»Die Auflösung von Memorial wäre ein symbolischer Akt gegen die ganze Zivilgesellschaft in Russland«

Von Irina Scherbakowa (Memorial, Moskau)

Russland-Analysen: An welchen Projekten haben Sie dieses Jahr gearbeitet?

Scherbakowa: Ich bin Vorsitzende des Wissenschaftlichen Informationszentrums von Memorial International und in dieser Funktion hauptsächlich für die historische Arbeit verantwortlich. Daher bin ich an mehreren Projekten beteiligt, die von Memorial durchgeführt wurden und werden, zum Beispiel an der Ausstellung »Der Stoff«, die der Erinnerung an Frauen im Gulag auf der Basis unserer Sammlungen gewidmet ist und seit dem 4. Oktober in unserem Saal gezeigt wird. Wir bereiten gerade den Ausstellungskatalog vor, der Anfang nächsten Jahres in Druck geht. Zu Beginn dieses Jahres haben wir noch eine weitere Ausstellung gezeigt, die Andrej Sacharow, seiner Rolle bei der Gründung von Memorial und seinem letzten Lebensjahr gewidmet war: »Sacharow und Memorial. Das letzte Jahr«. In der ersten Jahreshälfte fand wieder der Schülerwettbewerb statt, allerdings wegen der Pandemie nur online. Wir haben vor kurzem einen Preis für unser Zwangsarbeiterbuch »Für immer gezeichnet« (das auf Deutsch beim Ch. Links Verlag erschienen ist) in der Schweiz bekommen. Das Buch wurde vor zwei Wochen auch auf Englisch veröffentlicht. Insgesamt laufen also viele Projekte im Bereich der historischen Aufarbeitung.

Russland-Analysen: Welche Folgen könnte eine mögliche Auflösung von Memorial International für diese Projekte haben?

Scherbakowa: Ganz so einfach ist es nicht. Was kann eine NGO wie Memorial, die kaum über viele Gelder verfügt und viel schwächer als der Staat ist, erreichen, wenn das Thema der historischen Aufarbeitung ein so gewaltiges ist? Wenn es um das Leben von Millionen geht und das Land so riesig ist? Wir waren uns immer bewusst, dass unsere Kräfte sehr begrenzt sind, und dass wir als aufklärerische und historische Institution eigentlich nur die Erinnerung an den sowjetischen Terror aufrechterhalten können. Man kann nicht alles vernichten und verbieten, was in den 30 Jahren nach der Perestrojka zu diesem Thema geleistet wurde. Es ist sehr viel publiziert worden, es sind im Land Denkmäler errichtet worden, es gibt ein staatliches Gulag-Museum in Moskau, und es wurde ein staatliches Denkmal aufgestellt, das an die Opfer erinnert.

Russland-Analysen: Wie würden Sie die Rolle von Memorial als Teil der russischen Zivilgesellschaft beschreiben? Welches Signal sendet die Klage der Staatsanwaltschaft gegen Memorial International an die russische Zivilgesellschaft?

Scherbakowa: Die Menschen in Russland begreifen sehr wohl, in welche Richtung sich die staatliche Ideologie bewegt. Als Memorial sind wir in den letzten Jahren immer wieder angegriffen worden. Wir sind als »ausländische Agenten« eingestuft worden, und unsere Veranstaltungen wurden nur zähneknirschend zugelassen. Die Pandemie hat zusätzlich dazu beigetragen, dass die »Rückgabe der Namen«, also jene Gedenkveranstaltung, bei der in ganz Russland die Namen der Erschossenen verlesen werden und die in Moskau am Solowezkij-Stein zu einer immer größeren Veranstaltung mit tausenden Menschen wurde, wegen Corona-Auflagen von den Behörden untersagt wurde. Das war offensichtlich nur ein Vorwand, denn gleichzeitig fanden staatliche Veranstaltungen statt, die nicht einmal im Freien, sondern drinnen durchgeführt wurden. Die Behörden haben die Pandemie ausgenutzt, um unsere Gedenkveranstaltungen zu verbieten. Für die Menschen ist das ein deutliches Signal und ein Grund dafür, warum die drohende Auflösung von Memorial so hohe Wellen schlägt. Denn so schwach wir auch sein mögen: Für die Menschen im Land ist klar, dass die Auflösung von Memorial ein symbolischer Akt gegen die ganze Zivilgesellschaft wäre. Der Staat kann sich ab und zu etwas erlauben, sogar die Erinnerung an die Opfer des sowjetischen Terrors (und, das muss ich unterstreichen: viel weniger an die Täter). Aber Memorial ist eine NGO, die sich unabhängig gemacht hat und eigenständig Geld für ihre Projekte einwirbt. Unsere Aufarbeitung der Geschichte passt nicht zum vorherrschenden Patriotismus, der auf nationalen Stolz und Nationalismus baut. Deswegen sollen wir verboten werden. Das ist für die Menschen ein Signal, dass der Staat dabei ist, die letzte Schwelle zu überschreiten. Das ist auch der Grund, warum sich bei uns viele Menschen gemeldet und ihre Empörung oder ihre Solidarität bekundet haben. Allerdings sind wir, offen gesagt, in der Minderheit, sonst wäre es nie so weit gekommen. Aber die Unterstützung dieser Minderheit in der Bevölkerung ist sehr viel größer als in den 1990er Jahren. Damals war es eine Selbstverständlichkeit, dass es einige Organisationen gibt, die sich öffentlich mit der Aufarbeitung der Geschichte beschäftigen, ohne sich der Gefahr eines Verbots auszusetzen. Die Zeiten haben sich jedoch geändert, und das macht den Menschen natürlich Angst und empört sie.

Russland-Analysen: Sie haben das Gesetz über »ausländische Agenten« erwähnt, auf das sich die Staatsanwaltschaft bezieht. Gleichzeitig machen verschiedene Organisationen, teilweise auch Parteien, zivilgesellschaftliche Organisationen, wie OWD-Info, Vorschläge, wie das Gesetz über »ausländische Agenten« reformiert werden könnte. Einige meinen, das Gesetz sollte komplett abgeschafft werden. Andere wie der Friedensnobelpreisträger Dmitrij Muratow schlagen Nachbesserungen vor. Kann dieses Gesetz reformiert werden?

Scherbakowa: Momentan sehe ich keine Anzeichen dafür, dass das Gesetz wirklich reformiert werden kann. Memorial hat in Russland mehrmals gegen dieses Gesetz geklagt, wir haben immer verloren. Eine Sammelklage liegt seit etwa zehn Jahren beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, ohne dass das Gericht darüber befunden hätte. In unseren Augen ist das Gesetz nicht mit der russischen Verfassung und den Grundrechten vereinbar. Es ist so breit formuliert, dass jede zivilgesellschaftliche Aktivität unterbunden werden kann. Hunderte Organisationen und Privatpersonen sind bereits zu »ausländischen Agenten« erklärt worden. Ich sehe beim russischen Staat keine Bereitschaft, das Gesetz zu reformieren. Es besteht wenig Hoffnung, aber wir müssen dafür kämpfen, und wir sollten jede Gelegenheit dafür nutzen, um das Gesetz abzumildern.

Russland-Analysen: Sie haben in letzter Zeit sehr viel Zuspruch und Solidarität bekommen innerhalb von Russland, aber auch international. Gleichzeitig sind die Aussagen zum Gesetz über »ausländische Agenten«, etwa die vom Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen, vom Europarat, von der Venedig-Kommission des Europarates, dahingehend eindeutig, dass es aufgehoben werden oder zumindest gründlich überarbeitet werden muss. Einerseits gibt es international diese Solidarität und eine einheitliche Meinung, andererseits konnte die internationale Gemeinschaft Memorial konkret nicht schützen. Es gibt bisher noch kein Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Empfinden Sie das fehlende Urteil als mangelnde Solidarität? Könnte die internationale Gemeinschaft da noch mehr tun als reine Solidaritätsbekundungen?

Scherbakowa: Die inneren Angelegenheiten in Russland können nur von innen verändert werden. Das passiert erst dann, wenn die Menschen begreifen, dass es so nicht weitergehen kann, dass sie sich so lautstark äußern müssen, damit es einen Einfluss hat auf die russische Regierung hat. Aus dem Ausland haben sich viele zivilgesellschaftliche Organisationen, Menschen und Initiativen gemeldet und sich solidarisch gezeigt, vor allem aus Deutschland. Es bleibt fraglich, ob das unsere Regierung beeinflussen wird. Die drohende Auflösung von Memorial ist auch ein Signal an die Außenwelt. Die russischen Machthaber wollen zeigen, dass sie mit der Zivilgesellschaft machen können, was sie wollen. Andererseits ist dieses Signal auch zweideutig: Es spricht von Schwäche, wenn sie unsere Wenigkeit bekämpfen, weil sie Angst vor unseren Aussagen haben. Das sollten die Entscheidungsträger im Westen genau verstehen. Natürlich sind in der Politik auch Kompromisse notwendig, aber es gibt Schwellen, die einfach nicht überschritten werden sollten. Man kann nicht einfach so tun, als merke man gar nicht, was gerade passiert. Letztendlich geht es auch um die Moral: Je mehr Solidarität wir verspüren und je stärker diese Solidarität gezeigt wird, desto mehr hilft das der russischen Zivilgesellschaft. Denn das Gefühl, überhaupt nicht wahrgenommen zu werden, ist bedrückend und sendet das völlig falsche Signal. Von außen kann man nur sehr schwer auf Russland einwirken, aber ich glaube, dass der Westen vor allem im Bereich der Korruption viel mehr tun kann. Viele Russen investieren ihr Geld im Westen und erwerben dort Immobilien. Und der Westen scheint das einfach so hinzunehmen. Der Westen sollte im Bereich der Korruptionsbekämpfung viel mehr tun und nicht einfach die Augen verschließen.

Russland-Analysen: Deutschland bekommt eine neue Regierung, die gerade ihren Koalitionsvertrag veröffentlicht hat. Darin steht, dass die Beziehungen zur russischen Zivilgesellschaft von großer Bedeutung sind, dass diese aufrechterhalten und ausgebaut werden sollen. Wie sollte die neue Regierung das machen? Was wäre ihre Botschaft an die neue Regierung?

Scherbakowa: Vor allem sollte die neue deutsche Regierung Russland mit offenen Augen betrachten und nicht einfach wegschauen. Sie sollte Solidarität zeigen und ihre Meinung klar zum Ausdruck bringen. Es muss Grenzen für Kompromisse geben. Das betrifft nicht nur Russland, sondern Osteuropa insgesamt. Das betrifft auch Belarus und die Ukraine. Die Realität sollte mit Vernunft und großer Offenheit wahrgenommen werden. Die neue deutsche Regierung darf sich dieser Realität nicht verschließen, pure Realpolitik wäre der völlig falsche Ansatz. Das würde ich als Botschaft mitgeben.

Das Gespräch wurde am 29. November 2021 aufgezeichnet. Die Fragen stellte Fabian Burkhardt.

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