sollten die Türkei, Russland und der Iran teilnehmen. Die Hauptstoßrichtung des Friedensplans ist die Regionalität: Die Länder der Region sollten nach dieser Logik Konflikte innerhalb der Region eigenständig und ohne Einmischung von außen lösen. Irans stellvertretender Außenminister Abbas Araghchi reiste vom 29. bis 31. Oktober nach Baku, Moskau, Jerewan und Ankara. Während er sich in der Türkei und Russland mit den Vizeaußenministern traf, wurde er in Baku und Jerewan auf höchster Ebene empfangen. Ayatollah Khamenei sprach das Thema Karabach in seiner Rede am 3. November an und bestärkte Irans Bereitschaft zu vermitteln. Er betonte dabei die Wichtigkeit der territorialen Integrität im Allgemeinen, die Zugehörigkeit Karabachs zu Aserbaidschan und die Bedeutung der Sicherheit der armenischen Minderheit im aserbaidschanischen Staatsverbund in der Zukunft. Alle Beteiligten priesen Irans Friedensinitiative, allerdings wurde nicht mehr daraus.

Iran teilt den russischen Standpunkt, dass die westliche Präsenz im Kaukasus minimiert werden sollte und versuchte das syrische Modell auf den armenisch-aserbaidschanischen Konflikt anzuwenden. Teheran hoffte darauf, dass die Minsker Gruppe mit ihren drei Ko-Vorsitzenden Russland, Frankreich und der USA durch die türkisch-russisch-iranische Troika ersetzt werden würde. Vorbild war dabei die Ablösung des Genfer Formats im Syrien-Konflikt durch den Astana-Prozess.

Iran begrüßt den von Russland vermittelten Waffenstillstand und beäugt die Türkei kritisch

Am 10. November 2020 kam es zur virtuellen Unterzeichnung des armenisch-aserbaidschanischen Waffenstillstandes und der Entsendung von fast 2000 russischen Soldaten nach Karabach zur Friedenssicherung. Das Format der Minsker Gruppe scheint damit passé zu sein, da Russland eigenständig agierte. Teheran begrüßte die russische Initiative und bot wiederholt seine Vermittlung, vor allem hinsichtlich der Punkte drei und vier des Abkommens, an. Mit Misstrauen beäugt Teheran das türkische Engagement in der Region, besonders die von Baku favorisierte Idee des russisch-türkischen Monitoring Centers. Bereits am 11. November warf die konservative iranische Tageszeitung »Ettelaat« Baku vor, sich nicht für die »Palästinenser-Frage« einzusetzen. Die iranische Seite betrachtet die russisch-türkische Zusammenarbeit und die Ausbreitung des türkischen Einflussbereiches mit Besorgnis: Besonders fürchtet Teheran sich vor einer Ausweitung des türkischen Einflusses auf die eigene turkophone Bevölkerung in den Nordprovinzen wie auch im Nordwesten des Landes, die sich bereits seit Jahren empfänglich für die türkische Softpower und Pop-Kultur zeigt.

Trotz der Sanktionen konnte Iran den Rückzug der USA aus dem Nahen Osten zu seinen Gunsten nutzen. Teheran konnte sich vor allem in der schiitischen Welt von Libanon bis hin nach Jemen positionieren. Besonders erfolgreich war Iran dabei in Syrien und Irak. Seine Interessen sind mit denen Russlands und der Türkei nicht deckungsgleich, mit der Türkei oft sogar konträr. In einigen essenziellen Punkten erreicht Teheran jedoch Konsens mit Ankara und Moskau. Die Türkei, vor allem aber der Iran und Russland, sind daran interessiert, den westlichen Einfluss im Nahen Osten zu minimieren. Für alle drei ist dabei die territoriale Integrität Syriens und Iraks von enormer Signifikanz. Für Iran sind die Türkei und Russland wichtige Wirtschafts- und Handelspartner. Die Türkei gehört unter den wenigen Länder, die die Iraner visumsfrei besuchen können, zu den beliebtesten Urlaubs- und Shopping-Zielen. Russland entwickelte sich zudem zur Schutzmacht Irans auf internationalem Parkett, nicht zuletzt mit seinem Vetorecht im UN-Sicherheitsrat. Die Türkei und Iran sind wichtige Abnehmer für russische Waffentechnologien und Raketenabwehrsysteme. Zudem erhoffen sich Ankara und Teheran eine Zusammenarbeit mit Moskau bei der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie. Der Karabach-Krieg in diesem Herbst zeigte jedoch, dass Teheran sich auf diesem Terrain schlechter auskennt als mit der Levante oder der Golfregion. Trotz aktiver Diplomatie blieb Iran ein Outsider.

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Analyse

Postsowjetische De-facto-Regime

Von Andreas Heinemann-Grüder
Weltweit gibt es circa 25 De-facto-Regime, fünf davon im postsowjetischen Raum: Abchasien, Südossetien, Transnistrien, Bergkarabach und den russisch kontrollierten Donbas. De-facto-Regime resultieren aus einer Pattsituation. Das »Mutterland« ist dabei nicht mehr in der Lage, die Souveränität über die Bevölkerung und das Territorium des De-facto-Regimes auszuüben, während ein Patron das Überleben sichert und es faktisch, bisweilen auch de jure, anerkennt. Die Gewalt schwelt über längere Phasen mit geringer Intensität, periodisch flammt sie wieder auf, um die Eskalationsbereitschaft des Gegners zu testen. Jenseits der Bewahrung des Status quo wird von der internationalen Gemeinschaft kaum in Konfliktregelung investiert. (…)
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