Einführung
Russlands staatlicher Atomkonzern Rosatom zieht mit einer groß angelegten Strategie für die Atomkraft in der Russischen Föderation und darüber hinaus in das dritte Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Die Vision besteht hier in Dutzenden neuer Atomkraftwerke mit weiterentwickelten Druckwasserreaktoren aus der Sowjetzeit (russ. Abk.: WWER) mit einer elektrischen Leistungsstärke von 1.100 Megawatt elektrisch (MWe), die die Wirtschaft der Nation antreiben und die Erschließung der arktischen Vorkommen an Öl, Gas und anderen Bodenschätzen beschleunigen sollen. Rosatom plant den Bau von Dutzenden WWER-Reaktoren für bereitwillige Kunden im Ausland. In der Tat haben Finnland, Iran, die Türkei, Ägypten, Indien, Belarus, Ungarn und auch Bangladesch Verträge über den Kauf russischer Reaktoren unterzeichnet, wobei eine Reihe von Projekten bereits vor dem Abschluss stehen.
Gegenwärtig gibt es in Russland 38 aktive Reaktoren, unter anderem einige kleinere Einheiten. Rosatomspricht allerdings von weiteren 21 geplanten und 28 angedachten Reaktoren, fast allesamt Druckwasserreaktoren mit 1.200 MWe. Was die graphitmoderierten wassergekühlten Siedewasserreaktoren (russ.: RBMK) wie den in Tschernobyl anbetrifft, so ist man in Russland der Ansicht, dass man diese Reaktoren immer noch sicher betreiben kann, trotz Mängeln an der Schutzhülle, der schnell wachsenden Menge abgebrannter Brennstäbe und notorischer Instabilitätsprobleme. Aufgrund verlängerter Lizenzen werden neun RBMK-Reaktoren bei Kursk, St. Petersburg und Smolensk einige Zeit weiterarbeiten. Zur Schließung des Brennstoffzyklus planen russische Ingenieure mit flüssigmetallgekühlten schnellen Brütern und Standardeinheiten von 800 oder vielleicht 1.200 MWe; allerdings gab es Bauverzögerungen und ausufernde Kosten, die diese Technologie von Anfang an geplagt haben. In diesem Mix hat Russland darüber hinaus damit begonnen, schwimmende Atomkraftwerke einzusetzen, um im Ausland Kraftwerkseinheiten von 30 bis 80 MWe für jeweils 335 Millionen US-Dollar zu verkaufen.
Weisen diese ehrgeizigen Pläne darauf hin, dass Russlands Atomindustrie sich von der Katastrophe 1986 in Tschernobyl erholt hat, auch wenn die Kosten für die Umwelt und das Gesundheitswesen durch die radioaktive Verstrahlung noch etliche Zeit anfallen werden? Wie weit hat sich die russische Atomindustrie entwickelt, seit Reaktor 4 in Tschernobyl explodierte und radioaktive Stoffe in die Umgebung und die Atmosphäre streute, eine Reihe von Projekten zur Aufgabe zwang und letztendlich zum Zusammenbruch der Sowjetunion beitrug? Die Offiziellen und Atomphysiker von Rosatom schauen heute nur selten in den atomaren Rückspiegel – wenn sie die Vergangenheit berücksichtigen, dann allein, um der Todesopfer des Unfalls zu gedenken. Sie behaupten, sie hätten aus Tschernobyl gelernt und eine nukleare Katastrophe wie die von Fukushima Daiichi im März 2011 sei in Russland angesichts der technischen Sicherheitsspielräume der WWER-Reaktoren sowie der seismischen Stabilität schlichtweg unmöglich.
Reaktoren und Müll: Der Umgang mit dem sowjetischen atomaren Erbe
Ob Russland das Ziel erreichen wird, in den nächsten Jahren diese große Anzahl neuer Reaktoren zu bauen, ist die eine Frage. Eine andere ist das generelle Problem der radioaktiven Abfälle und wie damit umzugehen wäre. Zehn Jahre nach Fukushima und 35 Jahre nach Tschernobyl steht Russland (wie auch andere postsowjetische Staaten, insbesondere Belarus, die Ukraine und Kasachstan) immer noch vor der vertrackten Frage, wie mit den radioaktiven Abfällen umgegangen werden soll und wie sie zu entsorgen sind. Diese Probleme werden in den gegenwärtigen Programmen nicht angemessen berücksichtigt. Seit dem Beginn des Atomzeitalters haben sich allein in Russland Hunderte Millionen Kubikmeter flüssiger und Tonnen fester radioaktiver Abfälle angesammelt. Den Löwenanteil hat das Militär hinterlassen – über die Hälfte der weltweit angefallenen radioaktiven Abfälle. Bei vielen der bestehenden Standorte und Halden ist erst seit einem Jahrzehnt eine richtige Inventur unternommen worden. In Russland existieren darüber hinaus rund 24.000 Tonnen verbrauchter Kernbrennstoffe; bis 2050 werden es laut Prognosen 70.000 Tonnen sein. Diese Kernbrennstoffe, die in Russland im Unterschied zu vielen anderen Ländern nicht als radioaktive Abfälle gelten, werden bei den Atomkraftwerken und ohne große Aufarbeitung oder Vorbereitung in überfüllten Lagern aufbewahrt.
Ungeachtet des vermeintlich zentralisierten politischen Systems der Sowjetunion und der Planwirtschaft hinkte der Aufbau eines einheitlichen Systems zur Entsorgung radioaktiver Abfälle, bei dem eine Zentralbehörde für die Inventarisierung, das Monitoring und die Entsorgung der Abfälle zuständig ist, im Vergleich zu anderen Atomstaaten beträchtlich hinterher. In den 1940er und 1950er Jahren hatte die Nation riesige wissenschaftliche, materielle und menschliche Ressourcen mobilisiert, um den Bau der sowjetischen Atombombe voranzutreiben. Die Dringlichkeit der nationalen Verteidigung führte zu einem Vorrang der Waffenproduktion vor Sicherheitsfragen, auch vor einem sicheren Umgang mit radioaktiven Abfällen. Die Abfälle wurden oft direkt in die Umwelt gekippt oder schlecht gelagert, was zu Unfällen und Umweltverschmutzung führte. Schließlich errichtete die sowjetische Regierung Ende der 1950er Jahre ein Radon betiteltes System von Unternehmen für den Umgang mit radioaktiven Abfällen. Radon war jedoch nur für einen Bruchteil der Abfälle zuständig, nämlich jene, die in der Medizin, in Forschungsinstitutionen und anderen Organisationen außerhalb des nuklearen Brennstoffkreislaufs und der Waffenproduktion entstanden waren. Als das Atomprogramm in den 1970er und 1980er Jahren massiv ausgeweitet wurde, wuchs die Zahl der Abfallproduzenten und die Abfallmenge beträchtlich. Für eine sichere Lagerung und Entsorgung fehlte aber weiterhin ein umfassender Ansatz wie auch die Infrastruktur.
Der Unfall in Tschernobyl und die Liberalisierung des politischen Regimes in der Sowjetunion, auf die der Zusammenbruch der UdSSR folgte, ließen dann die Umweltfolgen der militärischen und der zivilen Atomindustrie deutlich werden. Dass zog eine intensive internationale Prüfung, eine ernste Untersuchung der Ausmaße der radioaktiven Verschmutzung sowie eine Planung der Altlastensanierung nach sich. Zudem gab es mehrere Versuche, Gesetze zum Umgang mit radioaktiven Abfällen zu erlassen. Es sollten dann allerdings noch zwei Jahrzehnte vergehen, bis 2011 ein umfassendes Gesetz über den Umgang mit radioaktiven Abfällen verabschiedet wurde. Es entstand eine neue Struktur (das Staatsunternehmen »Nationaler Betreiber für den Umgang mit radioaktiven Abfällen«), die für den Umgang und die Entsorgung der Abfälle zuständig wurde. Allerdings scheint sich das Entsorgungsregime jetzt nahezu gänzlich auf das Erbe früherer radioaktiver Abfälle, auf deren Rechtfertigung und auf kurzfristige Schadensbegrenzung zu konzentrieren, und weniger auf eine angemessene Behandlung der Abfälle und eine nachhaltige Sanierung kontaminierter Gebiete. Dieser Ansatz machte eine Neudefinierung von radioaktiven Abfällen in einem positiveren Licht erforderlich, nämlich als logische und heroische Folge der Erfordernisse des Kalten Krieges.
Von Abfällen zum Ruhm
Die Nachforschungen und Entdeckungen der späten 1980er und frühen 1990er Jahre brachten unter anderem ans Tageslicht, dass die Sowjetunion radioaktive Abfälle in das Nordpolarmeer gekippt hatte – ungeachtet der Verpflichtungen aus der Londoner Konvention (dem Übereinkommen über die Verhütung der Meeresverschmutzung durch das Versenken von Abfällen und anderen Stoffen, auch »LC72« genannt). Schließlich wies Boris Jelzin eine spezielle Regierungskommission an, eine Inventur der U-Boot-Reaktoren, der verbrauchten Kernbrennstoffe und anderer flüssiger oder fester radioaktiver Abfälle vorzunehmen, die von 1959 bis 1992 verklappt worden waren. Nichtregierungsorganisationen wie Greenpeace oder Bellona haben dazu beigetragen, dass mehr Wissen zu diesen Abfällen in der Arktis vorhanden ist. Es geht um 17.000 Container und 19 Schiffe mit radioaktiven Abfällen sowie 14 Atomreaktoren (5 davon mit verbrauchtem Kernbrennstoff), anderen radioaktiven Müll und mindestens fünf verstreut umherliegende U-Boote, ganz zu schweigen von dem umfangreichen Fallout durch 93 Atomwaffentests in der Arktis und den »friedlichen nuklearen Explosionen«, die zu Bergbauzwecken auf der Halbinsel Kola durchgeführt wurden.
