Politische Gefangene und ihre Schlussworte vor Gericht

Gefangen in Russland

In Russland verfolgt das herrschende autoritäre Regime seit vielen Jahren Menschen, die sich friedlich für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, gegen Korruption, Umweltzerstörung oder Homophobie eingesetzt haben. Nach Demonstrationen gegen Wahlfälschungen, gegen willkürliche Verhaftungen und gegen Russlands Überfall auf die Ukraine wurden Zehntausende verhaftet und für Tage oder Wochen in Gefängnissen festgehalten. Viele andere werden als »Agenten« stigmatisiert oder haben das Land wegen der Repressionen verlassen.

Mehrere hundert Menschen wurden in politisch motivierten Strafprozessen zu langjährigen Haftstrafen von fünf, zehn oder gar 20 Jahren verurteilt oder müssen in unfairen Verfahren mit solchen Urteilen rechnen. Die in Russland zwangsaufgelöste Menschenrechtsorganisation Memorial erkennt sie als politische Gefangene an.

121 Menschen werden ausschließlich aus politischen Gründen verfolgt, 381 vordergründig auch wegen ihrer religiösen Überzeugungen. 80 davon sind Krimtataren, die seit der Besetzung und völkerrechtswidrigen Annexion der Krim im Jahr 2014 in ihrer Heimat Repressionen ausgesetzt sind. Vorwand für die Verfolgung ist die angebliche Mitgliedschaft in einer in Russland als Terror-Organisation eingestuften Gruppierung. 127 sind Zeugen Jehovas, deren Religionsgemeinschaft der russische Staat seit 2017 als »extremistisch« bezeichnet.

Diese Menschen brauchen Unterstützung. Nichts ist schlimmer für sie, als vergessen zu werden.

Daher dokumentiert die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) gemeinsam mit dem Menschenrechtszentrum Memorial das Schicksal dieser Menschen. Wir rufen zu Solidarität mit allen Menschen in Russland auf, die sich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einsetzen oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung verfolgt werden.

Die Datenbank ist abrufbar unter: https://gefangen-in-russland.de/

»Ich bitte alle Bürger der Ukraine um Verzeihung«

Roman Ivanov

Am 6. März 2024 hat ein Gericht in Korolev bei Moskau den 50-jährigen Journalisten Roman Ivanov zu sieben Jahren Haft in einer Strafkolonie verurteilt. Er hatte in drei Posts in sozialen Netzwerken über die Verbrechen der russländischen Armee im ukrainischen Buča, über einen Bericht der Vereinten Nationen zu Kriegsverbrechen der russländischen Armee und über die Bombardierung ziviler Infrastruktur in der Ukraine geschrieben. Am 11. April 2023 wurde er nach einer Hausdurchsuchung verhaftet und wegen »Verbreitung von Falschnachrichten über die russländische Armee« angeklagt. Wir dokumentieren sein am 5. März gehaltenes Schlusswort vor Gericht.

Euer Ehren, ich habe kein Schlusswort vorbereitet. Daher werde ich einfach sagen, was mir durch den Kopf geht.

Ich möchte hier nicht über die Arbeit von Journalisten sprechen und über die Schwierigkeiten, die sie in Russland haben. Denn es gibt in Russland keinen Journalismus mehr. Ich will kein Urteil über das Justizwesen und über dieses Gericht abgeben, denn ein Justizwesen, das nach rechtsstaatlichen Prinzipien verfährt, gibt es in Russland nicht mehr. Ich will nicht über Politik sprechen, denn eine solche gibt es in Russland auch nicht mehr. Ich will einfach von uns sprechen, von den Menschen in Russland. Davon, dass wir alle glücklich sein wollen.

So ist der Mensch geschaffen, er träumt davon, glücklich zu sein. Sind diejenigen glücklich, die diesen Strafprozess gegen mich angestrengt haben, die ein Urteil über mich sprechen, die mich bewachen? Während ich unglücklich bin und meine Familie unglücklich ist? Natürlich nicht. Die Frage lautet also, warum wir um uns herum Schmerz und Leid verbreiten, warum unser Land sich in eine Lawine verwandelt hat, die alles unter Schmerz und Leid vergräbt.

Als unabhängiger Journalist in Korolev habe ich versucht, jedes menschliche Leid wahrzunehmen, allen zu helfen, die ein Problem haben. Eine der schrecklichsten Folgen dieses Prozesses wird für mich wohl sein, dass ich nicht mehr über die Probleme der Menschen in Korolev berichten kann. Dass ich ihnen nicht mitteilen kann, was in der Stadt vor sich geht.

Vielleicht rede ich ein wenig wirr. Ich habe vom Glück gesprochen. Glück kann sich nur im Umfeld von Menschen verbreiten, die selbst glücklich sind. Ich betrachte mich als einen glücklichen Menschen, weil ich Freunde habe, die jederzeit bereit sind, mir zu helfen. Ich habe eine Familie, mit der ich jedoch seit zehn Monaten nicht mehr sprechen kann. Ich habe eine Frau, die ich liebe. Ich bin der glücklichste Mensch auf der Welt, weil sie meine Frau werden wollte. Sie versuchen, mich unglücklich zu machen. Ich weiß nicht, wozu Ihnen das dient. Mir tut meine Familie leid, meine Frau. Denn wir hatten gemeinsame Pläne, Familienpläne. Wir wollten Eltern werden. Jetzt ist ungewiss, was daraus wird.

Ich weiß nicht, warum ich unglücklich gemacht werden soll. Ich verstehe das nicht. Ich werde trotzdem glücklich sein. Und als glücklicher Mensch um mich herum Güte und Glück verbreiten. Ich zürne niemandem. Auch nicht jenen, die die Tür zu meiner Wohnung aufgebrochen und dort alles durchwühlt haben. Ich zürne niemandem. Zürnen ist falsch.

Ich habe von Beginn an gesagt, dass die Spezialoperation ein Verbrechen ist. Vom ersten Tag an habe ich den Menschen gesagt, dass sie nichts als Unglück und Leid bringt. Vermutlich haben wir alle als Kinder Maeterlincks »Blauen Vogel« gelesen. Dort geht es um die Suche nach dem Glück. Darum, diesen Vogel in der Hand zu halten. Der schrecklichste Moment in diesem Buch ist, als Tyltyl den Blauen Vogel im Palast der Königin der Nacht sucht. Dazu muss er eine Tür zu jener Höhle öffnen, hinter der sich der Krieg befindet. Er öffnet sie nur für eine Sekunde und schlägt sie sofort wieder zu. Etwas Schrecklicheres hat Tyltyl noch nie im Leben gesehen. Diese Tür ist heute nicht nur einen Spalt breit geöffnet, sie steht sperrangelweit offen.

