Regional- und Kommunalwahlen 2023
Während Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine bereits über eineinhalb Jahre andauert und sich das Land in einem außenpolitischen Ausnahmezustand befindet, versucht das Regime gegenüber der Bevölkerung den Anschein von Alltag und Normalität aufrechtzuerhalten. Zu diesen Anstrengungen gehört, dass Wahlen im Rahmen des jährlichen Einheitlichen Wahltags am 10. September 2023 turnusmäßig stattfanden. Zahlreiche Regional- und Lokalwahlen wurden je nach Föderationssubjekt teils auf mehrere Tage ausgeweitet, außerdem gab es Nachwahlen für vier Abgeordnete der Staatsduma. In 21 Regionen fanden Gouverneurswahlen, in sechzehn Föderationssubjekten und vier von Russland annektierten ukrainischen Gebieten Wahlen zum regionalen Parlament sowie über 4.200 weitere Wahlen zu Stadt- und Gemeinderäten statt. Seit das Putin-Regime Mitte der 2000er Jahre die Kontrolle über nationale und zunehmend auch regionale Wahlen erlangte, überraschen Wahlergebnisse kaum noch. In einigen Föderationssubjekten, in denen 2023 gewählt wurde, war es bei den letzten Wahlen 2018 hingegen in Reaktion auf die Rentenreform zu Protest(ab)stimmungen gekommen: vier Gouverneure der loyalen, sogenannten »systemischen« Opposition hatten in Chakassien, Omsk, Orjol sowie Wladimir unerwartet Wahlerfolge erzielt. Der Ausgang des Einheitlichen Wahltags 2023 wiederum kam für Beobachter:innen wenig überraschend. Angaben der Zentralen Wahlkommission zufolge siegten bei den Gouverneurswahlen mit der Ausnahme von Chakassien alle vom Regime unterstützen Gouverneure, in Moskau wurde Bürgermeister Sergej Sobjanin im Amt bestätigt. In Regional- und Stadtparlamenten erlangte die Regimepartei Einiges Russland die Mehrheit der Mandate, wobei sie ihre Anteile im Vergleich zum Einheitlichen Wahltag 2018 merklich vergrößerte.
Der Wahlkampf, der selbst für Russlands autoritären Kontext bemerkenswert unauffällig und in manchen Regionen kaum vorhanden war, und die Wahlen selbst fanden wie auch im Vorjahr unter äußerst repressiven Bedingungen statt. Hierzu gehört die massive Einschränkung des Versammlungsrechts, faktische Kriegszensur und die Kriminalisierung von öffentlich geäußertem Dissens insbesondere in Bezug auf Russlands Kriegshandlungen in der Ukraine. Die wichtigsten Vertreter:innen der Anti-Regime-Opposition sind im Exil, inhaftiert oder unter Hausarrest. Einzig Kandidat:innen der sozialliberalen demokratischen Partei Jabloko, die seit 2003 nicht mehr im nationalen Parlament vertreten, aber in einigen Regionen noch auf lokaler Ebene aktiv ist, beteiligten sich an Kommunalwahlen. Obwohl die öffentliche Äußerung von Anti-Kriegs-Positionen strafrechtlich verfolgt wird und zahlreiche Mitglieder seit Anfang 2022 repressiert wurden, stand die Wahlkampagne der Partei unter dem Motto »Für Frieden!«. Damit war Jabloko nicht nur die einzige Partei mit einer pazifistischen Agenda, sondern auch die einzige, deren Wahlkampf den Krieg thematisierte. Alle anderen Parteien sparten die »militärische Spezialoperation« aus.
Beobachter:innen von der unabhängigen Wahlbeobachtungsgruppe Golos, die ihre Arbeit trotz verstärkter Repressionen gegen Mitarbeiter:innen und der jüngst erfolgten Verhaftung ihres Ko-Vorsitzenden Grigorij Melkonjanz fortsetzte, berichteten von stark gestiegenem Druck auf Kandidat:innen – sowohl der loyalen als auch regimekritischen – Opposition und Nötigungen zur Stimmabgabe. Sie dokumentierten unzählige Verstöße gegen das Wahlrecht (https://golosinfo.org/en/articles/146608). Die mehrtätige Stimmabgabe sowie die Internetabstimmung, die bislang nur vereinzelt getestet worden war und nun erstmals in 25 Regionen als Alternative zum Wahlzettel zur Verfügung stand, schufen mehr Möglichkeiten für Manipulationen, die Wähler:innen und Wahlbeobachter:innen immer schwieriger nachweisen können.
