Die Verfassung als Grundlage für die Vernachlässigung der Menschenrechte von Frauen
Als von 1991 bis 1993 in Russland um die Verfassung gerungen wurde, blieben die Menschenrechte von Frauen weitestgehend außen vor. Die Autor:innen der Entwürfe, meist Männer, befassten sich primär mit der Wahrung der Menschenrechte der ersten Generation, die als vorrangig eingestuft wurden: dem Recht auf Leben, Freiheit, Eigentum, der Versammlungsfreiheit, der Freizügigkeit usw. Nicht alle Verfassungsentwürfe garantierten dabei explizit die Menschenrechte von Frauen, auch der Entwurf des Friedensnobelpreisträgers Andrej Sacharow nicht, der sich für Menschenrechte eingesetzt hatte. Nur einer der Entwürfe wies einen gesonderten Artikel über die Gleichstellung von Frauen und Männern auf. Alle übrigen verankerten das Gebot der Geschlechtergleichheit in der »Gleichstellungsklausel«, einer Bestimmung, die zwar den Grundsatz der Gleichheit festschrieb, aber ohne ein ausdrückliches Diskriminierungsverbot. Der endgültige Verfassungstext garantierte in Artikel 19 Abs. 3 den Frauen gleiche Rechte: »Mann und Frau haben gleiche Rechte und gleiche Möglichkeiten, diese zu verwirklichen«.
War das eine Errungenschaft oder ein Versagen? Heute, dreißig Jahre später, ist offensichtlich, dass eine solche, minimale Bestimmung den Weg für eine verfassungsrechtliche Vernachlässigung der Menschenrechte von Frauen ebnete. Andere kollektive Rechte (beispielsweise die von Indigenen) wurden weitergehend durch ein spezielles föderales Gesetz garantiert. Frauen jedoch erfuhren nie eine derartige Beachtung, trotz intensiver Versuche, Frauenrechte auf die Tagesordnung der Legislative zu setzen.
Die Institutionen, die sich in den 1990er Jahren mit der »Frauenfrage« befassten, waren maßgeblich durch das sowjetische Erbe geprägt. Das »Komitee sowjetischer Frauen«, das in der Sowjetunion Frauen repräsentierte, wurde nach dem Zusammenbruch der UdSSR in den »Verband russischer Frauen« umgewandelt, eine semiunabhängige Nichtregierungsorganisation, die Lobbyarbeit für die Interessen von Frauen betrieb. In dieser Zeit richtete die Staatsduma, die 1993 gleichzeitig mit der neuen Verfassung als untere Kammer des russischen Parlaments ihre Arbeit aufnahm, den Ausschuss für die Angelegenheiten von Frauen, Familien und der Jugend (später auch von Kindern) ein, der zusammen mit der Regierung und anderen Behörden für die »Frauenfrage« verantwortlich war.
Aufgrund des Bestrebens der Russischen Föderation, die Demokratie zu stärken und sich in die internationale Rechtsordnung zu integrieren, verfolgte der Ausschuss die internationale Agenda für Frauenrechte sehr aufmerksam. Der Ausschuss förderte aktiv eine Gesetzgebung sowie politische Leitlinien, die Frauenrechte garantieren sollten. Ein Beispiel ist die »Richtlinie zur Verbesserung des Status von Frauen in der Russischen Föderation« von 1996, die bis 2004 in Kraft und ein Ergebnis des russischen Engagements für die Aktionsplattform von Peking war. 1997 legte der Ausschuss den Gesetzentwurf »Über die Grundlagen des sozialen und rechtlichen Schutzes vor Gewalt in der Familie« vor, der allerdings im Juni 1997 von den Initiator:innen wieder zurückgezogen wurde. Das war einer von vier Versuchen, ein eigenes Gesetz zur Verhütung von Gewalt gegen Frauen auf den Weg zu bringen. 2003 schließlich wurde der Gesetzentwurf »Über staatliche Garantien gleicher Rechte und Freiheiten von Männern und Frauen sowie gleicher Möglichkeiten, diese zu verwirklichen« nach mehrjähriger Debatte in die Staatsduma eingebracht. 2008 wies die russische Regierung den Entwurf mit dem Verweis zurück, dass entsprechende gesetzliche Garantien schon vorhanden wären.
Zwischen 2016 und 2020 wurde jeder Gesetzentwurf zur Gleichstellung der Geschlechter oder zu Gewalt gegen Frauen mit einem expliziten Verweis auf traditionelle Werte vorgelegt. Gleichzeitig haben bis heute vor allem politische Leitlinien wie »Richtlinien« [im Russischen »Konzeption«, ein Dokument der strategischen Planung, Anm. d. Red.] oder »Strategien« Menschenrechte von Frauen reguliert. Es ist kein Zufall, dass das Regime eher politische Leitlinien als Gesetze einsetzt. Im russischen System der Rechtsquellen stellt eine »Richtlinie« ein System miteinander verbundener Ansätze und Ansichten zu bestimmten Phänomenen dar. Es ist ein rechtspolitisches Dokument, das Richtlinien für die Behörden vorgibt, während es gleichzeitig den Standpunkt des Staates darlegt. Russland hat für fast jeden Regulierungsbereich eine Richtlinie: Es gibt Richtlinien zur Außenpolitik, zur Atompolitik, zur öffentlichen Verwaltung, zur Hochschulbildung, zur Bevölkerungspolitik usw. Eine andere Art politische Leitlinie – eine »Strategie« – stellt ein System spezifischer Schritte dar, mit denen bestimmte Ergebnisse erreicht werden sollen. Es ergänzt Gesetze und andere politische Leitlinien. 2017 legte Russland eine »Nationale Strategie für Maßnahmen zur Förderung der Interessen von Frauen für 2017 bis 2022« vor, die 2022 erneuert und bis 2030 verlängert wurde.
Angesichts fehlender spezieller Gesetze haben politische Leitlinien die Lücke gefüllt. Sie spiegeln den Standpunkt des Staates zu den Menschenrechten von Frauen wider, bieten aber keine rechtlichen Garantien, sondern bauen eher auf dem bestehenden Minimum an zumeist negativen Rechten auf. Durch das Fehlen von Gesetzen sind Frauenrechte abhängig von der konkreten Ausprägung staatlicher Politik und ihrer Launen. Und da Putins Regierung sich der Ideologie »traditioneller Werte« verschrieben hat und seine Politik auf der Grundlage kultureller Souveränität gestaltet, werden Frauenrechte ständig angezweifelt und sind deswegen in Gefahr.
Frauenrechte und Gleichstellung der Geschlechter im Verfassungsrecht
Die Verfassung von1993 enthält keine Bestimmungen für eine potenzielle Umsetzung spezieller Maßnahmen zur Gewährleistung der Menschenrechte von Frauen. Allerdings legen Art. 15 Abs. 4 und Art. 17 Abs. 1 den Vorrang von internationalen Verträgen fest, die die Russische Föderation ratifiziert hat, falls die Gesetzgebung diesbezüglich Lücken aufweist oder zum internationalen Recht im Widerspruch steht. Das bedeutet im Grunde, dass internationale Verträge, insbesondere das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (engl.: CEDAW), im Falle einer Rechtslücke als direkte Quelle des Rechts fungieren, was beim genannten Übereinkommen die Menschenrechte von Frauen betrifft. Somit können aufgrund dieser Bestimmung der Verfassung spezielle Maßnahmen ergriffen werden.
Die Verfassung von 1993, die 2020 beträchtlich geändert wurde, bietet mit ihren minimalistisch garantierten Rechten (was auch als Modell der formalen Gleichstellung – formal equality model – bezeichnet wird) potenziell einen Rahmen für Geschlechterstereotypisierung und lässt die Möglichkeit von genderspezifischer Diskriminierung in Form von speziellen Bestimmungen in Bezug auf Mutterschaft und Familie zu. Die Verfassung enthält Bestimmungen zur Unterstützung »der Familie, der Mutterschaft, Vaterschaft und Kindheit« (Art. 7 Abs. 2) und legt ausdrücklich fest, dass Mutterschaft, Kindheit und die Familie unter dem Schutz des Staates stehen (Art. 38 Abs. 1). Es ist bezeichnend, dass die Vaterschaft bei dieser Schutzbestimmung außen vor bleibt, wodurch unter dem Mantel eines verfassungsrechtlichen Schutzes Geschlechterstereotypisierung ermöglicht wird.
Auch bei der Rechtsprechung des russischen Verfassungsgerichts fällt auf, dass geschlechtsspezifische Diskriminierung und Menschenrechte von Frauen nur selten Gegenstand seiner Urteile und Beschlüsse waren. Darüber hinaus kommen viele der Anträge, die vor das Verfassungsgericht gelangen, von Männern, die angeblich geschlechtsspezifisch diskriminiert wurden. Einer der markanten russischen Fälle, der vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) landete – Markin vs. Russische Föderation – ist ein solcher Fall: Dort hatte ein männlicher Beschwerdeführer in einem Verfahren zu geschlechterspezifischer Diskriminierung in Bezug auf eine Elternzeit Recht bekommen, und zwar aufgrund der Lücke in den Verfassungsbestimmungen, die Mutterschaft und Kindheit schützen, aber nicht die Vaterschaft.
Wissenschaftler:innen haben darauf hingewiesen, dass der besondere Schutz der Mutterschaft, einschließlich des Schutzes am Arbeitsplatz und der Vergünstigungen für Mütter, wie auch der reproduktiven Rechte von Frauen, ironischerweise Hauptgegenstand von Beschwerden von Männern waren, die wegen angeblicher geschlechterspezifischer Diskriminierung vor das Verfassungsgericht zogen. Die Rechtsprechung, die durch Männer angeregt wurde, die gegen eine vorgeblich bevorzugende Behandlung von Frauen klagten, ist beträchtlich umfangreicher als jene, die aufgrund von Diskriminierungsklagen von Frauen erfolgte. Männer haben Klagen über eine bevorzugte Behandlung von Frauen in der Rentengesetzgebung eingereicht (das Renteneintrittsalter von Frauen liegt fünf Jahre unter dem von Männern). Das Gleiche betrifft den exklusiven Zugang von Frauen zum Mutterschaftskapital (eine besondere bevölkerungspolitische Maßnahme, die 2006 eingeführt wurde, um die Geburt von zwei oder mehr Kindern pro Frau anzuregen). Daneben spielen auch Beschäftigungsgarantien eine Rolle (das Verbot, Frauen während einer Schwangerschaft oder des Mutterschaftsurlaubs zu entlassen), oder die Pflicht zum Wehrdienst, die ausschließlich für Männer besteht.
Im Unterschied dazu umgingen Frauen oft das Verfassungsgericht, um sich direkt an den EGMR zu wenden, wobei deren Beschwerden sich auf geschlechtsspezifische Gewalt bezogen. Von 2019 bis 2021 wurden beim EGMR 16 Beschwerden aus Russland eingereicht, die häusliche Gewalt betrafen. Davor hatte der EGMR 2018 weitere vier Fälle der Russischen Föderation zugestellt. Neben anderen Fragen waren die Beschwerden russischer Frauen beim EGMR wegen einer Verletzung ihrer Menschenrechte einer der wichtigen Gründe für den Streit zwischen dem EGMR und dem russischen Verfassungsgericht. Dieser trug maßgeblich zu dem Bestreben Russlands bei, sich gegen den Vorrang internationalen Rechts im russischen Rechtssystem zu wenden.
Die Situation hinsichtlich des »Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt« (der Istanbul-Konvention) unterstreicht Russlands grundlegendes Problem mit Menschenrechten von Frauen. Das Modell formaler Gleichstellung hat zusammen mit den protektionistischen Verfassungsbestimmungen zu einer Stärkung von Geschlechterstereotypen geführt. Das wiederum mündete in eine Zurückhaltung der Regierung, mehr Frauenrechte gesetzlich zu verankern, da Männer sich marginalisiert fühlten und ihre Beschwerden vor das Verfassungsgericht brachten. Diese Zurückhaltung ist ein Grund dafür, warum die Gesetzgebung zu geschlechterspezifischer Gewalt verheerend ist. Der offene Widerstand, der Istanbul-Konvention beizutreten, ging 2020 mit Gesetzesänderungen einher, bei denen mehrere Gesetze und Gesetzbücher nun den Vorrang innerrussischer Gesetze vor internationalem Recht postulieren. Das Zivilgesetzbuch, die Zivilprozessordnung, die Prozessordnung für Schiedsgerichte, die Verwaltungsrechtliche Prozessordnung und die Strafprozessordnung wurden durch folgende Bestimmung ergänzt: »Die Anwendung von Bestimmungen internationaler Verträge in einer Auslegung, die der Verfassung der Russischen Föderation widerspricht, ist unzulässig.« Das warf Frauen praktisch auf das protektionistische Modell formaler Gleichstellung zurück, das im russischen Recht besteht. Dort werden Frauen nicht zu einer aktiven Haltung ermutigt, sondern sollen warten, dass der Staat ihnen Beihilfen gewährt.
Wie steht es um die Zukunft der Menschenrechte von Frauen in Russland?
Die Verfassungsänderungen von 2020 und die weitere Gesetzgebung, die auf »traditionelle Werte« und den Schutz der Familie ausgerichtet ist, haben auch eine Diskussion über Russlands Platz im Europarat und in anderen internationalen Organisationen ausgelöst. Schon bevor Russland im März 2022 wegen des Überfalls auf die Ukraine aus dem Europarat ausgeschlossen wurde, hatte es Stimmen gegeben, die meinten, es sei in Russlands Interesse, den Europarat zu verlassen, weil letzterer eine politisch voreingenommene Haltung gegenüber Russland einnehme. Das zeige sich in den Urteilen des EGMR zu Fällen häuslicher Gewalt. Am 14. Februar 2023 erklärte Wladimir Putin, dass »einige Urteile dieses Gerichts [des EGMR] offen politisiert sind, […] was zuletzt nicht mehr hinnehmbar war«, womit er das Problem im Kern zusammenfasste.
Seit Beginn des großangelegten Angriffskrieges gegen die Ukraine ist die Rhetorik der Regierung konservativer und nationalistischer geworden. 2022 und 2023 wurde in Russland eine ganze Reihe repressiver Gesetze verabschiedet, die unmittelbar die Menschenrechte verletzen. Angesichts des Umstandes, dass Putin sich auf einen Kampf gegen »Feinde« konzentriert, und aufgrund der Isolierung Russlands wegen dessen »Kampfes für die rechte Sache«, sind Frauen wieder einmal Opfer einer Gesetzgebung geworden, die ständig und konsequent ihre Menschenrechte verletzt, insbesondere ihre reproduktiven Rechte. Darüber hinaus sind Frauen, da sie sich aktiv an Protesten gegen den Krieg beteiligen, während der Haft, in Gerichtsverfahren und bei der Verurteilung strenger behandelt worden, wie diverse Berichte zeigen. Frauen werden trotzdem weiterhin für ihre Rechte und Freiheiten kämpfen, vor Gericht und auf der Straße – in der Hoffnung, dass sich etwas ändert.
Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder