In den Jahren 2019 bis 2021 erfolgte eine qualitative Veränderung der politischen Repressionen in Russland. Sie wechseln von einhegenden Maßnahmen hin zu einer Vernichtung zivilgesellschaftlicher Organisationen. Zu diesem Ergebnis kommen wir in dem Bericht »Repressionen und repressive Methoden: 2021. Von der Zurückdrängung zur Vernichtung« (https://liberal.ru/lm-ekspertiza/repressii-i-repressivnye-tehnologii-2021-ot-sderzhivaniya-k-unichtozheniyu), der im September von der Stiftung »Liberalnaja missija« (dt.: »Liberale Misssion«) veröffentlicht wurde. Die weitere Entwicklung dieser Tendenzen im Herbst dieses Jahres erfordern weniger eine Analyse, sondern sind eher Ergebnis unmittelbarer Beobachtung, weil sich die Welle der Repressionen jetzt gegen uns richtet, gegen OWD-Info und unsere Freunde und Partner der Organisationen von Memorial.
Warum genau dieser Zeitraum? 2019 kam es in Moskau zu umfangreichen Protesten zur Unterstützung für den verhafteten Journalisten Iwan Golunow, und gleich darauf zur Unterstützung der Kandidierenden bei den Wahlen zur Moskauer Stadtduma, denen die die Registrierung verweigert wurde. Und es gelang damals nicht nur, Golunow freizubekommen, sondern auch die Hälfte derjenigen, die wegen ihrer Beteiligung an diesen Protesten festgenommen worden waren. Die Gesellschaft war damals solidarisch, und das machte es möglich, etwas zu verändern. Möglicherweise war es dieser Sieg und eine veränderte Wahrnehmung hinsichtlich der Polizeigewalt, die als einer der Auslöser für die weitere Transformation der Repressionen dienten. Das frühere Niveau der Repressionen schüchtert nicht mehr ein, empört jetzt aber.
Ein Symbol für diese Transformation ist die Vergiftung und spätere Verhaftung von Alexej Nawalnyj. Sie wurde in ganz Russland von sehr massiven Protesten zur Unterstützung von Nawalnyj begleitet, auf die das Regime heftig reagierte: Über 17.000 Personen wurden festgenommen, über 150 wurden im Rahmen des sogenannten »Palast-Prozesses« (der Name spielt auf Nawalnyjs Youtube-Blockbuster über Korruption im Zusammenhang mit Wladimir Putins Palast im südrussischen Gelendschik an. Nach den Solidaritäts-Demonstrationen für den verhafteten Nawalnyj wurde zahlreichen Protestierenden der Prozess gemacht. Anm. d. Redaktion) strafrechtlich verfolgt. Danach mussten wir mit ansehen, wie die Stiftung für Korruptionsbekämpfung (FBK) aufgelöst, »Offenes Russland« vernichtet, und »Komanda 29« (»Team 29«) aus Russland vertrieben und das investigative Medium »Projekt« zur »unerwünschten Organisation« erklärt wurden. Im November 2020 kommt es zu weiteren Gesetzesänderungen über »ausländische Agenten« und einer verstärkten Anwendung des Gesetzes nicht nur gegen NGOs, sondern auch gegen Mainstream-Medien wie »Medusa« und den Fernsehsender »Doschd« sowie unmittelbar gegen Journalist:innen und Privatpersonen.
Unsere Schlussfolgerung aus dem Herbst war einfach: Das ist keine vorübergehende Verschärfung der Lage im Zusammenhang mit Nawalnyj und den Wahlen zur Staatsduma. Es ist ernst und das für lange Zeit. Die Frage ist: Warum?
Erstens, weil das die Art und Weise ist, wie das Phänomen der Repressionen strukturiert ist. Aufgrund internationaler Studien wissen wir, dass Repressionen tendenziell zunehmen. Das künftige Niveau der Repressionen hängt unmittelbar vom bereits erreichten Niveau ab. Das beobachten wir in Russland seit 10 Jahren.
Zweitens sehen wir, dass die Repressionen nicht mehr ein Instrument sind, das ein- oder ausgeschaltet werden kann, und das vom Kreml kontrolliert wird. Die Repressionen sind bereits eine eigene Institution; die dazugehörigen Normen sind in die Gesetzgebung eingebaut; dahinter stehen die Interessen der verschiedenen Ministerien und Interessengruppen; sowohl auf föderaler wie auf regionaler Ebene. Und es ist leichter, eine Institution zu schaffen, als sie wieder abzuschaffen.
Drittens sind die Repressionen eine reaktive Institution. Sie sind stets eine Reaktion des Regimes auf »Gefahren«. Und wir können beobachten, wie in den letzten zwei Jahren diese »Gefahren«, die Gefahr, die die unterschiedliche Wahrnehmung des Regimes birgt, stark zugenommen hat. Das betrifft sowohl die Proteste von 2019, die in ihrem Ausmaß unerwartet waren, wie auch die Proteste im Winter 2021, die in ihrer Dimension wie auch in ihrer Verbreitung über die Regionen beispiellos waren. Sie übertrafen wohl sogar die Proteste auf dem Bolotnaja-Platz 2011/12. Wir können zudem ein Erstarken der Zivilgesellschaft beobachten, seit zehn Jahren. Und seit 2017 zeigen Umfragen, dass der Rückhalt des Regimes in der Bevölkerung zurückgeht.
Nach den Dumawahlen setzten sich diese Tendenzen fort; unsere Prognose erwies sich demnach als richtig. Für eine Analyse ist es zu früh, umso mehr, als die Repressionen jetzt auch uns betreffen. Im September 2021 wurde OWD-Info als »ausländischer Agent« eingestuft, und im November stellte die Staatsanwaltschaft den Antrag, Memorial aufzulösen. Das Menschenrechtszentrum Memorial, unseren wichtigsten Partner. Deswegen betrifft uns dieser Vorgang unmittelbar.
In der Tat kann man sich keine bessere Illustration unserer These eines Übergangs von der Einhegung zur Vernichtung denken, als den Versuch, die zwei Memorial-Organisationen aufzulösen. Wir wissen alle, dass Memorial nicht nur für die historische Erinnerung steht, nicht nur für Menschenrechte, sondern für die Zivilgesellschaft selbst. Memorial ist deren Symbol. Es ist die älteste und angesehenste Organisation der Zivilgesellschaft. Die Organisationen von Memorial sind ein Kern der Zivilgesellschaft, sie sind NGOs von zentraler Bedeutung, ohne die die Existenz Dutzender, ja Hunderter anderer Initiativen unmöglich oder nur schwer vorstellbar wäre. Die mögliche Auflösung von Memorial ist ein Signal an die gesamte Zivilgesellschaft, nicht nur an die NGOs, sondern auch an die Medien und an Kultur- und Bildungsprojekte überall im Land. Wenn eine nationale Institution der Erinnerungsarbeit unter einem fiktiven Vorwand mit einem Fingerschnipsen aufgelöst werden kann, was ist dann erst für ein kleines Menschrechts- oder Bildungsprojekt in, sagen wir mal, Tambow zu erwarten?
Es liegt auf der Hand: Diese Tendenz wird weitergehen. Mehr noch, wir können eine Ausweitung der politischen Repressionen über den traditionellen zivilgesellschaftlichen und politischen Bereich hinaus in den Bildungs- und Kulturbereich beobachten. Die Repressionen haben jetzt ihre Auswirkung auf Bildung, Kultur und urbane Entwicklung, auf alles, was lebendig ist und autonom vom Staat. Es sind bisher nur Anfänge, aber diese Entwicklung ist im Universitätsbereich bereits deutlich spürbar.
