Schwarze Magie
30 Jahre nach ihrer Verabschiedung gilt die russische Verfassung allgemein als gescheitert. Diese landläufige Meinung gründet sich auf die ersten beiden Kapitel der Verfassung, in denen die Rechte des Einzelnen, die Rechtsstaatlichkeit und die Demokratie garantiert werden. Das Scheitern dieser Bestimmungen, so das Argument, zeigt, dass das russische Grundgesetz eine reine Scheinverfassung ist, die das Wiedererstarken des russischen Autoritarismus nicht verhindern konnte.
Mein demnächst erscheinendes Buch über die russische Verfassung »Why the Russian Constitution Matters. The Constitutional Dark Arts« stellt diese konventionelle Sichtweise in Frage. Es legt dar, dass die russische Verfassung mehr ist als ihre ersten beiden Kapitel. Die darauffolgenden Kapiteln konzentrieren nämlich eine enorme Machtfülle im Amt des Präsidenten. Diese strukturellen Artikel haben in den letzten 30 Jahren eine zentrale Rolle beim Aufbau der Präsidialdiktatur gespielt.
Die russische Verfassung ist daher das Produkt dessen, was ich die »Schwarze Magie der Verfassung« nenne, einer bisher wenig beachteten Verfassungspraxis, die darauf abzielt, Demokratie und Rechte in einem stark zentralisierten Verfassungssystem zu garantieren.
Ich nenne diese Praxis die »Schwarze Magie der Verfassung«, weil sie absichtlich eine undemokratische Maßnahme – die verfassungsmäßige Zentralisierung – als Mittel einsetzt, um Demokratie und individuelle Rechte zu garantieren. Diese verfassungsrechtliche Praxis ist seit den 1980er Jahren immer häufiger anzutreffen und führt zu einem hybriden Verfassungstext, der in ihren ersten Kapiteln Demokratie und Rechte garantiert, während er in den darauffolgenden strukturellen Kapiteln die Macht in einem Organ zentralisiert.
Russlands hybride Verfassung
Die russische Verfassung ist ein konkretes Beispiel für diese Art von hybrider Verfassung. In der Präambel und den ersten Kapiteln werden Demokratie und Schutz der Rechte garantiert. Die Präambel bekräftigt das Bekenntnis des »multinationalen russischen Volkes« zu den individuellen Rechten und Freiheiten und zur »souveränen Staatlichkeit Russlands« und der »Unerschütterlichkeit seiner demokratischen Grundlagen«. In Kapitel 1, in dem die »Grundlagen der Verfassungsordnung« dargelegt werden, wird erklärt, dass Russland ein »demokratischer föderativer Rechtsstaat mit einer republikanischen Regierungsform« ist. Ferner heißt es, dass »der Mensch, seine Rechte und Freiheiten« die »höchsten Werte« sind in einer Verfassungsordnung, die auf »ideologischer Vielfalt« und »politischer Vielfalt« beruht. Schließlich heißt es, dass die Verfassung »die höchste juristische Kraft« hat und dass die »allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts sowie völkerrechtliche Verträge der Russländischen Föderation« »Bestandteil ihres Rechtssystems« sind (Art. 15).
In Kapitel 2 werden Dutzende von politischen und sozialen Rechten aufgeführt, darunter das Recht auf Meinungs-, Bewegungs- und Gewissensfreiheit sowie das Recht auf Leben, Wohnung und Rente. Die Rechte sind an internationale Rechtsnormen und die gerichtliche Durchsetzung gebunden. So heißt es in Artikel 17 Absatz 1: »In der Russländischen Föderation werden die Rechte und Freiheiten des Menschen und des Bürgers gemäß den allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts und in Übereinstimmung mit dieser Verfassung anerkannt und garantiert«. Schließlich können diese Rechte nur dann durch föderales Gesetz eingeschränkt werden, wenn dies »zum Schutz der Grundlagen der Verfassungsordnung, der Moral, der Gesundheit, der Rechte und gesetzlichen Interessen anderer sowie zur Gewährleistung der Landesverteidigung und der Staatssicherheit notwendig ist« (Artikel 55).
In den folgenden Kapiteln der russischen Verfassung wird dagegen eine große Machtfülle auf das Amt des russischen Präsidenten konzentriert. Diese strukturellen Bestimmungen schaffen ein sogennantes kronpräsidiales System, [als Kronpräsidentialismus bezeichnet Partlett präsidentielle und semipräsidentielle Regierungssysteme, in denen Präsidenten die Exekutive sowie die Judikative und andere Staatsorgane dominieren, womit die Gewaltenteilung ausgehebelt wird, Anm. d. Red.] das die Macht des russischen Präsidenten in zweierlei Hinsicht zentralisiert. Erstens wird der Präsident über das System der Gewaltenteilung erhoben, indem ihm eine pseudomonarchische Vormundschaft als »Garant« des gesamten russischen Verfassungssystems übertragen wird. Dies beinhaltet die Befugnis, Dekrete zu erlassen, die Legislative zu kontrollieren und Mitglieder der Justiz und anderer Kontrollorgane zu ernennen. Zweitens macht es den Präsidenten gleichzeitig zum Chef der Exekutive – gewissermaßen zum CEO – des Staates mit weitreichenden Managementbefugnissen, mit denen er Politik gestalten und deren Umsetzung überwachen kann. Dazu gehört auch die Machtvertikale, mit der der Präsident nicht nur den Premierminister kontrolliert, sondern auch die Ministerien sowie die föderale und regionalen Verwaltungen.
Die Schwarze Magie der Verfassung
Die Anzahl der mithilfe Schwarzer Magie verabschiedeten hybriden Verfassungen hat weltweit seit den späten 1980er Jahren deutlich zugenommen. Robert Gargarella beschreibt, wie zunehmend Rechte in lateinamerikanische Verfassungen aufgenommen wurden, allerdings begleitet von einer »ausgeprägt präsidentiellen Organisation der Macht, die auf der Konzentration von Funktionen in den Händen des Präsidenten beruht«.
Zwei Faktoren haben dazu geführt, dass die Schwarze Magie bei der Verfassungsgebung immer häufiger eingesetzt werden. Erstens sind Verfassungen, die demokratische Institutionen, Grundsätze und Rechte garantieren, seit dem Ende des Kalten Krieges zu wichtigen Legitimationsquellen geworden. Zweitens ist die Zentralisierung eine attraktive Form der Staatsführung geblieben, obwohl der Einfluss demokratischer Ideen und Institutionen gewachsen ist.
Die Schwarzen Magier der Verfassungsgebung argumentieren, dass die Zentralisierung die Demokratie und den Schutz der Rechte aus zwei maßgeblichen Gründen wirkungsvoll gewährleisten kann. Erstens wird die Behauptung aufgestellt, dass das allmächtige Amt durch Wahlen bestellt wird und daher auf der Idee der Volkssouveränität fußt. Diese populistische Rechtfertigung beruht auf der Annahme, dass das Volk den souveränen Vertreter effektiv zur Rechenschaft ziehen kann. Zweitens wird diese Behauptung damit begründet, dass die demokratischen und rechtsstaatlichen Garantien in den Verfassungskapiteln die Gerichte in die Lage versetzen, einen möglichen Machtmissbrauch durch die Staatsgewalt oder durch das allmächtige Staatsoberhaupt zu verhindern. Diese legalistische Rechtfertigung betrachtet Verfassungen als primär juristische Texte, die Machtmissbrauch rechtliche Schranken vorschieben (s. hierzu Martin Loughlin (2022) Against Constitutionalism).
Auf die Dauer werden sich diese Rechtfertigungen wohl nicht halten können. Die Geschichte der russischen Verfassung bietet einige Gründe dafür auf. Weder Wahlen noch Gerichte waren in der Lage, den mächtigen russischen Präsidenten zu kontrollieren. Stattdessen konnte der Präsident aufgrund seiner weitreichenden Befugnisse Wahlen und Gerichte in Institutionen verwandeln, die den russischen Autoritarismus eher begünstigen als diesen einzuhegen. Der russische Autoritarismus ist also nicht in Opposition zur russischen Verfassung entstanden, sondern auf der Grundlage der strukturellen Bestimmungen jenseits der ersten beiden Kapitel. Diese Lehre aus der russischen Verfassungsgeschichte ist aus drei Gründen von Bedeutung.
1. Erstens revidiert diese Analyse unser Verständnis von Russland, indem sie das Verfassungssystem aufzeigt, das dem russischen Autoritarismus zugrunde liegt. Die Verfassung zentralisiert die Macht des Präsidenten und ermöglicht es ihm, die Politik zu dominieren und Wahlen zu gewinnen. Der russische Autoritarismus ist also weit mehr als das persönliche Projekt von Wladimir Putin. Vielmehr spielt die Verfassung eine grundlegende Rolle bei der Schaffung der »Autorität« im russischen Autoritarismus.
Diese Erkenntnis hat wichtige Implikationen. Erstens wird deutlich, dass Russlands gescheiterte Demokratie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion keine historische Zwangsläufigkeit war. Im Gegenteil, die Entwicklung wurde maßgeblich durch die Einführung eben jenes Verfassungssystems mit extremer Machtkonzentration im Amt des Präsidenten geprägt. Zweitens bleibt festzuhalten, dass langfristige demokratische Reformen mehr erfordern als nur den Rückzug Putins aus dem Amt des Präsidenten. Um ein System des »Putinismus ohne Putin« zu vermeiden, muss eine neue Verfassungsgrundlage geschaffen werden, die mit der Zentralisierung bricht und die Strukturkapitel der Verfassung so umgestaltet, dass die Macht zwischen den Institutionen ausgeglichen wird. In meinem demnächst erscheinenden Buch behandle ich diese Fragen ausführlich.
2. Zweitens trägt die Verfassungsentwicklung Russlands zu unserem Verständnis der Rolle von Verfassungen im Autoritarismus bei. Die hybriden Verfassungstexte, die im Mittelpunkt der Schwarzen Magie der Verfassungsgebung stehen, werden häufig zu einem zentralen Element autoritärer Regierungsführung. Sie stellen dem Machthaber wichtige Instrumente zur Verfügung, um die Politik zu dominieren. Sie ermöglichen es auch, die zentralisierte Macht des souveränen Diktators in demokratische Sprache zu kleiden und sie damit zu legitimieren. Auf diese Weise bieten diese Schwarze Magie zwei Grundlagen für die Überlebensfähigkeit autoritärer Regime.
Dieses System des konstitutionellen Autoritarismus hat jedoch auch Schwächen: Im Laufe der Zeit ist es anfällig für Rechtsbrüche, Instabilität und staatliche Schwäche. In meinem demnächst erscheinenden Buch werden die Schwächen dieses autoritären Systems ausführlich beschrieben.
3. Drittens lehrt uns die Tatsache, dass die verfassungsmäßige Zentralisierung den Schutz der Rechte und die demokratische Rechenschaftspflicht im Laufe der Zeit wahrscheinlich untergraben wird, eine wichtige Lehre über demokratische Verfassungen. Um eine rechenschaftspflichtige demokratische Regierungsführung und den Schutz von Rechten zu fördern, müssen Verfassungen mehr tun als nur die Rechte des Einzelnen und gewählte Institutionen zu garantieren. Sie müssen auch strukturelle Bestimmungen enthalten, die die Macht zwischen den staatlichen Gewalten in einer Weise verteilen, die Demokratie erst ermöglichen.
Dies ist eine wichtige Erkenntnis für konsolidierte Demokratien. Gewählte Politiker wie Donald Trump behaupten zunehmend, dass unmittelbare Repräsentation und Zentralisierung der beste Weg zur Sicherung der Demokratie sind. Um diesem Trend entgegenzutreten, müssen wir uns auf eine lange Tradition verfassungsrechtlichen Denkens besinnen, die sich gegen Zentralisierung wendet. In meinem demnächst erscheinenden Buch untersuche ich, wie diese Tradition ein ausbalanciertes Verfassungssystem nicht sieht, das nicht nur ein Bollwerk gegen Tyrannei darstellt, sondern auch als ein System, das mit größerer Wahrscheinlichkeit effektive und gute Regierungsführung ermöglicht.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Russland weiterhin eine Herausforderung für den demokratischen Westen darstellt. Diese Herausforderung beruht nicht mehr auf Klassenkampf und der Konkurrenz der Wirtschaftssysteme, wie es während des Kalten Krieges der Fall war. Stattdessen besteht die Herausforderung heute darin, dass ein zentralisiertes Verfassungssystem demokratische Ziele und den Schutz der Rechte besser erreichen kann. Um diese Herausforderung zu bewältigen, muss man sich auf eine ältere Tradition besinnen, die nicht nur die Probleme einer zentralisierten Macht, sondern auch die Vorteile einer ausbalancierten Gewaltenteilung in der Verfassung aufzeigt.