Das Establishment des sowjetischen bzw. russischen Militärs und der Sicherheitsbehörden, die unter Gorbatschow und Jelzin einen Großteil ihrer Finanzierung und ihres Ansehens verloren, stellten sich dieser neuen öffentlichen Aufmerksamkeit für die Verklappung von Atommüll entgegen. Das galt insbesondere hinsichtlich des beklagenswerten Zustands der Infrastruktur von Flotte und Militär. Dieser Widerstand führte dazu, dass einige Personen, die Materialien weitergegeben hatten, welche nun nicht mehr der Geheimhaltung unterlagen, strafrechtlich verfolgt wurden. Im bekanntesten dieser Fälle wurde Aleksandr Nikitin, ein ehemaliger Marineoffizier, der von 1987 bis 1992 beim Inspektionsdienst für die Sicherheit der Atomanlagen im Bereich des sowjetischen und russischen Verteidigungsministeriums gearbeitet hatte (seit 1994 ist er für die norwegische NGO Bellona tätig), zunächst vom FSB verhaftet, dann wegen Landesverrats angeklagt, vier Mal vor Gericht gezerrt und schließlich 2000 vom Obersten Gericht Russlands vollumfänglich freigesprochen.
Das Ende des Falls Nikitin fiel mit dem Beginn der Präsidentschaft von Wladimir Putin zusammen, wie auch mit Versuchen, Russlands Status als Supermacht wiederherzustellen, den Militärhaushalt zu erhöhen und in einen neuen mächtigen Atomkonzern, die staatliche Korporation Rosatom zu investieren. Diese Phase wurde auch zum Wendepunkt beim Umgang mit dem Atommüll und den Problemen mit der Umweltverschmutzung. Durch einen Wandel weg von (erfolglosem) Widerstand gegen die so wichtige Offenlegung der Dimensionen des Problems arbeiteten schließlich verschiedene zivile und militärische Atominstitutionen und -organisationen zusammen, um Lösungen zu suchen. Zum Teil geschah das mit Unterstützung durch internationale Kooperationsprojekte wie etwa die »Globale Partnerschaft gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und -materialien« der G8. Die russische Regierung finanzierte zwei große staatliche Programme zur atomaren und zur Strahlensicherheit. Das eine lief von 2008 bis 2015, das zweite läuft seit 2016 und soll 2025 enden. Wenig überraschend stellte sich die Aufgabe einer Inventur und Untersuchung des angehäuften Atommülls wegen der beträchtlichen Menge radioaktiver Abfälle als wenig ermutigend heraus: ein Teil ist an unbekannten Orten in unklarem Zustand vergraben.
Eine Anzahl russischer Offizieller und Wissenschaftler waren fast stolz, diese Aufgabe einer Inventur des nuklearen Erbes zu übernehmen. Das Institut für Probleme der sicheren Entwicklung der Atomenergie der Russischen Akademie der Wissenschaften (russ. Abk.: IBRAE; gegr. 1988) hat hierzu drei umfangreiche Bände veröffentlicht. Die Autoren der Monographien bekräftigen, dass Atommüll unausweichlich der Preis sei, der in der Schlacht des Kalten Krieges mit den USA für das ausnehmend dringliche und unbedingt erfolgreiche Forschungs- und Entwicklungsprogramm des Militärs zu zahlen war. Das Establishment der russischen Atomindustrie hat somit das Problem des angesammelten toxischen Müllerbes in einem positiven Licht neu definiert, nämlich als Teil der ruhmreichen sowjetischen Geschichte des Atomwaffenbaus, einer Antwort auf die amerikanische Bedrohung und auf Hiroshima und Nagasaki. In diesem Kontext setzte Russland seine Würdigung und Lobpreisung sowohl des zivilen wie auch des militärischen Atomprogramms und seiner sowjetischen Geschichte fort. So nahm beispielsweise die »Zarenbombe«, die weltweit größte thermonukleare Bombe [eine Wasserstoffbombe, die 1961 unter der sowjetischen Projektbezeichnung AN 602 auf der arktischen Insel Nowaja Semlja zur Explosion gebracht wurde – Anm. d. Red.], in einer Moskauer Ausstellung zum 70. Jahrestag der russischen Atomindustrie im September 2015 einen zentralen Platz ein.
»Spezielle« Abfälle und das Fehlen gesellschaftlicher Kontrolle
Das Überwiegen von kurzfristigen Sanierungsstrategien und Rechtfertigungen vergangener »Ruhmesblätter« schlägt sich deutlich in den jüngst eingeführten rechtlichen Kategorien in Bezug auf die angesammelten radioaktiven Abfälle nieder. Gemäß dem Gesetz von 2011 werden alle Abfälle, die bis dato entstanden waren, in »spezielle« und »entfernbare« Abfälle unterteilt. Als speziell wurden jene Abfälle definiert, bei denen die Risiken und Kosten einer Verbringung vom derzeitigen Standort zu hoch erschienen. Diese Abfälle waren am gegebenen Ort sicher zu isolieren. Allerdings machen diese »speziellen« Abfälle über 99,9 Prozent aller angesammelten flüssigen radioaktiven Abfälle und über 82 Prozent des Volumens der festen Abfälle aus. Somit ist der Umgang mit radioaktiven Abfällen heute in Russland ganz überwiegend auf eine Anpassung der bereits bestehen Lagerstandorte konzentriert.
Spezielle Abfälle sind in vielen der geschlossenen Militärstädte vorhanden, die im Kalten Krieg der Produktion von Atomwaffen dienten. Einer der berüchtigtsten Standorte ist Majak, die erste Plutoniumfabrik der UdSSR, die im Ural in der Nähe von Tscheljabinsk steht. Zu dem Komplex gehört der Karatschaj-See, drei weitere Seen sowie vier künstliche Staubecken im Fluss Tetscha, die seit den 1940er Jahren in radioaktive Müllkippen verwandelt wurden. Seit jener Zeit bis in die 2000er Jahre hinein sind die Anlagen von Majak und die umliegenden Gebiete Schauplatz einer geplanten »Entsorgung« hochradioaktiver Abfälle gewesen, die allerdings auch aufgrund von Unfällen in die Umwelt gelangten. Der weithin bekannteste (auch wenn er erst 1989 offiziell eingestanden wurde) war die Explosion eines Abfalltanks aufgrund einer chemischen Reaktion, die 1957 zur »Katastrophe von Kyschtym« führte. Dieser und andere Unfälle hatten zur Folge, dass in nahegelegenen Dörfern Tausende Menschen Strahlungen ausgesetzt waren und riesige Gebiete kontaminiert wurden, unter anderem die rund 20.000 Quadratkilometer des »Wostotschno-Uralskij radioaktiwnyj sled« (russ. Abk.: WURS; dt. in etwa: »Radioaktive Osturalspur« – heute Teil eines »radioaktiven Naturreservats«; Anm. d. Red.). Nadeschda Kutepowa, eine Bewohnerin der Stadt Osjorsk (ehemals »Tscheljabinsk-40«, Standort von Majak), hat versucht, sich für die Rechte der Bevölkerung vor Ort einzusetzen und hierzu 2004 die NGO »Planet der Hoffnung« gegründet. Sie hat für ihre Arbeit internationale Anerkennung erlangt, auch von der lokalen Führung der Sicherheitsbehörden. Nachdem sie jedoch im Fernsehen der »Industriespionage« beschuldigt wurde, wollte Kutepowa nicht erst eine formale Anklage abwarten und floh 2015 nach Frankreich.
Dieses Beispiel zeigt, dass eine öffentliche Prüfung des Umgangs mit den Abfällen aufgrund des größtenteils militärischen Ursprungs extrem schwierig sein dürfte. Wenn Änderungen am rechtlichen Status und der Praxis noch eine gesellschaftliche Beteiligung möglich gemacht haben, etwa durch öffentliche Anhörungen zum Standort eines Endlagers für radioaktive Abfälle, so sind die politischen Prozesse hier alles andere als transparent. Da NGOs regelmäßig vom Staat drangsaliert und verfolgt werden, erscheint mehr Transparenz in diesem Bereich umso unwahrscheinlicher. Ohne nachhaltigen öffentlichen und internationalen Druck (wie es ihn etwa nach Tschernobyl gegeben hatte) und eine anfängliche Untersuchung der radioaktiven Abfälle, sind jedwede Fortschritte, die in diesem Bereich erzielt wurden, in Gefahr. Und ein immer stärker autoritär regiertes Russland wird seine »Atomrenaissance« nach Fukushima – nach dem Motto: Atompotential für den Frieden zu Hause und Reaktorverkäufe im Ausland – in einem Umfeld vorantreiben, in dem neue Unfälle mit radioaktiven Abfällen und Kontamination zunehmend möglich sind.
Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder