Einführung
Die Digitalisierung der Diplomatie hat mit bemerkenswerter Geschwindigkeit Fortschritte gemacht. Im Laufe von weniger als einem Jahrzehnt haben Außenministerien »virtuelle Botschaften« aufgebaut, in den sozialen Medien Imperien geschaffen, eigene Algorithmen geschrieben und Smartphone-Apps entwickelt. 90 Prozent der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen haben eine digitale Präsenz aufgebaut. Einige investieren in Kampagnen in den sozialen Medien, andere entscheiden sich zur Analyse von Big Data, um schädliches Online-Verhalten zu überwachen.
Die Forschung unterteilt die Digitalisierung der Diplomatie in drei Phasen. Die erste währte von 2008 bis 2011, sie war von unterschiedlichen Herangehensweisen gekennzeichnet. So schuf beispielsweise das schwedische Außenministerium eine »virtuelle Botschaft« in der digitalen Welt von Second Life. Diese Botschaft sollte als globale Kulturinstitution dienen, da Internetnutzer aus aller Welt dort schwedische Filmfestivals besuchen oder schwedischen Künstlern begegnen konnten. Die USA richteten eine »virtuelle Botschaft« für Iran ein. Dieses Internetportal sollte die bestehenden Beschränkungen für Offline-Diplomatie überwinden und US-Diplomaten in die Lage versetzen, sich trotz fehlender bilateraler Verbindungen mit Iranern auszutauschen. Die zweite Phase begann nach dem Arabischen Frühling 2011. Diese Revolutionen kamen für die Diplomaten überraschend. Ihnen war es nicht gelungen, den Sturz der arabischen Autokratien vorherzusehen. In der Folgezeit setzten die Außenministerien auf einen Online-Dialog mit der Bevölkerung im jeweiligen Land und darauf, den Online-Diskurs aufmerksam zu verfolgen. Durch ein Monitoring der lokalen Kommunikation in den sozialen Medien hofften die Diplomaten, zukünftige Erschütterungen des internationalen Systems im Voraus erkennen zu können.
Der Arabische Frühling machte die Verbindung zwischen Online- und Offline-Diplomatie deutlich. Der Einsatz digitaler Instrumente der Diplomatie wurde durch Offline-Revolutionen geprägt, während Online-Instrumente genutzt wurden, um das Offline-Geschehen zu antizipieren. Die dritte Phase der Digitalisierung der Diplomatie begann 2014 mit der Annexion der Krim durch Russland. Das Vorgehen Russlands im Internet von 2014 bis 2016 hat die Entwicklung der Digitalisierung dramatisch verändert. Während der Krise setzte Russland Internetseiten mit Fake News ein, um zu behaupten, ukrainische Nationalisten würden das Leben der russischen ethnischen Minderheit bedrohen. Nachrichtenportale streuten Behauptungen, Ukrainer würden auf der Krim Frauen vergewaltigen und kleine Kinder kreuzigen. Das brachte Außenministerien dazu, soziale Medien als eine Wettkampfarena zu betrachten, in der Diplomaten um die Aufmerksamkeit digitaler Öffentlichkeiten buhlen, in der Hoffnung, deren Ansichten zu beeinflussen.
Beim Brexit-Referendum setzte Russland ein Netzwerk von Tausenden gefälschter Accounts in den sozialen Medien ein, um Botschaften zugunsten des Brexits zu verbreiten. Die Wirksamkeit dieses Vorgehens ist zwar umstritten. Doch es legt nahe, dass digitale Desinformation das individuelle Offline-Verhalten beeinflussen könnte. Personen, die potenziell für den Brexit stimmen würden, könnten angesichts einer verzerrten Online-Realität (in der anscheinend Hunderttausende Bürger des Vereinigten Königreichs verkündeten, die EU verlassen zu wollen), dadurch in die Stimmlokale gerauscht sein. In der Folge schuf das britische Außenministerium eine Abteilung zur Datenanalyse, die Desinformationskampagnen in den sozialen Medien überwachen und dagegen vorgehen soll. Netzwerke wie Twitter und Facebook, mit denen einst die Demokratiebestrebungen des Arabischen Frühlings assoziiert wurden, sind nun zur Gefahr für die nationale Sicherheit erklärt worden.
Russlands Einsatz von Facebook-Werbeanzeigen schließlich, mit denen versucht wurde, die Präsidentschaftswahlen 2016 in den USA zu beeinflussen, brachte die Außenministerien dazu, proaktiv gegen unlautere Inhalte in den sozialen Medien vorzugehen. Das israelische Außenministerium hat eigene Algorithmen entwickelt, mit denen antisemitische Facebook-Einträge gefunden und entfernt werden können, die zu Gewalt gegen Juden aufrufen. Das Vorgehen Russlands im Internet hat also Außenministerien dazu gebracht spezifische Technologien einzusetzen, um spezifischen Gefahren für ihre Nation entgegenzutreten.
Russlands offizieller Einsatz digitaler Diplomatie hingegen verlangt nach einer näheren Betrachtung. In diesem Beitrag illustriere ich anhand zweier Fallstudien, wie russische Diplomaten soziale Medien einsetzen, um bestimmte diplomatische Ziele zu erreichen. Die erste Fallstudie untersucht den Einsatz von Twitter durch die russische Botschaft im Vereinigten Königreich. Die zweite beleuchtet den Einsatz von Geschichtsnarrativen durch das russische Außenministerium, um Weltanschauungen zu beeinflussen. Abschließend werden der Nutzen und die Grenzen von Russlands offiziellem Einsatz sozialer Medien beleuchtet.
Russland im Vereinigten Königreich
Seit 2014 hat die russische Botschaft im Vereinigten Königreich auf Twitter konsequent einen scharfen und satirischen Ton angeschlagen. Im Dezember 2016 wurde ein bezeichnender Tweet veröffentlicht (https://twitter.com/RussianEmbassy/status/814564127230271489). Er enthielt das Bild einer Ente mit der Aufschrift »lame« [Als lame duck – »lahme Ente« – werden in den USA Präsidenten gegen Ende der zweiten Amtszeit bezeichnet, die kurz vor dem Ausscheiden aus dem Präsidentenamt an Popularität und Macht verlieren, Anm. d. Redaktion]. Der Tweet lautete: »Präsident Obama weist in einem déjà vu von Kaltem Krieg 35 russische Diplomaten aus. Werden wie jedermann, einschließlich [des] amerikanischen Volkes, froh sein, den Abgang dieser unglückseligen Adm[inistration] zu erleben.«
Auf den ersten Blick mag dieser Tweet undiplomatisch erscheinen. Wenn es die Aufgabe der Diplomatie ist, in internationalen Angelegenheiten die Ruhe zu bewahren, dann negierte Russlands grobe Attacke gegen Präsident Obama grundsätzlich den Geist und die Funktion von Diplomatie. Gleichwohl war dieser Tweet in Wirklichkeit ein raffiniertes rhetorisches Instrument, das eine Reihe Botschaften enthielt. Die erste war, dass Präsident Obama »lahm« ist. Diese Botschaft war für alle Twitter-Nutzer klar, ganz gleich, wie gebildet oder wie vertraut mit der US-amerikanischen Politik sie sind. Die zweite Botschaft besagt, dass Obama eine »lahme Ente« ist, also ein machtloser Präsident ohne Kraft und Einfluss. Es könnte auch die Versicherung enthalten sein, dass Obama einer bedeutungslosen Vergangenheit angehöre, während Russland in Zukunft bedeutend sei. Mit anderen Worten: Russland ist ein gewichtiger global Player, der Obamas Präsidentschaft überdauern werde.
Schließlich gibt der Tweet zu verstehen, dass russische Diplomatie für gewöhnliche Menschen klar und eingängig ist. Anders als andere Nationen, die sich hinter langen diplomatischen Stellungnahmen voll Doppeldeutigkeiten und gemäßigten Worte verstecken, spricht Russland sich klar und deutlich aus.
Ein zweiter bemerkenswerter Tweet wurde auf dem Höhepunkt der Spannungen zwischen Russland und dem Vereinigten Königreich platziert, als die britische Regierung Vorwürfe äußerte, Russland habe ein Nervengift eingesetzt, um auf den ehemaligen Doppelagenten Sergej Skripal in der englischen Stadt Salisbury einen Anschlag zu verüben. Der Tweet enthielt ein Bild des TV-Inspektors Hercule Poirot, dargestellt von dem britischen Schauspieler David Suchet (https://twitter.com/russianembassy/status/975309334191230977). Der Text lautete: »Angesichts fehlender Beweise brauchen wir unbedingt Poirot in Salisbury!« In diesem Fall setzte die Botschaft auf Satire, um eine klare Botschaft zu transportieren, nämlich, dass es den britischen Ermittlungen an Kompetenz mangele, die Anschläge in Salisbury zu untersuchen. Mit dem Verweis auf die literarische Kultfigur signalisierte die russische Botschaft auch, dass die Untersuchungsergebnisse der britischen Behörden ebenso fiktiv seien wie der belgische Detektiv. Zudem könnte die Botschaft mit dem Verweis auf Poirot versucht haben, den Verdacht von Russland abzulenken, da in den Poirot-Romanen oft derjenige am Ende der Täter ist, der anfangs am wenigsten in Frage kam. Und in der Tat behaupteten nichtstaatliche russische Internetquellen, dass die Ukraine hinter dem Anschlag stehe, um damit die russisch-britischen Beziehungen zu beeinträchtigen. Schließlich war dieser Tweet vor allem auf das digitale britische Publikum zugeschnitten, da er mit zwei britischen Berühmtheiten arbeitete, der Autorin Agatha Christie und den beliebten Fernsehfilmen mit Poirot.
Im Laufe der letzten sieben Jahre hat die russische Botschaft über 60 satirische Tweets veröffentlicht, die im Ton alle den oben erwähnten ähnelten: Sie kombinieren rustikale Sprache mit Humor. Die Frage ist nun, ob die Botschaft durch diese Tweets irgendwelche konkreten diplomatischen Ziele erreichen konnte. Einerseits haben sich satirische Tweets dieser Art viral verbreitet und sind von Hunderttausenden Twitter-Nutzern geteilt worden. Dadurch konnte die Botschaft online neue Zielgruppen und Follower für sich gewinnen. Zudem haben die Tweets die Aufmerksamkeit der Printmedien gefunden. Mehrere Zeitungen haben die russischen Tweets abgedruckt und dabei argumentiert, sie seien ein Affront gegen die Diplomatie. Durch diese Zeitungsartikel konnte Russland auch offline sein Publikum erreichen. Sie versetzten die Botschaft zudem in die Lage, britische Anschuldigungen, dass Russland hinter dem Anschlag stecke, anzufechten. Andererseits vermochten die Tweets nicht die Kluft zwischen den beiden Regierungen zu verringern; sie haben die Wahrnehmung jener britischen Twitter-Nutzer nicht verändert, die Russland immer noch als Gefahr für die nationale Sicherheit betrachten.
Russische Geschichtsnarrative
Auf der Ebene des Außenministeriums behandeln russische Tweets oft historische Ereignisse. Dass in der digitalen Diplomatie die Vergangenheit auch Gegenwart ist, erscheint wenig überraschend. Viele Nationen, in deren Geschichte es Schönheitsfehler gibt, nutzen soziale Medien, um das Image der Nation zu pflegen. Ein Beispiel ist hier das litauische Außenministerium, das einiges an Ressourcen investiert hat, um Anschuldigungen zurückzuweisen, Litauer seien eifrige Unterstützer des Nazi-Regimes und an den Gräueltaten der Nazis gegen Juden beteiligt gewesen. Das Moralische spielt in der Online-Diplomatie eine bedeutsame Rolle, denn Normen und Werte sind in der traditionellen Diplomatie von großer Bedeutung. Nationen, mit denen negative Werte wie Rassismus oder Verletzung der Menschenrechte assoziiert werden, haben es schwer, multilaterale Koalitionen zu bilden, in UN-Foren wie den Menschenrechtsrat gewählt zu werden oder ausländische Direktinvestitionen (ADI) anzuziehen.
Viele russische Tweets konzentrieren sich auf den Zweiten Weltkrieg und Russlands historischer Rolle bei der Niederringung des Nationalsozialismus. Ein im Februar 2021 veröffentlichter Tweet lautete: »Im Februar 1943 starteten ukrainische Nationalisten, angeführt von Stepan Bandera, einen Feldzug, um die #polnische Bevölkerung in der westlichen #Ukraine zu vernichten. Während der »Massaker in Wolhynien« 1943–1944 wurden über 100K Menschen, darunter Frauen, Kinder & Alte, brutal ermordet« (https://twitter.com/mfa_russia/status/1359240349407969281). Einige Monate zuvor, im Oktober 2020, veröffentlichte das russische Außenministerium einen Tweet, der an die sogenannte Kyjiwer Offensive 1943 erinnerte und lautete: »Vor 76 Jahren hat die #Rote Armee, Millionen Russen, Ukrainer, Weißrussen, Kasachen & andere Völker der #UdSSR die sowjetische #Ukraine vollständig von den Nazi-Aggressoren & Besatzern befreit, und auch von den regulären Truppen der Kollaborateure #WeRemember [wir erinnern]« (https://twitter.com/EmbassyofRussia/status/1321451074570563585). In beiden Fällen verwendete das Außenministerium einige schwarzweiße Fotografien, die Soldaten der Roten Armee bzw. polnische Opfer der ukrainischen Aggression zeigen.
Diese Tweets sind bemerkenswert, weil sie Russlands Einsatz von Geschichtsnarrativen in Bezug auf aktuelle Ereignisse illustrieren. Während der Krimkrise 2014 argumentierte die russische Regierung, ukrainische Nationalisten hätten einen Staatsstreich begangen und den rechtmäßig gewählten Präsidenten gestürzt. Russland ging sogar so weit zu behaupten, dass in der Ukraine nun Neonazis an der Staatsspitze wären. Die erwähnten beiden Tweets sollten dieses Argument stützen, indem beide behaupten, ukrainische Nationalisten hätten für ihre Zwecke schon immer auf schreckliche Gewalt zurückgegriffen, während Russland sich traditionell in seinem entschlossenen Kampf gegen den Faschismus solchen Nationalisten entgegengestellt habe. Das sei auch auf der Krim der Fall gewesen, als ukrainische Nationalisten – dem russischen Außenministerium zufolge – das Leben ethnischer Minderheiten bedrohten. In dieser Sichtweise war die Annexion der Krim durch Russland eine humanitäre Mission. Darüber hinaus befände sich Russlands Politik auf der Krim in einer Linie mit dem russischen Widerstand gegen den Faschismus. Wie einst die westliche Ukraine bei der Kyjiwer Offensive wäre die Krim von der »Roten Armee« nicht besetzt worden, sondern befreit.
Der Einsatz historischer Bilder durch das russische Außenministerium erfordert eine nähere Betrachtung. Susan Sonntag hat formuliert, dass in der Gesellschaft Bilder eine beweisführende Rolle ausüben. So werden sie beispielsweise vor Gericht als Beweis angeführt, dass ein bestimmtes Ereignis tatsächlich stattgefunden hat. Das russische Außenministerium hat wohl versucht, seine Behauptungen zur Geschichte mithilfe von historischen Bildern zu bekräftigen und im Weiteren das aktuelle politische Vorgehen auf der Krim zu rechtfertigen. Russland schafft mithilfe der Vergangenheit ein Narrativ über seine Gegenwart. Darüber hinaus bot das Außenministerium durch die Verbindung der russischen Politik auf der Krim mit dem Zweiten Weltkrieg seinen Followern eine einfache Schablone, wie sich das Weltgeschehen verstehen ließe. Diplomaten stützen sich oft auf historische Vorlagen, um die Gegenwart zu erläutern. Daher beschreiben westliche Diplomaten die Spannungen zwischen China und den USA als neuen Kalten Krieg, während israelische Diplomaten behaupten, die Staaten des Westens würden angesichts des iranischen Atomprogramms eine Appeasement-Politik gegenüber Teheran verfolgen. Historisch wird Appeasement mit dem Versagen Frankreichs und Großbritanniens assoziiert, sich Adolf Hitler entgegenzustellen und den Zweiten Weltkrieg abzuwenden.
Der Nutzen dieser Strategie des russischen Außenministeriums für seine digitale Diplomatie entspringt dem Umstand, dass die Krisen der Gegenwart komplexer Natur sind. Der Bürgerkrieg in Syrien, der Krieg im Jemen und die Krimkrise sind sämtlich ein verworrenes Netz aus nationalen Interessen. Der Bürgerkrieg in Syrien lässt sich ohne eine Berücksichtigung der nationalen Interessen Irans, Russlands, Israels, des Libanon, Saudi-Arabiens, der USA und Syrien nicht beenden. Analogien zur Geschichte vereinfachen eine komplexe Krise durch die Verwendung bekannter Schablonen und einer klaren Unterteilung in Gut und Böse, in Nationalisten und russische Befreier. Also könnte das russische Außenministerium möglicherweise in der Lage sein, die Weltsicht einer digitalen Öffentlichkeit zu beeinflussen, die hofft, eine Welt besser zu verstehen, die in einem permanenten Krisenzustand zu sein scheint.
Schlussfolgerungen
Die offizielle digitale Diplomatie Russlands lässt sich durch drei Elemente beschreiben. Das erste ist ihre Beharrlichkeit und Konsistenz. Die russische Botschaft in London hat in den vergangenen sieben Jahren konsequent Humor eingesetzt, während das russische Außenministerium sich auf Geschichtsnarrative stützte. Konsequenz ist in der digitalen Diplomatie von zentraler Bedeutung. Je konsequenter ein Staat sein Narrativ der Ereignisse formuliert, desto eher kann er auf die Weltanschauungen einer nichtdigitalen Öffentlichkeit einwirken. Dies ist das vorrangige Ziel digitaler Diplomatie. Tatsächlich hat digitale Diplomatie seit ihren Anfängen versucht, auf ausländische öffentliche Meinung einzuwirken, und zwar als ein Mittel zur Beeinflussung ausländischer Regierungen.
Zweitens illustrieren beide Fallstudien, wie Inhalte der digitalen Diplomatie sich auf das Image einer Nation auswirken können, da die Online-Aktivitäten einer Botschaft auf den »Offline-Staat« projiziert werden. So signalisiert der scharfe Ton der russischen Botschaft, dass Russland kein Blatt vor den Mund nimmt. Es äußert seine Gedanken klar und lehnt den Diplomaten-Jargon ab. Russland wendet sich an den einfachen Mann und die einfache Frau und sagt den Mächtigen die Wahrheit ins Gesicht. Das alles soll vermitteln, dass Russland eine selbstbewusste Weltmacht ist, eine Kraft, die eine Konfrontation nicht fürchtet. Es ist nicht mehr das schwache Russland der 1990er Jahre.
Drittens machen beide Fallstudien deutlich, dass russische Diplomaten ihre Online-Botschaften auf spezifische Publikumsbereiche zuschneiden. Die russische Botschaft in London gestaltete ihre Online-Kommunikation mit Hilfe regelmäßiger Verweise auf die britische Kultur, wie etwa bei den Poirot-Tweets. Darüber hinaus könnte Russlands Ton bei bestimmten Segmenten der britischen Bevölkerung auf Resonanz stoßen, nämlich bei jenen, die populistischen Weltsichten anhängen. In der Brexit-Debatte griffen die Anhänger eines Austritts aus der EU auf populistische Argumente zurück, etwa indem sie politische Korrektheit verurteilen, die nichts anderes als ein Mittel zur Unterdrückung der schweigenden Mehrheit durch die Eliten sei. Populistische und Brexit-Narrative werfen dem Staat vor, die Öffentlichkeit zu belügen, Informationen zurückzuhalten und einen deep state zu betreiben, mit dem die Elite insgeheim die Massen manipuliere. Der Tweet mit der lahmen Ente korrelierte mit der Verurteilung politischer Korrektheit, der Poirot-Tweet fachte den Verdacht an, die britische Regierung würde gegen Russland Beweise fabrizieren. Die historischen Tweets des russischen Außenministeriums schließlich stehen in einer Reihe mit populistischen Bewegungen in Nachbarländern wie Polen und Ungarn, in denen die Regierungen versprechen, die glorreiche Vergangenheit der Nation in der Gegenwart aufleben zu lassen. Durch den Einklang mit diesen Narrativen könnten sowohl die Botschaften wie auch das Außenministerium die Wirkung ihrer Online-Kommunikation erhöht haben, da sie sich zu den gleichen Ansichten bekennen, wie sie von bestimmten Teilen des Online-Publikums gehegt werden.
Die Reichweite der vorliegenden Analyse ist begrenzt, da der Autor aus Platzgründen nicht die gesamte digitale Diplomatie Russlands einordnen konnte. Der Beitrag bietet lediglich einen ersten Einblick, wie russische Diplomaten soziale Medien nutzen, um bestimmte diplomatische Ziele zu erreichen. Im Falle des Vereinigten Königreichs versuchen sie, in den sozialen Medien durch virale Posts neue Follower zu gewinnen. Im Falle des russischen Außenministeriums wird Politik mittels historischer Analogien gerechtfertigt. In beiden Fällen werden die Botschaften der Diplomaten auf den russischen Staat jenseits der sozialen Medien projiziert. Durch diese Tweets soll Russland als eine Weltmacht dastehen, die sich nicht scheut, gegenüber dem Westen auf Konfrontation zu gehen. Gleichzeitig bleibe das Land seiner Politik treu, alle Russen vor dem Dämon des Nationalismus und Faschismus zu beschützen.
Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder