Was kann die russische Verfassung noch leisten? Rechenschaft und Gerechtigkeit in einem Russland nach Putin

»Kann es in einem Russland nach Putin Gerechtigkeit geben? Diese Analyse argumentiert, dass die Verfassung von 1993 durchaus geeignet ist, um Angehörige der Putin-Justiz zur Rechenschaft zu ziehen. Dabei werden eingängige Vergleiche mit der Aufarbeitung des DDR-Unrechts gezogen.«


Einige Abschnitte als Leseprobe:

»Viele Taten, die in Russland aus politischen Gründen kriminalisiert werden, etwa öffentliche Aktionen, die auf eine Diskreditierung der russischen Streitkräfte abzielen (§ 280.3 des russischen Strafgesetzbuches) oder öffentliche Aufrufe zu Taten, die sich gegen die Sicherheit des Staates richten (§ 280.4) ähneln sehr dem »politischen Strafrecht« in der DDR. Bedeutet dies, dass Gerichte in einem Russland nach Putin genötigt sein werden, Staatsanwält:innen und Richter:innen freizusprechen, die Andersdenkende aufgrund der erwähnten und ähnlicher strafrechtlicher Bestimmungen mit Repressalien überzogen?

Ich bin der Ansicht, dass die Verfassung von 1993 den Staatsanwaltschaften und Gerichten etliche Argumente an die Hand gibt, um die Rechtfertigung der Beschuldigten zu entkräften, die sich auf das Rückwirkungsverbot, den Vertrauensschutz und auf Rechtssicherheit berufen. Die Verfassung enthält immer noch die bisher nicht geänderten Abschnitte 1 und 2 (»Grundlagen der Verfassungsordnung« und »Rechte und Freiheiten von Personen und Bürgern«). […] Somit sind in der Verfassung hinreichend Bestimmungen vorhanden, um die Verfolgung einer friedlichen Nutzung der Meinungsfreiheit oder der Versammlung als eine rechtswidrige Verletzung der Menschenrechte einzustufen, selbst wenn diese Verfolgung unter »gesetzlicher Bewilligung« erfolgte. […] Der Umstand, dass das Verfassungsgericht bislang – mit seltenen Ausnahmen – einen entgegengesetzten Standpunkt eingenommen und sich geweigert hat, Beschwerden über die Verfassungswidrigkeit von Putins »politischem Strafrecht« anzunehmen, schließt somit nicht aus, dass eine solche Möglichkeit in der Zukunft besteht. Dieser Ansatz würde es ermöglichen, rückwirkend die Entscheidungen, die strafrechtlich angewandt wurden, als verfassungswidrig zu bewerten. Das ist eines der Elemente des Tatbestandes der Rechtsbeugung gemäß § 305 des russischen Strafgesetzbuches.

Das zweite Element wäre das Wissen um die Unrechtmäßigkeit: Ein:e Richter:in muss sich bewusst sein, dass ein zu fällendes Urteil unrechtmäßig ist. Eine Beweisführung in Bezug auf dieses Element wäre sehr schwierig, da ein:e Richter:in einen Fall prinzipiell aufgrund der inneren Überzeugung zu entscheiden hat. (§ 17 Abs. 1 der russischen Strafprozessordnung). Allerdings könnte sich die Bereitschaft zu einem rechtswidrigen Urteil darin manifestieren, dass der Verweis des/der Angeklagten auf einen Konflikt zwischen dem anzuwendenden Strafrecht und der Verfassung bzw. dem internationalen Recht ignoriert wird. […] Die hier skizzierten Überlegungen stellen lediglich eine Einladung zur Diskussion über die Zukunft der verfassungsrechtlichen Entwicklung Russlands dar – und über die Frage, wie die Verbrechen der Putin-Diktatur aufgearbeitet werden können.«

Quelle: https://sacharow.de/verfassungsdossier-bobrinsky

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Analyse

Vorerst gescheitert: »Pussy Riot« und der Rechtsstaat in Russland

Von Caroline von Gall
Die Bilder der »Pussy Riot«-Musikerinnen Nadeschda Tolokonnikowa, Jekaterina Samuzewitsch und Maria Alechina auf der Anklagebank im Moskauer Chamowniki-Gericht gingen um die Welt. Wie kein anderes Verfahren bestimmte der Prozess die politische Debatte in diesem Sommer und rief auch in Deutschland starken öffentlichen Protest hervor. Aus juristischer Perspektive zeigt das Verfahren dagegen nur exemplarisch die bekannten Mängel der russischen Strafjustiz: Die russische Verfassung und die Europäische Konvention für Menschenrechte (EMRK) sowie die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) werden bei der Auslegung der relevanten Normen nicht beachtet. Die Auseinandersetzung mit den Tatbestandsvoraussetzungen bleibt in Anklage und Urteil an der Oberfläche. Wenn auch in diesem Fall eine politische Einflussnahme nicht nachgewiesen werden kann, fehlt es den politischen Eliten seit langem am erkennbaren Willen, die Strafjustiz zu professionalisieren, die Urteile des EGMR systematisch umzusetzen und die Unabhängigkeit der Justiz deutlich zu verbessern. (…)
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