Nawalnyjs Anwälte verhaftet
Am 13. Oktober 2023 wurden Wadim Kobsew, Alexej Lipzer und Igor Sergunin festgenommen. Schnell kursierte die Vermutung, die Verhaftung stehe im Zusammenhang mit Ermittlungen auf der Grundlage des Artikels 282.1 des russischen Strafgesetzbuchs über die »Mitwirkung in einer extremistischen Organisation«. Die Staatsanwaltschaft ließ zudem Büros und Privaträume sowie die Räumlichkeiten der Moskauer Kanzlei »Dalet« durchsuchen, in der auch Nawalnyjs Verteidigerin Olga Michailowa arbeitet. Sie hält sich zurzeit im Ausland auf. Igor Sergunin war zu diesem Zeitpunkt nach Angaben von Nawalnyj selbst schon seit dem Jahr 2022 nicht mehr mit seiner Verteidigung betraut.
Iwan Shdanow, Direktor von Nawalnyjs Stiftung für Korruptionsbekämpfung (FBK) und zentraler Koordinator in Nawalnyjs Netzwerk, las am 16. Oktober im YouTube-Kanal »Populjarnaja Politika« aus der Anklageschrift vor, die ihm zugespielt worden war. Dort wird den drei Anwälten vorgeworfen, ihren Status dafür genutzt zu haben, »regelmäßige Kommunikation zwischen Anführern und Mitarbeitern einer extremistischen Vereinigung« herzustellen. Die u. a. genannten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Leonid Wolkow, Iwan Shdanow, Ljubow Sobol, Georgij Alburow, Ruslan Schaweddinow, Kira Jarmysch und Marija Pewtschich hätten die Informationen genutzt, um aus dem Ausland ihre »verbrecherischen Pläne« in Russland umzusetzen. Als Ergebnis führt die Anklage laut Shdanow mehrere YouTube-Videos auf, die Nawalnyjs Team zu Beginn der Vollinvasion vom Februar 2022 veröffentlichte und die die russische Aggression scharf kritisieren.
Nawalnyjs Organisation war bereits im Jahr 2021 als extremistisch eingestuft und aufgelöst worden, woraufhin zahlreiche seiner engen Mitstreiter, aber auch viele der regionalen Aktivistinnen und Aktivisten emigrieren mussten. Nawalnyj selbst wurde auf Basis der Einstufung im August 2023 zu zusätzlichen neunzehn Jahren Haft verurteilt. Infolge dieser Verurteilung hatte die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen seine Anwälte aufgenommen.
Die öffentlichen Stellungnahmen wiesen erwartbare Unterschiede auf. Menschenrechtsorganisationen fanden klar verurteilende Worte. Memorial etwa erklärte, der Schritt sende ein Signal an die gesamte russische Anwaltschaft, dass die Verteidigung von Mandanten vor Gericht nunmehr mit Mittäterschaft gleichgesetzt werde. Einige Anwältinnen und Anwälte, die mit politischen Verfahren betraut sind, äußerten sich ebenfalls kritisch bis bestürzt und riefen die organisierte Anwaltschaft dazu auf, sich zu positionieren. Diese scheute hingegen vor Kritik zurück und verwies zunächst auf mangelnde Informationen.
Das Ziel ist die Isolation
Nawalnyjs Team ordnete den Schritt als Versuch des russischen autoritären Regimes ein, Nawalnyj nach seiner Verbringung in eine Haftanstalt mit extremen Sicherheitsvorkehrungen und Einschränkungen des Besuchsrechts nun vollends von der Außenwelt abzuschneiden. Ganz offensichtlich trifft diese Einschätzung zu.
Obwohl sich in Russland seit der Vollinvasion vom Februar 2022 die Repressionen noch einmal merklich verschärft haben, veranschaulicht diese Episode erneut das altbekannte Muster, wie das Verhältnis zwischen Nawalnyj und dem Regime von Zeit zu Zeit eskaliert: Nawalnyj nutzt in demonstrativ naiver Manier die im System verbliebenen Spielräume und macht darauf aufmerksam, dass diese in einem »normalen« Staat Selbstverständlichkeiten seien. Der Staat reagiert, indem er diese Spielräume schließt. Dieser dynamische Prozess erinnert an vergangene Einschränkungen: die Möglichkeit, an Wahlen teilzunehmen, Proteste zu organisieren und Kampagnen zu führen, und schließlich internetbasierte Hilfsmittel zur strategischen Wahl zu verbreiten (Stichwort »Smart Voting«). Jetzt ist Nawalnyj inhaftiert, sein Netzwerk ist zerschlagen und seine Unterstützerinnen und Unterstützer befinden sich größtenteils im Exil. Smart Voting ist durch Zensur und elektronische Wahl unschädlich gemacht. Sein letzter Ausweg, auf die russische Öffentlichkeit Einfluss zu nehmen, verlief über das rechtsstaatliche Überbleibsel des regelmäßigen Kontakts zu seinen Anwälten, der infolge dieses Verfahrens möglicherweise deutlich eingeschränkt und sehr wahrscheinlich stärker überwacht werden wird.
Dabei ist es zwar erwähnenswert, aber am Ende nebensächlich, dass hier wohl tatsächlich das gesetzlich Erlaubte überschritten wurde. Der Anwalt Sergej Jerochow, der den marxistischen Soziologen Boris Kagarlizkij verteidigt, wies darauf hin, dass die Überbringung von Botschaften eines Inhaftierten an die Außenwelt nicht Teil der gesetzlich definierten anwaltlichen Tätigkeit sei. Das unabhängige Onlinemedium Meduza stellte zudem fest, dass Aufzeichnungen aus Gesprächen zwischen Inhaftiertem und Anwalt der Zensur unterliegen, sofern sie nicht direkt die Vertretung vor Gericht betreffen. Dazu gibt es auch ein Urteil des russischen Verfassungsgerichts. Der russische Staat handelt hier also auf dem Papier wahrscheinlich im Rahmen seiner eigenen Gesetze. Die politisch motivierte Inhaftierung Nawalnyjs verdeutlichte aber ein weiteres Mal, dass diese Gesetze und ihre Anwendung (also die Einstufung des FBK als »extremistisch«) genauso wie das Verfahren, in dem Nawalnyj verurteilt wurde, nichts mit Rechtsstaatlichkeit zu tun haben.
Zynisch könnte man formulieren, dass die häufigen Wortmeldungen Nawalnyjs mithilfe seiner Anwälte sogar etwas verwundert haben und nicht mehr recht zu den aktuellen repressiven Bedingungen passen wollten. In jedem Fall wird hier also die Praxis des Justizvollzugs dem derzeitigen Härtegrad des Autoritarismus angeglichen. Ähnlich konzentrischen Kreisen auf dem Wasser, die sich von innen nach außen bewegen, greift die staatliche Repression nun von den Beschuldigten auf ihre Vertreterinnen und Vertreter über.
Ausblick
Die Verhaftung der Nawalnyj-Anwälte verdeutlicht, dass der Kreml Nawalnyj noch immer für gefährlich hält, selbst wenn es sich nur um Wortmeldungen und Ideengebungen handelt, die er aus der Haft an seine Gefolgschaft nach draußen sendet. Wieviel davon bisher allein von Nawalnyj stammte, war jedoch gar nicht so leicht auszumachen. Vor einigen Monaten gab es bei X (vormals Twitter) eine lebhafte – und durch KI-gestützte Ad-Hoc-Analysen angereicherte – Debatte darüber, welcher Anteil der Statements wortwörtlich von Nawalnyj stammt, welcher von seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern ausformuliert wird, und wer dabei womöglich federführend ist (der Computer tippte auf Alburow). Die präzisen Antworten auf diese Fragen sind unerheblich. Wichtiger ist, dass sich Nawalnyjs Team schon zu Zeiten seiner Präsidentschaftskampagne 2017/18 seinen Schreibstil angeeignet hat, für Fälle, in denen er selbst nur Stichworte liefern kann. Sollten ab jetzt auch die Stichworte fehlen, würde das Nawalnyj weiter von seinem Publikum innerhalb und außerhalb Russlands entfernen. Solange er aber am Leben ist, wird es sein Team wohl weiterhin schaffen, Nawalnyjs Botschaften hin und wieder durch selbstverfasste Statements zu ergänzen. Das aber birgt die reale Gefahr der weiteren Eskalation: Der Kreml wird wahrscheinlich nicht davon zurückschrecken, den letzten Schritt zu gehen – sprich: Nawalnyj umzubringen – wenn es dem Regime notwendig erscheinen sollte. Gleichwohl zeigt die Tatsache, dass dies trotz zahlreicher Gelegenheit in den Haftanstalten noch nicht geschehen ist, dass die Inhaftierung aus Sicht des Kremls bisher mehr Vorteile bietet. Dies kann sich jedoch jederzeit ändern.