Wenn ich unglücklich bin, wird auch meine Familie unglücklich sein. Und dieses Schicksal wird früher oder später jeden in diesem Land ereilen. Das Unglück verbreitet sich heute wie eine Lawine.

Zum Schluss will ich von einem ganz gewöhnlichen Ereignis erzählen, das mich im Herz und in der Seele ergriffen hat.

Meine Frau und ich sind im Sommer 2018 in die Ukraine gefahren, einfach mit dem Auto in den Urlaub in die Nähe von Odessa. Alle haben mir damals gesagt, dass man da nicht hinfahren kann, dass man mich als Russen erkennen und dann umbringen werde. Nichts dergleichen ist passiert. Wir sind an der Küste entlang durch das gesamte Gebiet Odessa gefahren, bis nach Viteev an der Grenze zu Rumänien. Wir hatten ein Zelt dabei und überall dort haltgemacht, wo Touristen dies eben tun. Es waren wahnsinnig viele Ukrainer aus vielen verschiedenen Städten da. Und selbst die Leute in Zelten mit Ukrainefahne haben nichts gesagt. Keinerlei Vorwürfe. Obwohl der Krieg schon in Gange war. In Donec’k, in Luhans’k. Wir waren überall willkommen, haben uns mit allen hervorragend verstanden. Weil wir nicht in einem Panzer dort hingefahren sind. Weil wir nicht mit dem Recht des Stärkeren kamen.

Ich war damals erschüttert, dass man in der Ukraine praktisch niemanden aus Russland traf. Der Sommer am Schwarzen Meer ist wunderschön, alle machen Urlaub – Ukrainer, Polen, Leute aus dem Baltikum, Moldauer aus Transnistrien. Aber fast niemand aus Russland. Es hat mir im Herzen wehgetan, dass dieses verbrecherische Regime unsere Völker, Menschen, die sich so nahe standen, auseinandergerissen hat.

Als wir unser Zelt in Lebedivka aufgebaut hatten, wo es sehr viele Camping-Touristen gibt, haben wir eine Familie aus der Nähe von Kiew kennengelernt, aus Bila Cerkva. Ein Paar mit zwei Kindern. Ein Junge, ungefähr dritte Klasse, und ein etwas jüngeres Mädchen. Wir haben uns angefreundet, zusammen Brettspiele gespielt, wir hatten viel Spaß. Aber mir ist aufgefallen, dass die Kinder ein wenig angespannt wirkten. Das erschien mir seltsam. Bis dies passierte, es war ein Schock: Der Junge fragte mich, ob wir wirklich aus Russland kommen. Wir sagten, ja, aus Russland, und er fragte: Wirklich aus Moskau? Ja, naja, nicht ganz, aus Korolev, einer Stadt in der Nähe von Moskau. Eine ganze Weile sagte er gar nichts und dann fragte er völlig ernst, ohne jeden Spaß: »Und Sie werden uns nicht umbringen?« Es ist eine Untertreibung, wenn ich sage, dass ich schockiert war. Ich war erschüttert, von dem, was bereits passiert war und von dem Gedanken an das, was noch passieren konnte.

Ich habe mit den Eltern gesprochen, sie gefragt, warum die Kinder so etwas denken. Der Vater sagt: Na, wegen des Kriegs im Donbass, sie lernen in der Schule, dass Russland einen Angriff auf die Ukraine plant. Ich habe die Eltern gebeten, den Kindern zu erklären, dass gewöhnliche Russen, normale Menschen aus Russland, den Ukrainern nichts Böses wollen, dass das Problem bei Russlands oberster Staatsführung liegt.

Das ist einige Jahre her, jetzt sind wir im Jahr 2024, und mich quält der fürchterliche Gedanke, dass ich diese Kinder betrogen habe, als ich ihnen gesagt habe, sie sollen keine Angst haben, es wird nichts passieren, wir werden sie nicht umbringen. Wir bringen sie um, das ist eine bittere Tatsache. Ich weiß nicht, was mit dieser Familie passiert ist, nur dass auch auf Bila Cerkva Raketen niedergegangen sind. Aber ich werde für immer an sie denken. Ich vermute, wenn ich sie je wiedersehen sollte, wird es sehr schwer sein, sich mit ihnen zu unterhalten. Wie früher wird es nicht mehr sein.

Ich habe meinen ersten Post über Buča verschickt, damit die Menschen in Russland sehen, wie furchtbar der Krieg ist. Dass er nichts als Angst, Schmerz, Leid, Zerstörung und Verlust bringt. Über ein anderes Land und über unseres auch. Tausende Familien haben allernächste Angehörige verloren. Väter, Kinder, Söhne sind nicht zurückgekommen. Und in anderen Familien hat man jeden Tag Angst vor einer Todesnachricht.

Wir müssen verstehen, dass all das, was geschehen ist, unsere Schuld ist. Ich bekenne: Auch ich trage Schuld daran. Als Bürger Russlands, der dies zugelassen hat, der es dem Regime erlaubt hat, solche fürchterlichen Entscheidungen zu treffen. Als Journalist, der die Gesellschaft nicht erreicht hat, ihr nicht erklären konnte, dass das Recht des Stärkeren ins Mittelalter gehört, dass wir im 21. Jahrhundert leben und dass es schrecklich und primitiv ist, sich an tumben Gefühlen zu berauschen.

Was können wir jetzt noch tun? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Aber ich bitte alle Bürger der Ukraine, denen unser Land Leid gebracht hat, denen es Verwandte und Freunde geraubt hat, um Verzeihung. Ich bitte nicht im Namen des ganzen Landes, sondern als Bürger der Russländischen Föderation, Roman Viktorovič Ivanov. Ich knie nieder vor den Angehörigen der Ermordeten von Buča. Ich weiß nicht genau, wer diese Menschen ermordet hat, aber ihr Tod ist eine Folge der Entwicklung in unserem Land. Danke.

Übersetzung aus dem Russischen von Volker Weichsel

Quelle: Menschenrechtszentrum Memorial und https://zeitschrift-osteuropa.de/blog/ich-bitte-alle-buerger-der-ukraine-um-verzeihung/.

»Ich bedaure und bereue nichts«

Oleg Orlov

Am 27.2.2024 wurde der Bürgerrechtler Oleg Orlov in Moskau zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Der Vorwurf: Er habe Russlands Armee diskreditiert. Der 1953 geborene, ausgebildete Biologe Orlov beteiligte sich 1988 an der Gründung der Menschenrechtsvereinigung Memorial. In den 1990er Jahren dokumentierte er Menschenrechtsverletzungen in den postsowjetischen Kriegen, zunächst vor allem im Südkaukasus, dann in Tschetschenien. Von 1999 bis zur gerichtlich verfügten Auflösung von Memorial im Dezember 2021 leitete er die Nordkaukasus-Arbeit der Organisation. Im März 2023 wurde ein erstes Strafverfahren gegen den damals 70-Jährigen eröffnet, in dem er zu einer Geldstrafe verurteilt wurde. Die Staatsanwaltschaft focht das Urteil an. Zum Wesen der Vorwürfe und des Prozesses hat Orlov in seinem Schlusswort vor Gericht am 26.2.2024 alles Notwendige gesagt. Wir dokumentieren dieses Schlusswort.

Dieser Gerichtsprozess wurde an jenem Tag eröffnet, an dem die schreckliche Nachricht vom Tod Aleksej Naval’nyjs Russland und die gesamte Welt erschütterte. Auch mich hat sie erschüttert. Ich habe sogar erwogen, auf dieses letzte Wort zu verzichten. Wir sind alle noch im Schock, wem ist denn heute nach Worten? Doch dann dachte ich: Dies sind alles Glieder der gleichen Kette. Aleksejs Tod, genauer: seine Ermordung, die strafrechtliche Verfolgung anderer Regimekritiker, darunter ich selbst, die Erstickung der Freiheit in diesem Land, die Invasion russländischer Truppen in die Ukraine. Daher habe ich mich doch entschlossen.

Ich habe kein Verbrechen begangen. Ich stehe wegen eines Zeitungsartikels vor Gericht, in dem ich das politische Regime, das in Russland entstanden ist, totalitär und faschistisch genannt habe. Der Artikel wurde vor mehr als einem Jahr geschrieben. Damals dachten einige meiner Bekannten, ich würde zu dick auftragen.

Heute ist vollkommen offensichtlich, dass ich kein bisschen übertrieben habe. Der Staat hat nicht nur die Gesellschaft, die Politik und die Wirtschaft wieder unter seine Kontrolle gebracht, sondern strebt auch eine vollständige Kontrolle der Kultur und des wissenschaftlichen Denkens an, er dringt in das Privatleben ein. Er ist total.

In nur gut vier Monaten, die seit dem ersten gegen mich hier geführten Prozess vergangen sind, haben zahlreiche Ereignisse gezeigt, wie unser Land immer tiefer und tiefer in diesen Abgrund stürzt.

Ich nenne nur einige wenige, von unterschiedlicher Tragweite:

  • In Russland sind mittlerweile einige Bücher russischer Gegenwartsautoren verboten;
  • eine gar nicht existierende »LGBT-Bewegung« wurde verboten. Konkret bedeutet das eine dreiste Einmischung des Staats in das Privatleben der Menschen;
  • an der Moskauer Wirtschaftshochschule ist es Prüfungskandidaten verboten, »ausländische Agenten« zu zitieren. Bevor Studenten sich mit einem Thema befassen, müssen sie nun zuerst die Liste der ausländischen Agenten pauken;
  • der bekannte Soziologe und linke Publizist Boris Kagarlickij wurde wegen einiger weniger Worte über die Ereignisse in der Ukraine, die von der offiziellen Darstellung abwichen, zu fünf Jahren Freiheitsentzug verurteilt;
  • eine Person, den die Propagandisten »nationaler Führer« nennen, sagt öffentlich über den Beginn des Zweiten Weltkriegs: »Die Polen haben letztlich durch ihr Taktieren Hitler gezwungen, den Zweiten Weltkrieg eben in Polen zu beginnen. Warum begann der Krieg genau in Polen? Weil das Land nicht zu Kompromissen bereit war. Hitler blieb zur Umsetzung seiner Pläne nichts anderes, als mit Polen zu beginnen.«

Wie bezeichnet man eine politische Ordnung korrekt, in der diese Dinge geschehen? Meiner Ansicht nach gibt es hier keinen Zweifel. Leider hatte ich in meinem Artikel recht.

Verboten ist nicht nur öffentliche Kritik, sondern jedes eigenständige Urteil. Man kann für Dinge bestraft werden, die, so sollte man meinen, mit Politik oder Regimekritik nichts zu tun haben. In keinem Bereich der Kunst ist freier Ausdruck noch möglich, es gibt keine freien Geistes- und Sozialwissenschaften mehr, es gibt auch kein Privatleben mehr.

Jetzt einige Worte zu den gegen mich erhobenen Vorwürfen, die in vielen ähnlichen Prozessen auch gegen andere Kriegsgegner erhoben werden.

Ich habe zu Beginn dieses Verfahrens erklärt, dass ich mich daran nicht beteiligen werde und hatte daher Zeit, während der Sitzungen Franz Kafkas Roman »Der Prozess« zu lesen. Unsere heutige Lage hat einiges gemeinsam mit der Lage, in die Kafkas Held geraten ist: Absurdität und Willkür, die hinter einem Schleier aus pseudorechtsstaatlichen Prozeduren versteckt werden.

Wir werden der Diskreditierung beschuldigt, ohne dass erklärt wird, was das bedeutet und wie diese sich von erlaubter Kritik unterscheidet. Wir werden beschuldigt, Behauptungen verbreitet zu haben, von denen wir wussten, dass sie falsch sind – ohne dass gezeigt wird, dass sie tatsächlich falsch sind. Genauso ging der sowjetische Staat vor, wenn er jede Kritik als Lüge bezeichnete. Der Versuch zu beweisen, dass die Aussagen korrekt sind, ist selbst strafbar. Wir werden beschuldigt, ein System von Glaubenssätzen und eine Weltanschauung nicht zu teilen, die von der Führung unseres Landes als wahr bezeichnet werden. Und dies, obwohl Russland keine Staatsideologie haben darf. Wir werden verurteilt, weil wir daran zweifeln, dass der Überfall auf ein Nachbarland dem Ziel der Erhaltung des zwischenstaatlichen Friedens und der Sicherheit dient.

Es ist absurd.

Kafkas Held weiß bis zum Ende des Romans nicht, was ihm vorgeworfen wird, gleichwohl wird er verurteilt und hingerichtet. Uns wird der Grund der Anklage genannt, aber man kann diesen, wenn man sich an das Recht und die Logik hält, nicht verstehen.

Übrigens wissen wir im Unterschied zu Kafkas Held, warum wir festgenommen, vor den Haftrichter gestellt, verhaftet, verurteilt und umgebracht werden. Wir werden dafür bestraft, dass wir das Regime kritisieren. Dies ist im heutigen Russland absolut verboten.

Duma-Abgeordnete, Untersuchungsbeamte, Staatsanwälte und Richter sprechen das nicht offen aus. Sie verbergen es in ihren sogenannten Gesetzen, Anklageschriften und Urteilen unter absurden und widersprüchlichen Formeln. Aber es ist ein Fakt.

Gegenwärtig werden in den Lagern und Gefängnissen Aleksej Gorinov, Aleksandra Skočilenko, Igor’ Baryšnikov, Vladimir Kara-Murza und viele andere langsam zu Tode gebracht. Sie werden getötet, weil sie gegen das Blutvergießen in der Ukraine protestiert haben, weil sie wollen, dass Russland ein demokratisches, blühendes Land wird, das keine Bedrohung für seine Nachbarn darstellt.

In den letzten Tagen wurden Menschen weggezerrt, mit Geldstrafen oder sogar Arreststrafen belegt, nur weil sie zu einer Gedenkstätte zur Erinnerung an die Opfer der politischen Repressionen gekommen waren, um dort des ermordeten Aleksej Naval’nyj zu gedenken, dieses bemerkenswerten, mutigen und aufrichtigen Menschen, der unter unfassbar grausamen, speziell für ihn geschaffenen Umständen den Optimismus und den Glauben an die Zukunft unseres Landes nicht verlor. Ohne allen Zweifel wurde er ermordet, ganz gleich, unter welchen konkreten Umständen er gestorben ist.

Das Regime kämpft sogar noch gegen den toten Naval’nyj, es hat sogar vor seinem Leichnam Angst. Und zurecht!

Es zerstört spontan entstandene Orte des Gedenkens an ihn.

Wer so etwas tut, hofft darauf, dass es auf diese Weise gelingt, jenen Teil der russländischen Gesellschaft zu demoralisieren, der weiter Verantwortung für unser Land übernimmt.

Diese Hoffnung darf sich nicht erfüllen.

Aleksej hat uns zugerufen: »Lasst euch nicht unterkriegen.« Ich füge hinzu: Verzweifelt nicht, verliert nicht den Optimismus. Denn die Wahrheit ist auf unserer Seite. Jene, die unser Land in den Abgrund geführt haben, in dem es sich heute befindet, stehen für das Alte, das Hinfällige, das Absterbende. Sie haben kein Bild von der Zukunft, nur Zerrbilder der Vergangenheit, Illusionen von »imperialer Größe«. Sie stoßen Russland rückwärts, zurück in eine Antiutopie, die Vladimir Sorokin in seinem Roman »Der Tag der Opričniki« beschrieben hat. Wir aber leben im 21. Jahrhundert, uns gehört die Gegenwart und die Zukunft – und dies ist das Unterpfand unseres Sieges.

Zum Schluss will ich, unerwartet vielleicht für viele, mich an jene wenden, die mit ihrer Arbeit das Rad der Repressionen antreiben. An die Beamten in den Ministerien, an die Angestellten der Sicherheitsorgane, an die Richter und Staatsanwälte.

In Wahrheit verstehen Sie sehr gut, was passiert. Lange nicht alle von ihnen sind überzeugt, dass politische Repressionen richtig sind. Manchmal bedrückt es sie, dass sie Teil davon sind, aber sie sagen sich: »Was kann ich schon tun? Ich erfülle nur die Anordnungen von oben. Gesetz ist Gesetz.«

Ich wende mich an Sie, Euer Ehren, und an den Vertreter der Anklage. Haben Sie keine Angst? Macht es Ihnen keine Angst, wenn sie sehen, was aus unserem Land wird, das sie wahrscheinlich ebenfalls lieben? Macht es Ihnen keine Angst, dass vielleicht nicht nur Sie und Ihre Kinder, sondern, Gott bewahre, auch Ihre Enkel in dieser Absurdität, in dieser Antiutopie leben müssen?

Kommt Ihnen wirklich das Offensichtliche nicht in den Sinn? Dass das Rad der Repressionen früher oder später auch über jene hinwegrollen wird, die es in Gang gesetzt und angetrieben haben? Die Geschichte kennt viele solche Beispiele.

Ich wiederhole, was ich bereits beim letzten Prozess gesagt habe.

Ja, Gesetz ist Gesetz. Aber erinnern Sie sich daran, dass in Deutschland im Jahr 1935 die sogenannten Nürnberger Gesetze beschlossen wurden. Doch nach dem Sieg von 1945 standen jene vor Gericht, die diese Gesetze ausgeführt haben.

Ich kann nicht mit absoluter Sicherheit sagen, ob diejenigen, die heute in Russland widerrechtliche, verfassungswidrige Gesetze ausführen, selbst dafür vor Gericht stehen werden. Aber eine Strafe wird es unausweichlich geben. Ihre Kinder oder Enkel werden sich schämen, davon zu sprechen, wo ihre Väter, Mütter, Großväter und Großmütter in Dienst gestanden und was sie getan haben. Das gleiche geschieht mit denjenigen, die auf Befehl in der Ukraine Verbrechen begehen. Meiner Ansicht nach ist dies die schrecklichste Strafe. Und sie kommt unweigerlich.

Nun, ich werde auch unweigerlich bestraft werden, weil unter den heutigen Bedingungen ein Freispruch bei einer solchen Anklage unmöglich ist.

Und jetzt werden wir sehen, wie das Urteil ausfällt.

Wie auch immer: Ich bedaure und bereue nichts

Übersetzung aus dem Russischen von Volker Weichsel

Quelle: Menschenrechtszentrum Memorial, https://memorialcenter.org/news/poslednee-slovo-orlova und https://zeitschrift-osteuropa.de/blog/ich-bedaure-und-bereue-nichts/.

»Politikerin ist ein Beruf«

Lilija Čanyševa

Lilija Čanyševa leitete ab dem Jahr 2017 die neu gegründete Regionalorganisation der »Stiftung zur Korruptionsbekämpfung« von Aleksej Naval’nyj in Ufa, der Hauptstadt der russländischen Teilrepublik Baschkortostan. Die Stiftung wurde im April 2021 für extremistisch erklärt und aufgelöst. Čanyševa wurde im November 2021 verhaftet und wegen Gründung und Leitung einer extremistischen Vereinigung sowie öffentlichem Aufruf zu Extremismus angeklagt. Der Staatsanwalt forderte im April 2023 12 Jahre Haft. Am 29. Mai 2023 wurde der Prozess mit ihrem Schlusswort beendet. Das Urteil wird am 14. Juni 2022 verkündet. Wir dokumentieren Lilija Čanyševas Schlusswort.

Sehr geehrte Damen und Herren! Mitbürger und Gleichgesinnte!

Das Strafverfahren gegen mich ist politisch motiviert. Daher fühle ich mich nicht als Angeklagte. Ich bin Politikerin, eine Frau, die von männlichen Gegnern verfolgt wird. Sie heißen: Putin und Chabirov.[1]

Politikerin ist ein Beruf. Mich für schuldig zu befinden ist das gleiche, wie eine Lehrerin dafür zu verurteilen, dass sie Lehrerin ist und eine Ärztin, weil sie Ärztin ist.

In der Politik bin ich nicht alleine. Es gibt wie gesagt Gegner. Um sich ein Urteil über meine Tätigkeit zu bilden, muss man den Kontext kennen. Hier ist er:

In Baschkortostan begann unter Chabirov der Angriff auf Menschen, die sich für Bürgerrechte und Umweltschutz einsetzen, die Organisation »Baškort« wurde für extremistisch erklärt [2], der Politiker Ajrat Dil’muchamedov ins Gefängnis gesteckt, ebenso der Vorsitzende der Gewerkschaft der Angestellten im Gesundheitswesen Anton Orlov [3], der Rechtsanwalt Aleksandr Vojcech [4], und auch der Abgeordnete Dmitrij Čuvilin ist in Haft. [5] In Baschkortostan ist heute jeder in Gefahr, denn Chabirov wendet seine polizeistaatlichen Methoden auch im Kampf gegen Frauen an, die eine eigene politische Position vertreten.

Vergleichen Sie die Vorgehensweise: Petitionen, Enthüllungen, Beschwerden, Teilnahme an friedlichen Versammlungen und öffentlichen Anhörungen. Und als Antwort: Überwachung, Durchsuchungen, Entführungen, Verhaftungen, Gefängnis, Menschen werden gewaltsam von öffentlichen Anhörungen weggeführt, ihr Auto mit Farbe übergossen, Schadensersatzklagen angestrengt wegen der Lohnkosten der zu unseren Versammlungen beorderten Polizisten.

Gleichzeitig versucht Chabirov persönlich immer wieder, baschkirische Naturdenkmäler an Oligarchen zu verkaufen [6], lässt Krankenhäuser schließen, hält den Lohn von Ärzten zurück, betrügt bei Staatsaufträgen und zwingt die Einwohner Baschkortostans zur Zahlung überhöhter Kommunalabgaben. Unsere Republik lag einst mit Tatarstan gleich auf. Jetzt liegt das Ergebnis auf der Hand. Die Armutsrate ist in Baschkortostan doppelt so hoch wie in der Nachbarrepublik.

Für die Vorbereitung meines letzten Wortes habe ich die Schlussreden von Dutzenden Angeklagten gelesen. Von Evgenij Rojzman [7], Vladimir Kara-Murza, Dmitrij Ivanov, Aleksej Gorinov, Andrej Pivovarov, Ivan Safronov, Vladimir Voroncov, Jurij Ždanov, Il’ja Jašin und natürlich von Aleksej Naval’nyj.

Alles starke und kluge Männer, die Putin in jenen anderthalb Jahren hat verhaften lassen, die ich in Untersuchungshaft verbracht habe. Aber Putin hat auch Frauen nicht verschont. Sechs Jahre Haft für die Journalistin Maria Ponomarenko, die Künstlerin Aleksandra Skočilenko steht vor Gericht, gegen die Theatermacherinnen Evgenija Berkovič und Svetlana Petrijčuk ist ein Strafverfahren eingeleitet.[8]

Und nach alldem sitzt der ehemalige Ministerpräsident Dmitrij Medvedev auf einem juristischen Forum und amüsiert sich darüber, dass der Frauenanteil in Russlands Regierung weniger als 25 Prozent beträgt, im Unterschied zu Ägypten. Heißt das, dass Frauen in unserem Land keinen Platz in der Politik haben? Oder hängt der Zugang zu diesem Beruf von ihren politischen Ansichten ab? Ist das keine Diskriminierung? Haben die Männer an der Macht beschlossen, dass es neben der gläsernen Decke noch Gitter vor dem Fenster bedarf?

Meine politischen Rechte und die meiner Mitbürger werden konsequent verletzt. Dies zeugt davon, dass Putin schon seit langem jedes Andersdenken beseitigen will – mit einem einzigen Ziel: über das Jahr 2024 hinaus an der Macht zu bleiben. Aber Putin bedeutet Korruption, niedrige Löhne und Renten, wirtschaftlicher Niedergang und steigende Preise. Putin bedeutet Krieg. Und das betrifft wirklich jeden!

Beantworten Sie sich die Frage: Leben Sie heute besser als vor zehn Jahren? Fällt Ihnen das Einkaufen leichter als vor zehn Jahren? Fühlen Sie sich sicherer als vor zehn Jahren? Wenn die Antwort lautet: »Nein« – dann handeln Sie! Auch Sie können die Dinge zum Besseren wenden.

Euer Ehren! Für mich sind Sie nicht nur Richter, sondern auch mein Wähler. Während des Prozesses habe ich Ihnen von meinen Erfolgen erzählt. Unterstützen Sie mich als Politikerin, als Frau, und ich werde alles mir mögliche tun, um Sie von dem Druck zu befreien, den die Exekutive gesetzeswidrig auf Sie ausübt. Ich werde weiter gegen Korruption und Gesetzlosigkeit in unserer Republik kämpfen.

Euer Ehren! Sie sind nicht nur Richter und Wähler, sondern, wie der Prozess gezeigt hat, auch ein Mensch mit eigenen Ansichten. Wenn Sie mich für 12 Jahre ins Gefängnis bringen, werde ich kein Kind mehr bekommen. Geben sie mir eine Chance, Mutter zu werden.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Übersetzung aus dem Russischen von Volker Weichsel

Quelle: https://t.me/teamnavalny/19066 und https://zeitschrift-osteuropa.de/blog/politikerin-ist-ein-beruf/.

[1] Radij Chabirov wurde im Oktober 2018 zum kommissarischen Oberhaupt der Republik Baschkortostan im Föderationskreis Wolga ernannt und ein Jahr später bei Wahlen im Amt bestätigt. Zuvor arbeitete er viele Jahre in der Moskauer Präsidialverwaltung.

[2] Der 2014 gegründete Verein setzte sich für die Belange des baschkirischen Volks ein und war eine der wichtigsten Organisationen der baschkirischen Nationalbewegung. Sie wurde auf dem Höhepunkt der Säuberungswelle gegen Anhänger des bis 2010 amtierenden langjährigen baschkirischen Präsidenten Murtaza Rachimov gegründet, die aus öffentlichen Ämtern entlassen wurden und setzte sich gegen die Schließung von baschkirischen Schulen und die Entlassung ethnischer Baschkiren aus dem Staatsdienst ein. Baškort organisierte mehrfach Proteste für den Erhalt des Tratau-Berges im Süden Baschkortostans, einer unter Naturschutz stehenden regionaltypischen Felsformation (sog. Šichan)., die in der baschkirischen Kultur eine wichtige Rolle spielt. Der Tratau sollte für die Gewinnung von Soda und Zement freigegeben werden.

[3] Anton Orlov war von 2022 bis Regionalkoordinator der unabhängigen Gewerkschaft »Dejstvie« (Handeln) in Ufa und organisierte u. a. den Streik der Krankenhausmitarbeiter in der südlich von Ufa gelegenen Mittelstadt Išimaj. Er wurde im September 2022 wegen angeblichen schweren Betrugs zu sechs Jahren und sechs Monaten Straflager verurteilt.

[4] Aleksandr Vojcech wurde im September 2022 wegen angeblichen schweren Betrugs zu vier Jahren Haft verurteilt. Im April 2023 hob ein Berufungsgericht das Urteil auf. Bereits seit Mitte der 2010er Jahre hatten die Behörden immer wieder versucht, seine Anwaltslizenz zu entziehen.

[5] Dmitrij Čuvilin wurde im Jahr 2018 auf der Liste der Kommunistischen Partei in das baschkirische Regionalparlament (Kurultaj) gewählt. Zusammen mit vier anderen Personen wurde er im März 2022 verhaftet und wegen Gründung einer Terrorzelle angeklagt.

[6] Es geht um die geplante Bergbautätigkeit am Tratau sowie am Berg Kuštau.

[7] Evgenij Rojzman, der ehemalige Bürgermeister von Ekaterinburg, wurde im August 2022 für zwei Tage festgenommen und im Mai 2023 wegen »Diskreditierung der Armee« zu einer geringfügigen Geldstrafe verurteilt. Er ist der einzige der Genannten, der während des Prozesses nicht in Untersuchungshaft saß und nicht zu einer Haftstrafe verurteilt wurde.

[8] Die Regisseurin Evgenija Berkovič und die Dramaturgin Svetlana Petrijčuk wurden Anfang Mai 2023 verhaftet, und anschließend wurde ein Strafverfahren gegen sie angestrengt, da die Behörden ihr im Jahr 2020 uraufgeführtes Stück »Finist – Jasnyj Sokol« (Finist, Heller Falke), in dem es um Frauen aus Russland geht, die sich von radikalen Islamisten nach Syrien haben locken lassen, als »Rechtfertigung von Terrorismus« (Art. 205.5) betrachten.

»Ich bereue nicht nur nichts davon. Ich bin stolz darauf.«

Vladimir Kara-Murza

Vladimir Kara-Murza wurde im April 2022 verhaftet und wegen Staatsverrat, Verbreitung von Falschinformationen über die russländische Armee und Arbeit für eine »unerwünschte Organisation« angeklagt. Die Anklage forderte 25 Jahre Lagerhaft in strengem Vollzug. Das Gericht ist dem Antrag wie erwartet nachgekommen und hat den 1981 geborenen Journalisten, Historiker und Politiker Kara-Murza am 17.4.2023 zu einem Vierteljahrhundert Straflager verurteilt. Wir dokumentieren das letzte Wort Kara-Murzas, dem nichts hinzuzufügen ist.

Ich war überzeugt, dass mich nach zwei Jahrzehnten in der russländischen Politik, nach allem, was ich gesehen und überlebt habe, nichts mehr überraschen kann. Ich muss zugeben, ich habe mich geirrt. Es hat mich doch überrascht, dass der gegen mich geführte Prozess im Jahr 2023 in Sachen Intransparenz und Diskriminierung der Verteidigung die Prozesse gegen die sowjetischen Dissidenten in den 1960er und 1970er Jahren noch übertroffen hat. Ganz zu schweigen von der geforderten Strafe und der Bezeichnung meiner Person als »Feind«. Das ist nicht einmal der Stil der 1970er Jahre, sondern schon der 1930er Jahre.

Als Historiker gibt mir dies Anlass zu einigen Überlegungen.

Während der Befragung des Angeklagten erinnerte mich der Vorsitzende daran, dass es als mildernder Umstand gewertet werde, wenn man »seine Tat bereue«. Es gibt derzeit wenig Erheiterndes um mich herum, aber darüber musste ich doch lächeln.

Verbrecher müssen ihre Taten bereuen. Ich bin jedoch wegen meiner politischen Ansichten im Gefängnis. Weil ich mich gegen den Krieg in der Ukraine geäußert habe. Weil ich viele Jahre gegen die Diktatur Putins gekämpft habe. Weil ich dazu beigetragen habe, dass auf der Basis des Magnitsky-Gesetzes internationale Sanktionen gegen jene verhängt wurden, die Menschenrechte verletzt haben.

Ich bereue nicht nur nichts davon. Ich bin stolz darauf.

Ich bin stolz darauf, dass Boris Nemcov mich zur Politik gebracht hat. Ich hoffe, dass er sich nicht für mich schämt. Ich unterschreibe jedes Wort, das ich gesagt habe und das mir in der Anklageschrift zur Last gelegt wird. Der einzige Vorwurf, den ich mir mache: Dass es mir in den Jahren meiner politischen Tätigkeit nicht gelungen ist, ausreichend Menschen in Russland und Politiker demokratischer Staaten davon zu überzeugen, wie gefährlich das Regime im Kreml für Russland und die Welt ist. Heute sehen das alle, doch zu welch schrecklichem Preis, zum Preis des Krieges.

Bei ihren letzten Worten bitten die Angeklagten gewöhnlich um Freispruch. Wer kein Verbrechen begangen hat, kann kein anderes legales Urteil als Freispruch erwarten. Aber ich bitte dieses Gericht um nichts. Ich kenne mein Urteil. Ich kannte es bereits vor einem Jahr, als ich im Spiegel die hinter meinem Auto herrennenden Männer in schwarzen Uniformen und schwarzen Masken sah. Dies ist der Preis für den, der in Russland nicht schweigt.

Aber ich weiß auch, dass der Tag kommt, an dem sich die Finsternis über unserem Land lichten wird. An dem Schwarzes schwarz genannt wird und Weißes weiß. An dem offiziell anerkannt wird, dass 2 x 2 doch vier ist. An dem der Krieg Krieg genannt wird und der Usurpator ein Usurpator und an dem diejenigen zu Verbrechern erklärt werden, die diesen Krieg entfacht und entfesselt haben – und nicht jene, die versucht haben, ihn zu beenden. Dieser Tag wird ebenso sicher kommen, wie der Frühling auch den kältesten Winter ablöst.

Dann wird unsere Gesellschaft die Augen öffnen und mit Schrecken sehen, welche furchtbaren Verbrechen in ihrem Namen begangen wurden.

Mit dieser Erkenntnis und dem Nachdenken darüber wird der lange und schwere, aber für uns alle so wichtige Weg zur Gesundung und zum Wiederaufbau Russlands zu seiner Rückkehr in die Gemeinschaft der zivilisierten Staaten beginnen.

Selbst heute, selbst in der uns umgebenden Finsternis, selbst in diesem Käfig, in dem ich sitze, liebe ich mein Land und glaube an seine Menschen. Ich glaube, dass wir diesen Weg bewältigen können.

Übersetzung aus dem Russischen von Volker Weichsel

Quelle: https://novayagazeta.eu/articles/2023/04/10/ia-ne-tolko-ne-raskaivaius-ia-gorzhus und https://zeitschrift-osteuropa.de/blog/vladimir-kara-murza-zu-25-jahren-lagerhaft-verurteilt/.

»Wladimir Putin, beenden Sie diesen Wahnsinn«

Ilja Jaschin

Ilja Jaschin ist einer der bekanntesten Oppositionspolitiker in Russland. 2017 erhielten er und seine Mitstreiter eine Mehrheit im Rat der Abgeordneten des Moskauer Bezirks Krasnoselsk. Seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022 kritisierte Jaschin wiederholt das Vorgehen der russischen Behörden. Am 27. Juni 2022 wurde er in Moskau verhaftet und wegen Widerstands gegen Mitarbeiter der Sicherheitskräfte zu 15 Tagen Arrest verurteilt. Nach Ablauf dieser Frist wurde Jaschin jedoch nicht freigelassen. Stattdessen wurde er in Untersuchungshaft genommen und wegen bewusster öffentlicher Verbreitung von »Falschmeldungen über den Einsatz der Streitkräfte der Russländischen Föderation und die Tätigkeit der staatlichen Behörden der RF« angeklagt. Anlass dafür war ein auf YouTube veröffentlichter Auftritt des Politikers vom 7. April 2022, bei dem er über die Ereignisse in Butscha berichtete. Laut der Menschenrechtsorganisation Memorial verstößt der Artikel 207.3 gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung und ist somit verfassungswidrig. Am 9. Dezember 2022 wurde Ilja Jaschin zu achteinhalb Jahren verurteilt. Quelle: https://gefangen-in-russland.de/personen-in-haft/ilja-jasin.

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer.

Sie werden mir zustimmen, dass die Formulierung »Das Schlusswort des Angeklagten« sehr düster klingt. Es ist, als würde mir nach meinem Plädoyer vor Gericht der Mund zugenäht und ich müsste für immer verstummen. Und genau darum geht es, das ist doch allen klar. Ich werde von der Gesellschaft isoliert und ins Gefängnis gesteckt, weil man mich zum Schweigen bringen will. Unser Parlament ist schon lange kein Ort der Debatte mehr, und so soll ganz Russland wortlos die Willkür des Staates akzeptieren.

Eines verspreche ich: Solange ich lebe, werde ich das niemals akzeptieren. Meine Pflicht ist es, die Wahrheit zu sagen. Ich habe sie bei Kundgebungen, in den Fernsehstudios und im Parlament gesagt. Auch hinter Gittern werde ich der Wahrheit treu bleiben. Denn, um einen Klassiker zu zitieren, »die Lüge ist die Religion der Sklaven, und nur die Wahrheit ist der Gott des freien Menschen«.

Zu Beginn meiner Ausführungen möchte ich mich an das Gericht wenden. Euer Ehren, ich bin dankbar für die Art und Weise, wie Sie diesen Gerichtsprozess geführt haben. Sie haben die Verhandlung öffentlich durchgeführt, Sie haben sie für die Presse und für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Sie haben mich nicht daran gehindert, frei zu sprechen, und meine Anwälte konnten ungestört ihre Arbeit verrichten. Eigentlich ist das selbstverständlich: So sollte ein Gerichtsverfahren in jedem normalen Land ablaufen. Auf der verbrannten Erde der russischen Justiz ist dieser Prozess zum Leben erwacht. Und glauben Sie mir: Ich weiß das zu schätzen.

Ich will Ihnen ganz offen sagen, Oxana Iwanowna: Sie selbst haben bei mir einen ungewöhnlichen Eindruck hinterlassen. Ich habe bemerkt, mit welchem Interesse Sie dem Staatsanwalt und den Verteidigern zuhören, wie Sie auf meine Worte reagieren, wie Sie zweifeln und nachdenken. Für die Staatsmacht sind Sie nur ein Rädchen im System, das ohne zu murren seinen Dienst zu verrichten hat. Aber ich sehe eine lebhafte Frau vor mir, die abends ihre Robe auszieht und in denselben Laden geht, in dem meine Mutter ihren Quark kauft. Und ich zweifle nicht daran, dass Sie und ich die gleichen Sorgen haben. Ich bin sicher, dass dieser Krieg Sie genauso schockiert wie mich und dass Sie dafür beten, dass dieser Alptraum so schnell wie möglich ein Ende findet.

Wissen Sie, Oxana Iwanowna, ich habe ein Prinzip, dem ich seit vielen Jahren treu bin: Tu, was du tun musst, und komme, was kommen muss. Als die militärische Auseinandersetzung begann, habe ich keine Sekunde daran gezweifelt, was ich tun muss. Ich sehe mich dazu verpflichtet, in Russland zu sein, meine Pflicht ist es, laut und deutlich die Wahrheit sagen, ich muss mit aller Kraft das Blutvergießen stoppen. Es schmerzt mich, wenn ich daran denke, wie viele Menschen in diesem Krieg schon gestorben sind, wie viele Menschen verstümmelt wurden, wie viele Familien ihr Dach über dem Kopf eingebüßt haben. Das darf uns nicht kalt lassen. Und ich schwöre, dass ich nichts bereue. Es ist besser, als ehrlicher Mensch zehn Jahre hinter Gittern zu verbringen, als in stiller Scham sich für das Blut zu grämen, das unser Staat vergossen hat.

Natürlich, Euer Ehren, erwarte ich hier kein Wunder. Sie wissen, dass ich unschuldig bin, und ich kenne den Druck, den dieses System auf Sie ausübt. Und natürlich werden Sie mich verurteilen müssen. Aber ich werde Ihnen nicht böse sein und verdamme Sie nicht. Aber tun Sie Ihr Bestes, um Ungerechtes zu verhindern. Denken Sie daran, dass nicht nur mein eigenes Schicksal von Ihrer Entscheidung abhängt. Sie verurteilen damit jenen Teil unserer Gesellschaft, der friedlich und zivilisiert leben will. Das ist jener Teil der Gesellschaft, dem Sie sich, Oxana Iwanowna, vielleicht auch zurechnen.

Ich möchte mich an dieser Stelle auch an den russischen Präsidenten Wladimir Putin wenden. An die Person, die für dieses Massaker verantwortlich ist, die das Gesetz über die »Militärzensur« unterzeichnet hat und die will, dass ich im Gefängnis sitze.

Wladimir Wladimirowitsch!

Wenn Sie sich die Folgen dieses ungeheuerlichen Krieges ansehen, werden Sie vielleicht verstehen, welch schweren Fehler Sie am 24. Februar begangen haben. Unsere Armee wird nicht mit Blumen begrüßt. Man nennt uns Henker und Besatzer. Die Worte »Tod« und »Zerstörung« sind jetzt fest mit Ihrem Namen verbunden.

Sie haben furchtbares Leid über das ukrainische Volk gebracht, das uns wahrscheinlich nie verzeihen wird. Aber Sie führen nicht nur Krieg gegen die Ukrainer, sondern auch gegen die Bürger Russlands.

Sie haben Hunderttausende Russen in die Hölle des Krieges geschickt, von denen viele nicht mehr nach Hause zurückkehren werden, weil sie zu Asche verbrannt wurden. Viele sind zu Krüppeln geworden und werden lebenslang traumatisiert sein von dem, was sie dort gesehen und erlebt haben. Für Sie ist das nur eine bloße Statistik der Verluste, Zahlen in Spalten. Aber für viele Familien ist es der unerträgliche Schmerz über den Verlust ihrer Ehemänner, Väter und Söhne.

Sie verbannen Russen aus ihrer Heimat.

Hunderttausende unserer Mitbürger haben ihre Heimat verlassen, weil sie nicht töten und nicht getötet werden wollen. Die Menschen fliehen vor Ihnen, Herr Präsident. Können Sie das nicht verstehen?

Sie zerstören die Grundlagen unserer wirtschaftlichen Sicherheit. Indem Sie die Industrie auf Kriegswirtschaft umstellen, verdammen Sie unser Land zum Rückschritt. Es geht wieder nur um Panzer und Waffen, und unsere Lebenswirklichkeit ist Armut und Gesetzlosigkeit. Haben Sie schon wieder vergessen, dass diese Politik unser Land schon einmal zum Zusammenbruch geführt hat?

Selbst wenn meine Worte wie ein Schrei ins Leere verhallen, aber ich fordere Sie auf, Wladimir Wladimirowitsch, diesen Wahnsinn sofort zu beenden. Sie müssen einsehen, dass Ihre Ukraine-Politik ein großer Fehler war. Sie müssen unsere Truppen aus der Ukraine abziehen und eine diplomatische Verhandlungslösung anstreben.

Vergessen wir nicht, dass jeder neue Kriegstag neue Opfer bedeutet. Es reicht.

Abschließend möchte ich mich an die Menschen wenden, die diesen Gerichtsprozess verfolgt und mich in all den Monaten unterstützt haben und die mit Unbehagen auf das Urteil warten.

Freunde, wie auch immer das Urteil des Gerichts ausfällt, wie hart es auch sein mag, es darf euch nicht brechen. Ich verstehe, wie schwer es für euch jetzt ist, wie sehr euch das Gefühl der Ohnmacht und der Hoffnungslosigkeit quält. Aber ihr dürft nicht aufgeben.

Bitte verzweifelt nicht und vergesst nicht, dass dies unser Land ist. Es lohnt sich, dafür zu kämpfen. Seid mutig, gebt nicht auf im Angesicht des Bösen und wehrt euch. Seid standhaft und setzt euch für eure Straße und für eure Stadt ein. Und vor allem: Steht füreinander ein. Wir sind viel mehr, als ihr denkt, und wir sind eine große Bewegung.

Macht euch keine Sorgen um mich. Ich verspreche, dass ich alle beschwerlichen Herausforderungen meistern werde, dass ich mich nicht beklagen werde und dass ich diesen Weg mit Würde gehen werde. Versprecht es mir, bleibt optimistisch und verlernt nicht zu lächeln. Denn genau dann haben die anderen gewonnen, wenn wir uns nicht mehr unseres Lebens erfreuen können.

Glauben Sie mir, Russland wird einmal ein freies und glückliches Land sein.

Quelle: Schlusswort von Ilja Jaschin, 5. Dezember 2022, https://meduza.io/feature/2022/12/05/vy-vedete-voynu-ne-tolko-s-ukraintsami-no-i-so-svoimi-sootechestvennikami.

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