»Der Selbsterhaltungsinstinkt der Machthabenden funktioniert nicht mehr«

Von Swetlana Gannuschkina (Bürgerhilfe und Memorial, Moskau)

Russland-Analysen: Welche Bedeutung hat das Menschenrechtszentrum Memorial als Teil von Memorial und für die russische Zivilgesellschaft insgesamt?

Gannuschkina: Das Menschenrechtszentrum Memorial kann man nicht unabhängig von der Gesellschaft Memorial betrachten. Memorial ist eine internationale Organisation, die während der Perestrojka Ende der 1980er Jahre durch eine Initiative von unten geschaffen wurde, was damals, zu Sowjetzeiten eigentlich unmöglich war. Die erste Aufgabe von Memorial International war, das Gedenken an die Opfer der Repressionen zu wahren. Nach einiger Zeit wurde jedoch deutlich, dass Menschenrechtsverletzungen immer und in jedem Land begangen werden, auch während der Perestrojka in der Sowjetunion und dann im postsowjetischen Russland. 1991 entstand innerhalb von Memorial das Menschenrechtszentrum Memorial als Mitgliedsorganisation von Memorial International, um sich dem Schutz der Menschenrechte zu widmen.

Die Bedeutung von Memorial International ist kaum zu überschätzen. Mit Stolz, und wenn wir mal jede Bescheidenheit beiseitelassen, können wir sagen, dass Memorial International eine weltweit bekannte Organisation ist: Memorial gibt es in Deutschland, in Frankreich, in der Ukraine, in Lettland usw. Memorial ist also eine internationale Organisation, die jetzt weltweit Menschen unterstützt und an die Opfer von Repressionen in der ganzen Welt erinnert. Die Staatsanwaltschaft klagt gegen Memorial International wegen formaler Verstöße gegen das widerwärtige Gesetz über »ausländische Agenten«. Alles, was wir sagen und tun, müssen wir mit dem Vermerk kennzeichnen, dass wir in das sogenannte Verzeichnis der Organisationen, die die Funktion eines »ausländischen Agenten« erfüllen, eingetragen sind. Natürlich erfüllen wir absolut nicht die Funktion von »ausländischen Agenten«. Das Menschenrechtszentrum Memorial wird in einem weiteren Gerichtsprozess angeklagt, zusätzlich zu Verstößen bei der Kennzeichnung als »ausländischer Agent« (darum geht es nur zu einem sehr geringen Teil: Wir kennzeichnen alles, die Anklage bezieht sich lediglich auf vier Einzelfälle). Das Menschenrechtszentrum wird aber darüber hinaus angeklagt, Terrorismus und Extremismus zu rechtfertigen. Das ist eine Lüge: Wir rechtfertigen weder Terrorismus noch Extremismus. Wir verteidigen Menschen, die unschuldig des Terrorismus und Extremismus bezichtigt werden. In Russland sind etwa die Zeugen Jehovas als extremistisch eingestuft, obwohl sie sonst nirgendwo in der Welt als extremistisch eingestuft sind. Außerdem werden einige Personen aufgrund ihrer angeblich »extremistischen« Aussagen als »Extremisten« eingestuft, obwohl sie das nicht sind. Wir rechtfertigen in keiner Weise Terrorismus oder Extremismus, wir verteidigen unschuldige Opfer solcher Anschuldigungen.

Russland-Analysen: Warum erfolgt dieser Angriff gerade jetzt, und warum stört Memorial den russischen Staat?

Gannuschkina: Das ist die Fortsetzung eines langfristigen Trends: Unsere Tätigkeit ist dem russischen Staat schon lange ein Dorn im Auge. Das wurde offensichtlich, als der ehemalige Mitarbeiter des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, Wladimir Putin, an die Macht kam. Seit dem Jahr 2006 wurde uns systematisch das Leben erschwert, mit nicht enden wollenden Berichten, die wir den Behörden vorlegen müssen. 2012 wurde das Gesetz über »ausländische Agenten« verabschiedet, gegen das beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Beschwerde eingelegt wurde, über die der EGMR bisher allerdings noch kein Urteil gefällt hat. Das nehmen wir als fehlende Solidarität seitens der europäischen Gemeinschaft wahr.

Die Tendenz ist eindeutig: Das Regime will die russische Zivilgesellschaft zerstören, die Machthabenden haben vor uns große Angst und sprechen immer von angeblichen Revolutionen. Und hier kommt die ausländische Finanzierung ins Spiel. Es wird hier gesagt wir bekämen von westlichen Organisationen finanzielle Unterstützung, auch von staatlichen Stellen, und würden so angeblich in deren Auftrag handeln. Das entspricht absolut nicht der Wahrheit. Jeder, der weiß, wie die Zivilgesellschaft funktioniert, weiß auch, dass dies nicht wahr ist. Wir sind doch völlig von einer Finanzierung aus Russland selbst abgeschnitten, insbesondere durch das Verzeichnis über »ausländische Agenten«. Seit 2017 dürfen wir per Gesetz keine staatliche Finanzierung mehr erhalten (»Ausländische Agenten« dürfen nicht in das staatliche Verzeichnis von NGOs mit »sozialer Orientierung« aufgenommen werden. Sie sind nicht als »Erbringer nützlicher Dienste« anerkannt und erhalten deswegen keine staatliche Finanzierung, Anm. d. Redaktion). Uns bleibt keine andere Möglichkeit, außer uns innerhalb von Russland über Crowdfunding zu finanzieren. Die Tradition zu spenden, hat sich allerdings in der russischen Bevölkerung bisher noch nicht in der Breite etabliert. Außerdem bleiben uns noch Gelder von westlichen Stiftungen, mit denen wir zwar ein freundschaftliches Verhältnis pflegen, die uns aber niemals einen Auftrag erteilen. Wir entwickeln unsere Projekte selbst und stellen eine Anfrage: Seid ihr bereit, diese Projekte zu finanzieren? Es läuft niemals umgekehrt: Die Stiftungen fragen nicht an, ob wir eine bestimmte Aufgabe übernehmen könnten. Aber die russische Regierung stellt sich quer, denn sie hat Angst und kann keine Kritik oder Debatte vertragen. Jede Aussage über Politik – oder allgemeiner noch über das Regime, z. B. über den FSB oder über das Bildungsministerium – wird als staatsfeindlich und als politische Tätigkeit eingestuft, obwohl Aussagen oder Kritik keine politische Tätigkeit darstellen. Wir sind »Konsumenten« und äußern uns deswegen als Konsumenten der russischen Politik und nicht als jemand, der Politik betreibt. Parteien machen Politik. Unsere Strukturen haben als Teil der russischen Zivilgesellschaft das Recht, die Politik der russischen Regierung zu kritisieren. Denn wir sind deren Konsumenten und Auftraggeber. Wir sind auch ein Teil des Staates, auch wir sind Russland. Aber die Machthabenden wollen das einfach nicht verstehen, sie wollen, dass wir ihre Untertanen sind. Jeder Widerstand gegen dieses Machtverhältnis wird mittlerweile schon als Gesetzesbruch wahrgenommen. Das Verfassungsgericht hat uns mitgeteilt: Wenn ihr die Anforderungen dieses Gesetzes erfüllt, könnt ihr machen, was euch beliebt. Aber es war von Anfang an klar, dass dies nicht stimmt. 2017 gab es das erwähnte Verbot, durch das wir keine staatliche Finanzierung mehr bekommen dürfen. Das wäre nicht einmal so schlimm gewesen, aber seit Ende letzten Jahres, Anfang dieses Jahres ist unsere Tätigkeit immer mehr eingeschränkt worden. Die zwei Klagen (der Moskauer Staatsanwaltschaft gegen das Menschenrechtszentrum Memorial als eine Moskauer Organisation und der Generalstaatsanwaltschaft beim Obersten Gerichtshof hinsichtlich der Liquidierung von Memorial International) sind die Folgen dieses langfristigen Prozesses. Dabei ist vorgesehen, dass alle Zweigstellen aufgelöst werden, unter anderem die, die sich im Ausland befinden, was aus Sicht des Regimes »leider« nicht passieren wird.

Russland-Analysen: Von vielen werden derzeit Änderungen am Gesetz über »ausländische Agenten« vorgeschlagen, auch von systemtreuen Kräften. Ist das Gesetz reformierbar?

Gannuschkina: Es gibt viele Änderungsvorschläge, auch von uns freundlich gesonnenen Organisationen, die diese Unverschämtheit, dieses Übel korrigieren sollen. Zum Beispiel haben Journalisten, die jetzt auch als »ausländische Agenten« eingestuft werden können, Vorschläge über Gesetzesänderungen eingebracht. Aus meiner Sicht gibt es hier zwei wichtige Aspekte zu beachten:

Erstens haben wir schon gewisse Erfahrungen gemacht. Vor einiger Zeit hatte sich der Menschenrechtsrat beim Präsidenten an Wladimir Putin gewandt mit der Bitte zu klären, was genau unter »politischer Tätigkeit« zu verstehen sei. Putin gab eine Anweisung, dass genauer definiert werden sollte, was »politische Tätigkeit« bedeutet. Was war das Ergebnis? Früher stand im Gesetz, dass dies, dies oder jenes als »politische Tätigkeit« zu verstehen sei, was im Widerspruch zur Politik des Staates steht. Inzwischen ist dieser »Widerspruch« gegen den Staat nicht mehr im Gesetz zu finden. Das heißt, dass jede Äußerung über das Regime und dessen Politik als »politisch« eingestuft werden kann. Anstatt diesen Begriff zu konkretisieren und einzuengen wurde er endlos ausgedehnt. So sah also das Ergebnis des Ersuchens aus, das Gesetz zu ändern. Wir bitten diejenigen, die uns vernichten wollen, uns auf andere Weise zu vernichten. Aus meiner Sicht ist das ein sinnloses Unterfangen.

Zweitens halte ich den Begriff »ausländischer Agent« für beleidigend, da es im Russischen ganz anders klingt als das englische »foreign agent«. In Russland denkt man sofort an »Spion«, eine andere Interpretation ist hier nicht möglich. Diese Wortverbindung muss wieder ihren natürlichen Sinn zurückerhalten, nämlich »Spion«, und sie muss aus der Gesetzgebung verschwinden. Außerdem muss sich der Staat gegenüber denjenigen entschuldigen, die in das Verzeichnis der »ausländischen Agenten« eingetragen wurden. Wenn wir ein normales und modernes Land sein wollen, ist das der einzig mögliche Ausweg. Ein so großes Land wie Russland kann sich nur durch Dialog entwickeln, einen Dialog zwischen Regierung und Gesellschaft. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Indem die Zivilgesellschaft zerstört wird, zerstört der russische Staat das Land und auch sich selbst. Der Selbsterhaltungsinstinkt funktioniert bei den Machthabenden offensichtlich nicht mehr. Sie selbst sind auf diesen Dialog mit einem Gegenüber angewiesen, wie jeder von uns. Die Vorschrift, dass wir uns als Nichtregierungsorganisation regelmäßig einer Buchprüfung unterziehen müssen, halte ich für sinnvoll. Auch wir haben eine externe Kontrolle nötig. Wir brauchen eine Prüfung, wir brauchen eine Begutachtung und Bewertung von außen. In jedem unserer Projekte kalkulieren wir eine bestimmte Prozentzahl für die Buchprüfung ein. Genauso hat der Staat eine externe Prüfung nötig, denn wir sind die Konsumenten seiner Leistungen. Wir haben das Recht auf Meinungsäußerungen darüber, wie der Staat seine Pflichten erfüllt. Was die Machthabenden umtreibt, kann ich nicht sagen, aber für mich gibt es dafür nur ein Wort: Angst. Aber warum diese Angst so groß ist, wissen sie selbst besser. Vielleicht haben sie schlimmeres angerichtet, als bisher bekannt ist.

Russland-Analysen: Was würden Sie gerne der neuen deutschen Regierung mitteilen? Was wäre Ihre Empfehlung, wie die neue Regierung die Beziehungen zur russischen Zivilgesellschaft gestalten sollte?

Gannuschkina: Aus meiner Sicht hat sich in den letzten Jahrzehnten eine gemeinsame Zivilgesellschaft entwickelt. Ich betrachte mich nicht mehr getrennt von meinen gleichgesinnten Kollegen in der ganzen Welt. Das ist eine wunderbare und positive Tendenz. Wir teilen viele Einschätzungen. Wir teilen die Bewertung unserer ukrainischen Kollegen über die Ereignisse in der Ukraine und der russisch-ukrainischen Beziehungen. Wir vertreten die gleiche Position in Bezug auf die Annexion der Krim wie unsere Kollegen im Ausland. Genauso haben wir eine einheitliche Position, wenn Deutschland ungerechtfertigt – und manchmal ganz brutal – Menschen nach Russland abschiebt, die dann ohne hinreichende juristische Grundlage zu langen Haftstrafen in russischen Gefängnissen verurteilt werden. Es hat sich also eine gemeinsame Zivilgesellschaft herausgebildet: Wir schreiben uns ständig, wir sind ständig in Kontakt, das Internet hat uns riesige Möglichkeiten zur Kommunikation gegeben. Wir leben in einem gemeinsamen Informationsraum in einer gemeinsamen Zivilgesellschaft. Aus praktischer Sicht, das habe ich oft gesagt, sollten Treffen zwischen Regierungsvertretern Deutschlands und Russland zusammen mit dieser gemeinsamen Zivilgesellschaft Europas und Russlands stattfinden. Für uns ist diese Vermittlerrolle von Regierungsvertretern anderer Länder, die sich der Bedeutung der Zivilgesellschaft bewusst sind, sehr wichtig. Denn dies hat aufgehört. Wir brauchen aber diese Treffen; wir haben aufgehört, mit unserem Staat zu sprechen. Sie wollen uns einfach nicht hören. Setzt uns an einen Tisch! Helft uns dabei, dass wir in eurer Anwesenheit mit ihnen sprechen können, wenn sie schon bei uns zuhause nicht mit uns sprechen wollen. Früher hat der Westen einmal diese Rolle eines Vermittlers übernommen, ebenso wie internationale Strukturen wie z. B. die Vereinten Nationen. Heute erfüllt der Westen diese Funktion jedoch nicht mehr.

Das Gespräch wurde am 25.11.2021 aufgezeichnet. Die Fragen stellte Fabian Burkhardt.

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