Dennoch blieben die historisch gewachsenen, regionalen Differenzen im Grad des – insgesamt stark begrenzten – politischen Pluralismus und der Fairness der Wahlen auch 2023 sichtbar. Während die Regimepartei Einiges Russland in den als elektorale »Sultanate« geltenden Föderationssubjekten wie Baschkortostan und der Oblast Kemerewo nach Parteilisten laut Wahlkommission knapp 70 Prozent der Stimmen erhielt, kam sie in vergleichsweise pluralistischeren Regionen wie Jaroslawl und im Autonomen Kreis der Nenzen auf lediglich 44 bis 47 Prozent.
Ein Beispiel für eine Region mit mehr politischem Wettbewerb ist auch die Republik Chakassien in Sibirien. Sie ist eine der vier Föderationssubjekte, in denen 2018 Gouverneure gewählt wurden, die der »systemischen« Opposition angehörten. Das Regionaloberhaupt Chakassiens, der Kommunist Walentin Konowalow, gab im Unterschied zu seinen drei Amtskollegen sein Amt trotz Behinderungen durch die Zentralregierung nicht auf. Diese schickte 2023 mit Sergej Sokol einen Konkurrenten von Einiges Russland ins Rennen, dem Umfragen zuletzt eine Niederlage vorausgesagt hatten. Wenige Wochen vor der Wahl zog er unter Angabe von Gesundheitsgründen seine Kandidatur zurück und verhinderte somit vorab ein Überraschungsergebnis an der Wahlurne; Konowalow gewann im ersten Wahlgang. Auch bei den regionalen Parlamentswahlen hob sich Chakassien hervor: als einzige Region, in der Einiges Russland nach der Kommunistischen Partei (39 Prozent) nur auf dem zweiten Platz (36 Prozent) landete. Gleichwohl erzielte die Regimepartei dank ihrer Direktmandate die Mehrheit der Parlamentssitze.
Lokalwahlen sind meist pluralistischer als jene auf regionaler Ebene. Ab der zweiten Hälfte der 2010er Jahre hatten oppositionelle Politiker:innen und Aktivist:innen vermehrt Wege in die kommunale Politik gesucht. Im Gegensatz zu den immer stärker kontrollierten nationalen und regionalen Wahlen bot die lokale Ebene Chancen für elektorale Erfolge der Anti-Regime-Opposition und entwickelte sich in einigen Regionen zu einer Arena aktiven politischen Wettbewerbs. Auch beim Einheitlichen Wahltag 2023 blieb die kommunale Ebene die einzige Möglichkeit für regimekritische Kandidat:innen, an Wahlen teilzunehmen. So gelang der Partei Jabloko trotz ihrer pazifistischen Agenda der Einzug in die Stadträte der Regionalhauptstädte Welikij Nowgorod und Jekaterinburg sowie in die Vertretungskörperschaften dreier kleinerer Städte.
Seit 2021 und mit noch größerem Nachdruck seit Kriegsbeginn hat das Regime die Spielräume auch auf kommunaler Ebene weiter verengt. In den sibirischen Städten Tomsk und Nowosibirsk, die 2020 bei Stadtratswahlen durch ungewöhnliche Oppositionserfolge auffielen, wurden Ende 2022 bzw. Anfang 2023 die direkten Bürgermeisterwahlen abgeschafft und einigen regimekritischen Abgeordneten das Mandat entzogen. Bei Lokalwahlen sahen sich alternative Kandidat:innen mit wiederholten Einschränkungen des passiven Wahlrechts und politisch motivierten Wahlausschlüssen konfrontiert. Somit agierte das Regime selbst bei der Zulassung zu Kommunalwahlen zunehmend restriktiver.
Wahlen unter Kriegsbedingungen und ihre Funktionen
Warum aber macht sich das Regime überhaupt die Mühe, Wahlen – zumal unter Kriegsbedingungen – abzuhalten? Welche Rolle spielen dabei subnationale Wahlen? Es gehört zur Strategie der politischen Führung, am regulären Wahlkalender selbst in der aktuellen Kriegssituation festzuhalten. Dadurch soll der Eindruck von Alltag und Normalität bei innenpolitischen Fragen wie Wahlen suggeriert werden. Zweitens sind Wahlen für das Regime von Bedeutung, weil sie Auskunft über seine Fähigkeit geben, die Bevölkerung zu mobilisieren und elektorale Mehrheiten zu organisieren. Sie erlauben es dem Regime, die Loyalität und Disziplin regionaler und lokaler Eliten sowie des administrativen Personals zu überprüfen, was sie zum »Testlauf« für die im März 2024 geplanten Präsidentschaftswahlen macht. Drittens dient die prozedurale Bestätigung der Mandatsträger:innen durch das Elektorat als Legitimationsritual gegenüber der Bevölkerung.
Welch große Bedeutung das Regime seiner elektoralen – oder vielmehr: plebiszitären, d. h. durch Abstimmungen über bereits getroffene Entscheidungen anstelle aus ergebnisoffenem Wettbewerb hervorgehenden, – Legitimation beimisst, spiegelt sich darin wider, dass 2023 ebenfalls Wahlen in den von Russland annektierten ukrainischen Regionen Donezk, Luhansk, Saporishshja und Cherson abgehalten wurden, wenngleich dort Kriegsrecht herrscht. Sie waren im September 2022 infolge völkerrechtswidriger »Referenden« in die Föderation »aufgenommen« worden, obwohl sie nur partiell von Russland kontrolliert werden. Im Mai 2023 hatte Präsident Putin ein Gesetz unterzeichnet, das Wahlen auch in Territorien erlaubt, in denen das Kriegsrecht gilt. Zuvor waren Wahlkämpfe und Abstimmungen unter solchen Bedingungen nach russischem Recht verboten. Die Grenzen der Gebiete, auf denen Russland angab, die Wahlen abzuhalten, waren ebenso unklar wie die Wähler:innenlisten. Gewählt wurde in mobilen und teilweise extraterritorialen, d. h. außerhalb der annektierten Gebiete, in Russland befindlichen, Wahllokalen und unter Präsenz bewaffneter Soldaten. Der Wahlprozess war intransparent und unabhängige Wahlbeobachtung von außen unmöglich. Einiges Russland erhielt den Angaben der Zentralen Wahlkommission zufolge in den vier Territorien zwischen 74 und 83 Prozent der Stimmen. An den Wahlen beteiligen durften sich nur die fünf in der Staatsduma vertretenen Parteien, wobei ausschließlich über Parteilisten gewählt wurde. Die Namen der Kandidat:innen wurden vorab nicht veröffentlicht, womit die Wahlen Parallelen zu den ersten subnationalen Wahlen auf der annektierten Krim im Jahr 2014 aufwiesen. Damit wird ein vierter Zweck des Einheitlichen Wahltags 2023 deutlich: die Bekräftigung von Russlands Anspruch auf die besetzten ukrainischen Territorien und ihre formale Integration in den rechtspolitischen Raum des Landes.
Regionale Differenzen: humanitäre Kosten und ökonomische Auswirkungen des Krieges
Während die Wahlen und ihre Ergebnisse das Bild einer Alltäglichkeit in Russlands Regionen suggerieren, hat der Krieg für die Föderationssubjekte durch die Mobilmachung von Soldaten, die Emigration junger Arbeitskräfte und die Folgen westlicher Wirtschaftssanktionen spürbare Auswirkungen. Diese sind aber regional sehr unterschiedlich ausgeprägt.
Besonders deutlich wird dies bei der Verteilung der menschlichen Kosten des Krieges. Unter den seit Anfang 2022 mobilisierten Streitkräften ist der Anteil ethnischer Minderheiten und Menschen aus ökonomisch weniger wohlhabenden Regionen und ländlichen Gebieten überproportional hoch. Dort stellt sich der Vertragsdienst in der Armee als vergleichsweise attraktive wirtschaftliche und soziale Aufstiegschance dar. In dicht besiedelten und ökonomisch prosperierenden Städten wie Moskau und St. Petersburg hingegen rekrutierte die Armee wenig, was auch im Zusammenhang mit einem höheren Protestpotenzial in den Metropolen zu sehen ist (https://istories.media/stories/2022/10/05/kakie-regioni-otdali-bolshe-vsego-muzhchin-na-voinu).
Dieses Muster bei der Mobilmachung von Soldaten spiegelt sich auch bei den Verlustzahlen wider. Zwar werden offizielle Zahlen zur regionalen Verteilung gefallener Soldaten nicht veröffentlicht und das wahre Ausmaß der Verluste durch die russischen Behörden verschleiert. Es liegen jedoch journalistische und wissenschaftliche Auswertungen von öffentlich zugänglichen Daten wie lokalen Pressemitteilungen und sozialen Medien vor. Diese legen nahe, dass unter den 2022 im Krieg gefallenen Soldaten der russischen Armee ärmere Bevölkerungsgruppen und ethnische Minderheiten wie Burjaten und Tuwiner überproportional stark vertreten sind. Regionale und ethnische Unterschiede in der Sterblichkeit korrelieren stark mit sozioökonomischen Unterschieden. So ist die militärische Sterblichkeitsrate bei Soldaten aus ärmeren Gebieten in Sibirien und dem Fernen Osten am höchsten, für Mobilisierte aus Moskau und St. Petersburg hingegen besonders niedrig (https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/429/sterblichkeit-russischer-soldaten-in-der-ukraine-sterben-angehoerige-ethnischer-minderheiten-wirklich-haeufiger/).
Regionale Unterschiede lassen sich auch bei den Auswirkungen des Krieges auf die Wirtschaft beobachten. Der Wirtschaftsgeografin Natalja Subarewitsch zufolge verzeichneten ökonomisch entwickelte, stärker in die Weltwirtschaft integrierte Föderationssubjekte seit Kriegsbeginn höhere Verluste als strukturschwache und periphere Regionen. Besonders betroffen waren Föderationssubjekte mit einem hohen Anteil sanktionierter Industrien, darunter die auf Holzverarbeitung spezialisierten Regionen im Nordwesten und solche mit ausgeprägter Automobilproduktion, aus denen sich ausländische Unternehmen zurückzogen, wie etwa Kaluga und Kaliningrad. Dort kam es in der verarbeitenden Industrie von Januar bis April 2023 zu Einbrüchen von 16 bis 17 Prozent. Der landesweite Rückgang der Rohstoffindustrie war insbesondere in den ölproduzierenden Regionen Sibiriens (Krasnojarsk, Irkutsk, Tomsk, minus sechs Prozent) und in Russlands bedeutendster gasproduzierender Region, dem nördlich gelegenen Autonomen Kreis der Jamal-Nenzen spürbar, wo sich der Negativtrend nach dem Wegfall der meisten Gasexportmärkte fortsetzte (minus acht Prozent).
Den meisten Regionen hingegen gelang es, sich im zweiten Jahr des Angriffskrieges auf die veränderten Rahmenbedingungen einzustellen. Zum Wachstumsmotor wurden dabei insbesondere die staatlichen Ausgaben für den Rüstungssektor. So verzeichneten Föderationssubjekte mit einer hohen Konzentration von Unternehmen des militärisch-industriellen Komplexes, darunter im Ural, in der Wolgaregion und in Zentralrussland im Zeitraum von Januar bis April 2023 Wachstumsraten in der Industrieproduktion von zehn bis 21 Prozent. Zu den ökonomischen »Profiteuren« der Kriegswirtschaft gehören zudem Regionen, die an die Besatzungs- und Konfliktzonen angrenzen. Sie verbuchen infolge kriegslogistischer Erfordernisse hohe staatliche Investitionen und ein außergewöhnlich hohes Wachstum in der Bauwirtschaft. Zu Zuwächsen im hohen zweistelligen Bereich kommt es in diesem Sektor auch in fernöstlichen Regionen entlang der Transsibirischen Eisenbahn, was durch die Umleitung verschiedener Warenströme auf asiatische Märkte und die damit verbundene Ausweitung der logistischen Infrastruktur bedingt ist.
Der Krieg hat die regionalen Haushalte durch zusätzliche Ausgaben wie die Auszahlungen an Mobilisierte und die Versorgung ukrainischer Bürger:innen, die nach Russland geflohen sind oder verschleppt wurden, neuen Belastungen ausgesetzt. Sie sind noch stärker als zuvor von Subventionen aus dem föderalen Haushalt abhängig. Zusätzlich haben auf Anordnung der Präsidialadministration über 40 Regionen die Schirmherrschaft für Gemeinden und Städte in den annektierten Territorien übernommen und beteiligen sich an Wiederaufbaukosten, entsenden Baumaterial, Ausrüstung sowie Arbeiter:innen und Verwaltungsangestellte. Seit Kriegsbeginn wurden den Gouverneur:innen neue Zuständigkeiten aufgebürdet wie etwa die Mobilmachung und Ausrüstung der Streitkräfte, die Versorgung von Hinterbliebenen und die Aufrechterhaltung der lokalen Wirtschaft. Damit verbunden sind neben den monetären Kosten auch eventuelle Reputationsverluste in der Rolle als Krisenmanager:innen. Stärker als zuvor tragen die Gouverneur:innen aber vor allem die persönliche Verantwortung für die soziale und politische Stabilität in ihren Regionen. Die Integration der regionalen Eliten in die »Machtvertikale« des Präsidenten und ihre politische Abhängigkeit von Putin gewährleistet nach Ansicht von Irina Busygina und Michail Fillipow, dass sie ein ebenso großes Interesse am Fortbestand des aktuellen Regimes haben wie Putin selbst.
Für beträchtliche Teile der Bevölkerung hat sich die finanzielle Situation 2023 im Vergleich zum Vorjahr verbessert. Dies ist eine Folge der Ausweitung von Sozialtransfers an einkommensschwache Familien, der Erhöhung von Mindestlöhnen und Renten sowie der Zahlungen von Wehrsold und Hinterbliebenenrenten, wovon hauptsächlich ärmere und ländliche Gebiete profitierten. Nachdem die Realeinkommen im Jahr 2022 um 1,4 Prozent (inflationsbereinigt) geschrumpft waren, legten sie laut der russischen Statistikbehörde Rosstat im ersten Halbjahr 2023 gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 3,9 Prozent zu. Die größten Anstiege verzeichneten weniger wohlhabende Regionen und solche mit einer ausgeprägten Rüstungsindustrie. Zur positiven Entwicklung der Realeinkommen trug auch die historisch niedrige Arbeitslosenquote von drei Prozent (Stand: Juli 2023) und ein spürbarer Personalmangel auf vielen regionalen Arbeitsmärkten bei. Dieser ist teilweise der demografischen Entwicklung geschuldet und wurde durch die Mobilmachung von Streitkräften und die Abwanderung Hunderttausender Bürger:innen im erwerbsfähigen Alter seit 2022 maßgeblich verschärft. Ökonom:innen stufen diesen Arbeitskräftemangel als zentrales Hindernis für die weitere wirtschaftliche Entwicklung Russlands ein. Infolge des Fachkräftemangels kam es in einigen Branchen, insbesondere im militärisch-industriellen Komplex, zu überdurchschnittlichen Lohnsteigerungen, die wiederum die Erhöhung der Realeinkommen und damit das Gefühl beförderten, einem normalen Alltag nachzugehen.
Die wirtschaftliche Entspannung und Anpassung an die neuen Lebensumstände spiegelt sich auch im Konsumverhalten wider: Bereits seit Ende 2022 beschleunigte sich die Erholung im Gastronomiesektor und auch die Vergabe von Konsum- und Hypothekenkrediten stieg seit dem Frühjahr 2023 erneut an. Daraus lässt sich eine ökonomische Erklärung für das Ausbleiben sichtbarer Unzufriedenheit in der Gesellschaft ableiten.
Lokale Konflikte – lokaler Protest
Wie steht es um die Protestaktivität in Russlands Regionen? Nach der gewaltsamen Unterdrückung der Anti-Kriegs-Kundgebungen in den ersten Wochen nach Russlands Vollinvasion in die Ukraine am 24. Februar 2022 sowie der »Teilmobilmachung« im September 2022 blieben größere Demonstrationen aus. Infolge der durch Repressionen gestiegenen Kosten für öffentlichen Dissens findet Protest gegen den Krieg primär symbolische und subtilere Ausdrucksformen. Dazu gehörten die »Blumenproteste« Anfang 2023: in über 70 Städten legten Menschen Blumen, Kerzen und Spielzeug an Orten mit Ukraine-Bezug nieder, um an die Todesopfer des russischen Angriffs auf die ukrainische Stadt Dnipro zu gedenken.
Proteste im Zusammenhang mit dem Einmarsch in die Ukraine machten der Analyse von Katerina Tertytchnaya zufolge im Zeitraum zwischen Januar 2022 und Februar 2023 etwa drei Viertel aller Proteste aus. 15 Prozent davon fanden in Russlands ethnischen Republiken statt, in denen es insbesondere nach der im September 2022 ausgerufenen Teilmobilmachung vermehrt zu Protestaktionen kam. Eine Auswertung geleakter Daten der Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor zu Protesten im Jahr 2022 legt nahe, dass über die Hälfte der Protestaktionen als Mahnwachen oder stummer Einzelprotest mit Plakaten oder symbolischen Gegenständen stattfanden (https://istories.media/en/stories/2023/03/22/there-arent-protests-in-russia-yet-roskomnadzor-found-them). Für die landesweite Öffentlichkeit bleiben solche Aktionen des stillen Widerstands meist unbemerkt.
Das verbleibende Viertel an Protesten im Zeitraum Januar 2022 bis Februar 2023 bezog sich laut Tertychnaya auf ökologische, sozioökonomische und die lokale Infrastruktur betreffende Anliegen. Im Vergleich zu den Anti-Kriegs-Protesten reagierten die Behörden darauf wie auch in den Vorjahren um ein Vielfaches toleranter. Dies erklärt auch, dass Menschen in den Regionen weiterhin auf die Straße gehen, um ihren Unmut in lokalen Angelegenheiten kundzutun. So versammelten sich im Frühjahr dieses Jahres im sibirischen Nowosibirsk Hunderte Menschen im Protest gegen den Bau von Müllverbrennungsanlangen, während Beschäftigte im an der Wolga gelegenen Autowerk Uljanowsk durch Arbeitsniederlegungen im Mai 2023 eine Lohnerhöhung erwirkten. Im nordkaukasischen Dagestan kam es im August wegen anhaltender Strom- und Wasserausfällen zu wiederholten Straßenblockaden und mehrtägigen Protesten, an denen sich mehrere Hundert Menschen beteiligten.
Auch perspektivisch ist davon auszugehen, dass Proteste in Kommunen und Regionen eher durch lokale Konflikte als durch den Widerstand gegen den Krieg selbst ausgelöst werden. Eine Ausweitung lokaler Aktionen in überregionale Protestbewegungen bleibt aufgrund fehlender Vernetzung und Organisationsstrukturen wenig wahrscheinlich. Zudem hat die patriotische Mobilisierung der Bevölkerung durch den Krieg den Zusammenschluss um Putin verstärkt, was sich in der weiterhin hohen, wenngleich leicht abnehmenden, gesellschaftlichen Unterstützung für die »militärische Spezialoperation« widerspiegelt (zur Interpretation von Umfragen im Krieg s. die Russland-Analysen Nr. 430: https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/430/).
18 Monate nach Kriegsbeginn und fünf Monate vor den anstehenden Präsidentschaftswahlen scheint sich in den Regionen trotz der Auswirkungen des Krieges, die die Föderationssubjekte in unterschiedlicher Weise treffen, eine Anpassung an die veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen als auch die neue Realität unter Kriegsbedingungen vollzogen zu haben.