Im Herbst ist auch deutlich geworden, dass die Repressionen, von denen wir üblicherweise sprechen, lediglich den Kern des Ganzen darstellen. Der Druck innerhalb der Bürokratie und der Eliten ist sehr viel spärlicher untersucht, hat jedoch drastisch zugenommen. Ich komme nicht umhin, zwischen der Verhaftung Sergej Sujews, des Rektors der »Schaninka« (der Moskauer Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften), und dem Fall Marina Rakowa (der ehemaligen stellvertretenden Bildungsministerin und stellvertretenden Präsidentin der »Sberbank«; Anm. d. Red.) – also mit German Gref und der »Sberbank« –, eine Verbindung zu ziehen. Ich komme auch nicht umhin, zwischen der Einstufung des »Bard College« als »unerwünschte Organisation« und der allzu unabhängigen Haltung von Alexej Kudrin eine Verbindung zu ziehen. Sowohl Gref wie auch Kudrin gehören zu Putins engster Umgebung. Das alles ist keine neue Tendenz. Eine Studie des Instituts für Probleme der Rechtsanwendung kommt zu dem Schluss, dass pro 100 Spitzenbeamt:innen alljährlich eine:r gerichtlich verurteilt wird, 70 Prozent davon zu Freiheitsentzug. Wir können das auch bei unserer praktischen Arbeit beobachten: Alle haben jetzt Angst, und das nicht ohne Grund. Den einen sitzt das Gericht im Nacken, anderen steht eine Überprüfung durch die Staatsanwaltschaft bevor. Und es geht hier nicht um die üblichen Verdächtigen, sondern um öffentliche Einrichtungen, Universitäten und Staatsdiener:innen.
Schauen wir uns nochmal an, warum das alles geschieht. Und wichtiger noch, warum es früher oder später aufhören wird.
Zum einen sagt die russisch-amerikanische Politikwissenschaftlerin Marija Snegowaja, die Repressionen in Russland seien auf außenpolitische Fragen zurückzuführen. Diese Schlussfolgerung hat ihre Berechtigung. Ja, es stimmt, die geopolitische Lage ist gereizt. Was wir jedoch tatsächlich beobachten, ist die Auswirkung der Proteste und »farbigen Revolutionen« im Nahen Ausland. Wir sehen diesen Zusammenhang auch in der Rhetorik der Regierung und anhand der restriktiven Gesetze, die verabschiedet werden. Wir erkennen die Motive unter anderem durch die begleitenden Begründungen zu den Gesetzesentwürfen. Die Ereignisse in Belarus und Kirgisistan können sehr wohl einer der Auslöser für die Verschärfung der repressiven Politik in Russland gewesen sein. Ich formuliere es mit Bedacht vorsichtig: Nicht Ursache, sondern einer der Auslöser.
Zweitens ist ein sehr viel wichtigerer Auslöser in der innenpolitischen Lage zu sehen, und hier vor allem in den Protesten. Die Zivilgesellschaft entwickelt sich weiter, die Stimmung in der Gesellschaft ändert sich, und wir beobachten nicht nur einen Rückgang der Umfragewerte für das Regime, sondern auch einen Wertewandel.
Drittens eine Hypothese. Das Regime nimmt die Gesellschaft nicht als Subjekt wahr. Das derzeitige Niveau der Repressionen gegen die Zivilgesellschaft ist deshalb irrational, weil letztere keine reale Gefahr für die Machthabenden darstellt. Eine reale Gefahr besteht aus Sicht der Eliten und im Rahmen des Konzepts vom »Machtübergang« (gemeint ist die Debatte über die Frage, wie lange Putin noch an der Macht bleiben bzw. wie ein möglicher Machttransfer aussehen könnte, Anm. d. Redaktion) in gewissen Gruppen innerhalb der Eliten. In jenem Teil der Elite, der eher verhandlungsfähig ist und in der Gesellschaft ein eher annehmbares Image genießt. Die Position dieser Gruppen bei einem potenziellen Machtkampf innerhalb der Eliten wird durch den Druck auf die Zivilgesellschaft geschwächt.
Unseren Bericht vom Herbst beenden wir in Anlehnung an ein Werk von Alexej Jurtschak mit den Worten »Alles scheint ewig – bis es einmal aufhört« (https://press.princeton.edu/books/paperback/9780691121178/everything-was-forever-until-it-was-no-more). Und ich bin überzeugt, dass es aufhören wird, die Frage ist nur, wann und warum. In vergleichenden Länderstudien wird oft gesagt, dass Repressionen mit der Demokratisierung zu Ende gehen, aber dass wenn es zu einer Demokratisierung kommt, die Repressionen nicht unbedingt ganz aufhören, aber schwächer werden. Die zweite verbreitete Ansicht ist, dass ein Wechsel des Machthabenden vonnöten ist, was im Endeffekt aber das Gleiche ist. In meinen Augen ist das zu abstrakt, die Frage ist doch, was Demokratisierung bedeutet und warum sie erfolgt.
Bei OWD-Info sprechen wir eher davon, dass ein Ende der Repressionen damit zusammenhängt, dass sie in der Gesellschaft anders wahrgenommen werden. Wir haben diesen Prozess mehrfach beobachten können. Im Jahr 2019, als sich die Haltung der Moskauer:innen und der Russ:innen in Bezug auf Polizeigewalt drastisch änderte, kam es zu einer großen gesellschaftlichen Solidaritätskampagne, und Menschen kamen aus den Gefängnissen frei. Eine Illustration hierfür ist ein Parolenwechsel bei den Protestierenden. Aus »Dopuskaj!« (»Lasst sie zu!« – die Kandidierenden bei den Wahlen) wurde »Otpuskaj« (»Lasst sie frei!« – aus dem Gefängnis). Daher denken wir, dass sich bei einer veränderten Wahrnehmung der Repressionen ein echtes Fenster der Möglichkeiten für Veränderungen und eine Demokratisierung öffnet. Und wir sehen, dass sich diese Wahrnehmung ändert. Russland ist hier Teil eines globalen Trends, bei dem die Gesellschaft die unterschiedlichsten Arten von Gewalt erheblich weniger toleriert. Wir können auch die Haltung zur Gesetzgebung über »ausländische Agenten« betrachten. Umfragen des Lewada-Zentrums von 2016 zufolge waren 56 Prozent der Ansicht, der Sinn des Gesetzes bestehe darin, den Einfluss des Westens in Russland einzuschränken. Nur 26 Prozent meinten, es sei eine Methode, um Druck auf unabhängige NGOs auszuüben. 2021 hielten bereits 48 Prozent der Befragten das Gesetz für repressiv und 43 Prozent meinten, es schütze die Souveränität des Landes.
Wie wird es weitergehen? Unsere Aussichten erscheinen jetzt recht schwammig und wenig ermutigend. 2021 war insgesamt ein Jahr gesellschaftlicher und politischer Apathie, vergleichbar etwa mit jener von 2014 und 2015. Die Zivilgesellschaft ist jedoch kein Wertpapiermarkt, der zulegt, abflaut oder sich erholt. Die Zivilgesellschaft gleicht eher einem Torfbrand, der beständig unter einer Schicht Torf und Erde schwelt; und niemand kann genau sehen, wie er schwelt. Von Zeit zu Zeit aber schießt eine Flammensäule aus dem Torf hervor und löst einen Waldbrand aus. Die letzten 10 Jahre haben wir immer wieder unerwartete Ausbrüche von Protesten in den verschiedensten Regionen und aus unterschiedlichsten Anlässen gesehen. Und diese Anlässe lösen sich nicht in Luft auf, wie auch die Zivilgesellschaft nicht einfach verschwunden ist. Für eine Demokratisierung haben sich die wichtigsten Grundlagen herausgebildet: Der Wunsch nach Veränderungen wird in der Gesellschaft stärker. Und zwar nicht nur nach politischen Veränderungen und nach Freiheit, sondern auch nach einem anderen Bildungswesen, nach einer erschwinglichen und guten Gesundheitsversorgung, nach einer angenehmen urbanen Umgebung. Die Menschen haben sich verändert, zumindest in den großen Städten. Die Menschen haben Appetit bekommen. Und der Staat ist nicht in der Lage, diese Wünsche zu erfüllen. Nicht immer aus Böswilligkeit. Einfach, weil er nicht kann. Weil es keine Kanäle für Feedback gibt, weil der Staat es nicht sonderlich versteht, weil er sich sehr davor fürchtet, von der Gesellschaft an die Leine genommen zu werden. Diese fundamentale Kluft ist bestimmend für die weitere Entwicklung der Zivilgesellschaft und die immer unangemessenere Reaktion des Staates auf Wünsche aus der Gesellschaft. Diese Situation wird sich irgendwann auf irgendeine Weise auflösen müssen. Und in diesem zukünftigen Wandel wird die Zivilgesellschaft der wichtigste Akteur sein.
Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder