Gesetzliche Verankerung der örtlichen Selbstverwaltung in der Ukraine
Die örtliche Selbstverwaltung findet ihre gesetzliche Grundlage in der ukrainischen Verfassung. Die Regelung im Abschnitt XI Misceve samovrjaduvannja berechtigt die Einwohner eines Dorfes, einer Stadt oder eines freiwilligen Zusammenschlusses ländlicher Gemeinden, selbständig über Fragen von lokaler Bedeutung zu entscheiden. Die Ausübung der im Rahmen dieses Gesetzes vorgesehenen Vollmachten und Kompetenzen erfolgt durch gewählte VertreterInnen der betreffenden Kommune, sogenannte Dorf-, Orts- bzw. Stadträte. Die Räte der örtlichen Selbstverwaltung arbeiten in vielen Fragen mit den Organen der staatlichen Exekutive auf der jeweiligen Ebene zusammen und üben gleichzeitig Kontrollfunktionen aus. So steht es ihnen unter anderem zu, die Haushalte zu kontrollieren oder bei Bedarf Referenden abhalten zu lassen. Auch bei kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklungsprogrammen haben sie Mitsprache- und Mitwirkungsrechte.
Die obengenannten Räte können den Bewohnern auf deren Initiative hin eigene Haus-, Straßen-, Stadtviertel- und sonstige Organe der örtlichen Selbstverwaltung genehmigen und ihnen eigene Teilkompetenzen, Finanzen und Vermögen zuteilen. Zu den finanziellen Ressourcen, über welche die örtliche Selbstverwaltung verfügt, gehören Einnahmen aus lokalen Steuern und Erträge aus der Nutzung kommunalen Eigentums sowie aus dem Betrieb öffentlicher Unternehmen. Im Rahmen der örtlichen Selbstverwaltung können dementsprechend bürgerschaftliche Initiativen vor Ort zur Entfaltung kommen.
Der Begriff »örtliche Selbstverwaltung« ist eine wörtliche Übersetzung aus dem Ukrainischen. Im deutschsprachigen Raum sind die Begriffe »lokale Selbstverwaltung« oder auch »kommunale Selbstverwaltung« gängiger. Da die örtliche Selbstverwaltung in der Ukraine nicht nur Dorf-, Orts- und Stadträte, sondern auf kommunaler Ebene auch Bezirks- und Gebietsräte umfasst und die Räte auf allen diesen Ebenen als »Organe der örtlichen Selbstverwaltung« bezeichnet werden, kann der Terminus »örtliche Selbstverwaltung« nicht mit der kommunalen Selbstverwaltung im westlichen Sinn gleichgesetzt werden
Bürgerliche Mitbestimmung: Einflussmöglichkeiten in der eigenen Stadt und Bereitschaft zur gesellschaftspolitischen Teilhabe vor Ort
Laut der obengenannten repräsentativen Befragung sind drei von vier BürgerInnen (73,6 %) mit ihrem Einfluss auf die Entscheidungen in ihrer Stadt nicht zufrieden. Nur etwa jede/r zehnte Befragte (8,6 %) war mit den vorhandenen Einflussmöglichkeiten zufrieden oder eher zufrieden. Beachtlich ist, dass 17,8 % der Befragten ihren Einfluss nicht einschätzen und die Frage nicht beantworten konnten (vgl. Grafik 1). Es wurden unter anderem die Anstrengungen der Stadtverwaltung, bestimmte lokale Probleme zu lösen, bewertet. Die Einflussmöglichkeiten der Bürger auf die lokale Politik haben nur 4,2 % der Befragten als gut oder eher gut eingeschätzt (vgl. Grafik 2).
Nur etwa 38,6 % der Befragten waren bereit, ihre eigene Stadt mitzugestalten und sich aktiv an der kommunalen Entwicklung zu beteiligen. 42,9 % erteilten dem lokalen freiwilligen Engagement und der kommunalen Mitbestimmung eine Absage. Fast jeder/e fünfte Befragte (18,5 %) war unentschlossen (vgl. Grafik 1). Warum sind so wenige bereit, sich in ihrer Stadt sozial oder politisch einzubringen? 17,9 % der Befragten haben kein Interesse und 16,2 % schlechthin keine Zeit für freiwilliges Engagement, jeder/e fünfte Befragte (21,9 %) konnte die Frage nicht beantworten. 44,6 % wussten nicht, wie sie sich einbringen können, oder glaubten nicht, dass ihr Engagement etwas verändern kann (vgl. Grafik 3). Fast jeder zweite Städter wäre dementsprechend für solch ein Engagement zu gewinnen, wenn ihm/ihr die Perspektiven solch einer aktiven Beteiligung aufgezeigt würden.
Gesellschaftspolitisches Engagement auf lokaler Ebene und Interesse an der kommunalen Politik
Gesellschaftspolitisches Engagement in Städten und Gemeinden findet in vielfältigen Formen statt. Neben konventionellen Beteiligungsformen wie der Wahlbeteiligung oder einer freiwilligen Mitarbeit in politischen Parteien und lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen werden auch unkonventionelle Formen wie die Teilnahme an Demonstrationen und Kundgebungen oder die Unterzeichnung von Petitionen wahrgenommen. BürgerInnen können sich darüber hinaus in weniger formalisierten Selbsthilfegruppen, Wohnquartierkomitees, Stadtteil- und Elterninitiativen organisieren.
Um sich gesellschaftspolitisch zu beteiligen, muss man eine klare Vorstellung davon haben, wie das politische System in einer Demokratie funktioniert, warum die Mitbestimmung wichtig ist und was die eigene Mitwirkung bewegen kann. Insgesamt weist die städtische Bevölkerung in der Ukraine Interesse an der kommunalen Politik auf: 9,2 % der Befragten interessieren sich sehr und 49,9 % etwas für die Tätigkeit der Organe der örtlichen Selbstverwaltung. Etwa jeder/e dritte Befragte (32,3 %) hat gar kein Interesse an der kommunalen Politik und 8,7 % haben keine Meinung dazu (vgl. Grafik 4).
Das Interesse an Politik korreliert wohl auch mit der politischen Partizipation. Dies kann als ein Vorteil der ukrainischen Zivilgesellschaft bewertet werden, denn nicht eine mangelnde Partizipation erweist sich für eine Demokratie als gefährlich, sondern die Unwissenheit über Sachprobleme und die Funktionslogik des Politischen. Zunächst muss das Grundwissen über Politik und Gesellschaft geschaffen werden. Dazu gehört auch die Meinung über Politik. Dann kommen die Meinungsbildung sowie gewisse politische Präferenzen und erst danach die eigentliche Partizipation in Politik und Gesellschaft. Es scheint eine logische Reihenfolge zu sein. Im Umkehrschluss würde ein mangelndes Verständnis des Politischen auch ein mangelndes politisches Bekenntnis und geringere Partizipation bedeuten. Sich unterschiedlich stark für Politik zu interessieren, bedeutet also auch, sich stark oder gering politisch zu beteiligen.
Wie drückt sich dann das allgemeine Interesse an der Politik in konkreten Partizipationsformen aus? Welche Beteiligungsformen werden von ukrainischen BürgerInnen bevorzugt? 44 % der Befragten präferieren die Kommunalwahlen, fast jeder/e Zehnte Städter (9,9 %) würde sich zur Wahl stellen, was das Interesse an der kommunalen Politik bestätigt. 13,5 % der Befragten sind bereit, sich an der Landschaftsgestaltung an ihrem Wohnsitz zu beteiligen. 13 % würden an öffentlichen Anhörungen örtlicher Verwaltungsorgane, jede/r zehnte an Straßenprotesten (10,4 %) teilnehmen. 8,4 % der Befragten bevorzugen das Engagement in Freiwilligeninitiativen und etwa 4,1 % würden sich eher finanziell beteiligen (vgl. Grafik 5). Auf die Frage nach möglichen Einsatzgebieten antworteten 28,6 %, dass kein Bereich für sie annehmbar wäre und sie sich niemals ehrenamtlich engagieren würden. 18,8 % waren unentschlossen und konnten die Frage nicht beantworten (vgl. Grafik 6). Von Städtern wurden unter anderem folgende Bereiche des ehrenamtlichen Engagements genannt: Hilfe für Waisenkinder (22,7 %), Hilfe für ukrainische Soldaten (18,4 %), Menschenrechte (13,2 %) und Hilfe für Binnenflüchtlinge (6,3 %).
Beteiligung an der Arbeit der zivilgesellschaftlichen Organisationen
Einerseits wünschen sich Städter eine starke Zivilgesellschaft, die Entscheidungen der Verwaltung beeinflussen kann. Andererseits können sich die lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen keines großen Zulaufs an Mitgliedern und ehrenamtlichen Mitarbeitern erfreuen. Obwohl etwa jede/r dritte Befragte lokale freiwillige Bürgervereinigungen kennt und über ihre Tätigkeit informiert ist (vgl. Grafik 7), engagiert sich nur jeder/e Zehnte in diesen Organisationen (vgl. Grafik 8).
Berücksichtigt man auch andere Formen des persönlichen Engagements wie etwa Geldspenden, so liegt der Anteil der aktiven BürgerInnen wesentlich höher. Über 52 % der Befragten haben in den zurückliegenden zwölf Monaten für eine Organisation oder eine Bürgergruppe, die gesellschaftliche Probleme zu lösen versucht, gespendet (vgl. Grafik 9). Wer wenig Zeit hat, um sich für gesellschaftliche Belange einzusetzen, spendet einen Teil seines Einkommens für gemeinnützige Vereine. Das Bereitstellen von Geld gehört ebenfalls zum freiwilligen Engagement und findet in der Ukraine immer größere Verbreitung: Im Jahr 2006 spendete nur jeder vierte Bürger Geld (27,7 %).
Rückblick: Gemeinschaftsaktivitäten im Jahr 2005
Die oben dargestellten Zahlen muss man im Vergleich sehen. Wie weit war diese Art des lokalen Engagements im Jahr 2005 – ein Jahr nach der Orangen Revolution – verbreitet? Laut einer Umfrage des Razumkov-Zentrums lag die aktive Beteiligung zwischen 2% und 3,6 % (vgl. Grafik 10). Knapp 30 % der Befragten waren bereit, sich an der Arbeit der Wohnquartier-Komitees und der Initiativgruppen zur Lösung der aktuellen Probleme zu beteiligen, oder taten dies bereits. Die größte Ablehnung der Bürger erfuhren damals gerade Selbstverwaltungsräte, bürgerliche Komitees und Unterschriftenaktionen: Über 70 % gaben an, an diesen gemeinschaftsbezogenen Aktivitäten eher oder sicherlich nicht teilnehmen zu wollen. Die aktive Teilnahme an allen anderen in der Umfrage genannten Aktivitäten wurde von etwa zwei Dritteln der Bevölkerung abgelehnt. Die Beschränkung eigener Interessen zugunsten der Stadt und der Mitbürger war für fast jede/n achte/n Befragte/n eine Frage, die nicht eindeutig beantwortet werden konnte.
Probleme und Perspektiven des freiwilligen Engagements vor Ort und der lokalen Selbstverwaltung
Es reicht nicht, BürgerInnen über Tätigkeit und Vorhandensein lokaler zivilgesellschaftlicher Organisationen zu informieren. Vielen Interessenten und potentiellen Engagierten fehlt häufig der Zugang zum Engagement. Unter Zugang wird vor allem das Vorhandensein persönlicher Freundschafts- und Bekanntenkreise sowie deren Präsenz in entsprechenden freiwilligen Initiativen und Netzwerken verstanden.
Den zum lokalen und gemeindebezogenen Engagement bereiten BürgerInnen fehlen häufig auch Kompetenzen, die sie zu Mitwirkung und Mitbestimmung befähigen würden. Es müssten bestimmte Veranstaltungsformate wie etwa Planspiele zu Partizipation, Demokratie- und Medienwerkstätten angeboten werden, bei welchen Engagierte und Nicht-Engagierte zusammenkommen und gemeinsam entsprechende Kompetenzen erwerben. Dies würde sich sicher förderlich auf die Verbreitung des zivilgesellschaftlichen Engagements in der Ukraine auswirken. Interessierte und die für das freiwillige Engagement offenen TeilnehmerInnen hätten nun neben Kenntnissen und Kompetenzen auch Ansprechpersonen und entsprechende Anlaufstellen, um sich auf lokaler Ebene sozial oder politisch einbringen zu können.
Fazit und Ausblick
Insgesamt wird in den ukrainischen Regionen ein hohes Interesse an Kommunalpolitik festgestellt, was eine gute Voraussetzung für die Entwicklung der örtlichen Selbstverwaltung darstellt. Um die von der Regierung angekündigte Reform der Dezentralisierung erfolgreich implementieren zu können, reicht das allerdings nicht. Dafür benötigen Dorf-, Stadt-, Bezirks- und Gebietsräte in der Ukraine mehr engagierte und zur gesellschaftspolitischen Mitgestaltung bereite BürgerInnen. Auffallend hoch ist der Anteil der unentschlossenen und wenig aufgeklärten BürgerInnen: Sie würden sich engagieren, wissen aber nicht, wie und wo. In dieser Hinsicht ist die ukrainische Zivilgesellschaft gefordert, mehr BürgerInnen für die Gemeinschaftsaktivitäten zu gewinnen sowie zu aktiver Mitwirkung und gesellschaftspolitischer Mitbestimmung in ihren Städten und Gemeinden zu befähigen. Die zivilgesellschaftlichen Organisationen haben aber infolge der kriegerischen Auseinandersetzung im Osten des Landes andere Sorgen und konzentrieren sich auf in der Regel sozial ausgerichtete Tätigkeitsschwerpunkte. Hier kommt den westlichen und unter anderem auch deutschen Initiativen und zivilgesellschaftlichen Projekten eine außerordentliche Bedeutung zu.