Einleitung: Langjähriger Zwist um die Ausrichtung der Hochschulpolitik
Seit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 hat sich das ukrainische Hochschulsystem im Grunde nur unwesentlich verändert. Zwar fand eine Entideologisierung, Internationalisierung und vor allem auch Privatisierung statt, die sowjetischen Governance-Strukturen blieben jedoch weitgehend unangetastet. Das Hochschulsystem war weiterhin hochgradig zentralisiert und alle Institutionen unterstanden einer allumfassenden Kontrolle des Bildungsministeriums. Universitäten durften weder das Studienplatzangebot noch Lehrinhalte bestimmen oder eigene Diplome ausstellen; ebenso fehlte ihnen die Befugnis, ausländische Abschlüsse anzuerkennen oder ihre finanziellen Mittel selbst zu verwalten. Die fehlende Hochschulautonomie galt vielen Experten als größtes Modernisierungshindernis für das ukrainische Hochschulsystem.
Im Zuge der Reformierung des Hochschulzugangs kamen ab 2008/09 erste Vorschläge zur Reformierung des 2002 verabschiedeten Hochschulgesetzes auf, die allerdings vor allem von vielen Studierenden abgelehnt wurden. Infolge dieser heftigen Kritik am konservativen Entwurf des umstrittenen Bildungsministers Dmytro Tabatschnyk entstanden zwei alternative Entwürfe, einer aus den Reihen der Opposition und einer aus der Regierungspartei; beide wurden Ende 2011 dem Parlament vorgelegt. Da von vornherein absehbar war, dass keiner der Entwürfe eine realistische Chance hatte, verabschiedet zu werden, wurde Anfang 2012 eine offene Arbeitsgruppe gegründet, um einen einvernehmlichen Entwurf zu erarbeiten. Die Leitung der Gruppe oblag Mychajlo Sgurowsky, dem Rektor des renommierten Kiewer Polytechnischen Instituts. Die Expertengruppe, der u. a. zahlreiche Hochschulvertreter, NGOs, Studierende und unabhängige Experten angehörten, berücksichtigte mehr als 6.000 eingereichte Vorschläge und – einmalig für den politischen Prozess in der Ukraine – entschied im Konsensverfahren über den Entwurf. Durch ein politisches Manöver gelang es dem Ministerium allerdings, die Entscheidung über das Gesetz vorerst zu vertagen.
Nach den Parlamentswahlen im Oktober 2012 wurden schließlich drei Gesetzesvorlagen eingereicht. Neben dem progressiven Sgurowskyj-Entwurf brachte die Partei der Regionen eine praktisch unveränderte konservative Ministeriumsversion ein und die Opposition einen radikal-westlichen Entwurf. Praktisch war man also keinen Schritt weitergekommen und eine politische Lösung dieser Pattsituation schien nicht möglich. Zu unterschiedlich waren die Positionen und zu unversöhnlich standen sich die Parteien in der sehr emotional geführten Debatte gegenüber. Erst mit dem politischen Umbruch durch den Euromaidan sollte sich eine Veränderung abzeichnen.
Neue reformbereite Führungsebene
Im Zuge der Euromaidan-Proteste besetzten ukrainische Studierende im Februar 2014 auch das Bildungsministerium. Sie setzten durch, dass Bildungsminister Tabatschnyk und sein Stellvertreter Ewhen Sulima abgesetzt wurden. Serhyj Kwit, Rektor der progressiven Kiewer Mohyla-Akademie wurde neuer Bildungsminister und ernannte Inna Sovsun zu seiner Stellvertreterin. Beide absolvierten einen Teil ihrer Ausbildung im Westen und gelten als Vertreter einer reformorientierten Bildungspolitik. Sie leiteten ein hunderttägiges Sofortprogramm ein, dessen Prioritäten auf der Verabschiedung der Hochschulreform sowie dem Kampf gegen die grassierende Korruption im Bildungswesen lagen.
Auch das Kollegium des Bildungsministeriums, das über die strategische Ausrichtung der Bildungspolitik entscheidet, wurde mit neuen reformorientierten Akteuren besetzt, um den Reformkurs des Tandems Kwit / Sowsun zu unterstützen und den Aufbruch im Bildungssystem zu untermauern. Bereits im März 2014 wurde der erste Hochschulrektor aufgrund von Korruptionsvorwürfen entlassen. Auch Iryna Saizewa, die Tabatschnyk loyal ergebene Leiterin des Ukrainischen Zentrums zur Evaluation für Bildungsqualität (UCEQA), das für die Durchführung des Zentralabiturs und der Hochschulzulassung verantwortlich ist, wurde aufgrund von Amtsmissbrauch entlassen und durch den als integer geltenden Ihor Likartschuk ersetzt. Dies galt als Signal, dass die neue Führung es mit ihrem Reformprogramm ernst meinte.
Im April 2014 wurde schließlich der Sgurowsky-Entwurf dem infolge des Euromaidans deutlich reformorientierteren Parlament vorgelegt und zur zweiten Lesung verabschiedet, die Mitte Mai stattfand. Als sich Anfang Juni eine weitere Verzögerung abzeichnete und bereits vermutet wurde, dass das Gesetz erst nach der Sommerpause und somit nach den vorgezogenen Parlamentswahlen zur dritten und letzten Lesung eingereicht werden könnte, gab es erneute Studierendenproteste und Druck seitens der Zivilgesellschaft. Schließlich verabschiedete das Parlament am 1. Juli mit einer klaren Mehrheit von 276 (von 337) Stimmen das neue Hochschulgesetz, welches Präsident Poroschenko am 31. Juli unterzeichnete. Es trat rechtzeitig zum Semesterbeginn im September 2014 in Kraft. Der jahrelange Konflikt, der sich zunehmend lähmend auf die Entwicklung des Hochschulsystems ausgewirkt hatte, war endlich überwunden.
Rahmenbedingungen des neuen Hochschulgesetzes
Das neue Gesetz, das zu weiten Teilen auf dem zivilgesellschaftlichen Konsensentwurf der Expertengruppe beruht, stellt eine Zäsur dar und eine Abkehr vom sowjetisch geprägten ukrainischen Hochschulsystem. Nach der Unterschrift des Präsidenten sagte Bildungsminister Kwit auf einer Pressekonferenz: »Das Gesetz besitzt eine Signalwirkung für die Entwicklung der Hochschulbildung und der Wissenschaft der Ukraine. Es ist ein Reformgesetz. Daran hat drei Jahre lang faktisch die gesamte Bildungscommunity gearbeitet.«
Das neue Hochschulgesetz bringt das ukrainische Hochschulsystem näher an europäische und internationale Standards. Die wichtigsten Änderungen sind eine Entbürokratisierung und eine deutlich größere Hochschulautonomie: So werden die Rektoren nicht mehr vom Ministerium ernannt, sondern von den Hochschulen selbst gewählt. Zudem wurde die finanzielle Autonomie der Hochschulen gestärkt; sie verwalten ihre Budgets jetzt selbst. Die führenden Hochschulen sollen zudem eine bessere Finanzierung erhalten.
Es werden auch deutlich größere Freiheiten in der Lehre gewährt; die Hochschulen können nun eigenständig Curricula entwickeln und die Studierenden können etwa ein Viertel des Unterrichts frei wählen. Die studentische Selbstverwaltung wird durch mehr Kontroll- und Einflussmöglichkeiten deutlich gestärkt. Um die Internationalisierung voranzutreiben, soll nicht nur verstärkt auf Englisch unterrichtet werden, sondern vor allem auch die Nostrifizierung, also die Anerkennung von internationalen Abschlüssen, vereinfacht und in den Verantwortungsbereich der Universitäten übergeben werden – bisher war es kaum möglich, selbst internationales Spitzenpersonal einzustellen. Eine weitere Gesetzesneuerung sieht vor, die Arbeitsbelastung des Hochschulpersonals, die gegenwärtig zu den höchsten in Europa zählt, ab dem kommenden Wintersemester auf maximal 600 (statt bisher 900) Stunden pro Jahr zu reduzieren. Der Umfang der Semesterwochenstunden für Studierende soll ebenfalls gesenkt werden, von 36 auf 30 Stunden. Von 2016 an wird zudem ein neues, komplett elektronisches Zulassungsverfahren eingeführt, um Korruption bei der Studienplatzvergabe einen weiteren Riegel vorzuschieben.
Qualitätssicherung durch Vorgehen gegen wissenschaftliches Fehlverhalten
Besonderes Augenmerk wurde darauf gerichtet, die Bildungsqualität zu verbessern. Im Gesetz wurde die Gründung einer neuen und unabhängigen Agentur zur Qualitätskontrolle, Lizenzierung und Akkreditierung beschlossen. Sie ersetzt die Arbeit des bisherigen Akkreditierungskomitees, das regelmäßig Korruptionsvorwürfen ausgesetzt war. Mehrere Dutzend Mitarbeiter des Bildungsministeriums wurden aufgrund von Korruptions- und Misswirtschaftsvorwürfen in den letzten Monaten entlassen oder kündigten ihre Posten.
Plagiate stellen ein großes Problem im ukrainischen Hochschul- und Wissenschaftsbetrieb dar. Das Ministerium geht nun gezielt dagegen vor und hat innerhalb der neuen unabhängigen Agentur für Qualitätskontrolle ein eigenes Ethikkomitee zur systematischen Bekämpfung von Plagiaten eingerichtet. Das neue Hochschulgesetz führte zudem explizite Sanktionen gegen Plagiarismus ein. Wird in einer Dissertation ein Plagiat nachgewiesen, wird nicht nur der Titel aberkannt, sondern es verlieren auch die betreuenden Gutachter für zwei Jahre ihr Betreuungsrecht. Zudem wird der betreffenden Hochschule für ein Jahr das Recht verwehrt, weitere Doktortitel zu verleihen. Im Oktober 2014 wurden drei Personen, die in ihren Doktorarbeiten nachweislich plagiiert hatten, die Titel entzogen. Nachdem in den letzten Jahren zahlreichen Personen des öffentlichen Lebens Plagiate nachgewiesen worden waren, ohne dass dies Konsequenzen nach sich zog, scheint sich hier nun etwas zu ändern.
Im Rahmen der Antikorruptionsaktivitäten des Ministeriums wurde ein Institut mit etwa 600 Mitarbeitern aufgelöst, das für die zentrale Anschaffung von Lehrbüchern zuständig war und in den intransparenten Vergabeverfahren regelmäßig und in großem Umfang staatliche Gelder veruntreut hatte. Außerdem wurde die »Kiewer Universität für Kultur« nach Betrugsvorwürfen geschlossen. Die private Hochschule kassierte Studiengebühren, ohne Studieninhalte anzubieten – die etwa 3.000 Studierenden der Hochschule besuchten stattdessen Kurse an anderen Universitäten. Mehrere, vor allem private Hochschulen, die die neuen Qualitätsstandards nicht einhielten, wurden bereits geschlossen.
Herausforderungen, Chancen und Ausblick
Das neue Gesetz bietet prinzipiell gute Rahmenbedingungen für die dringend notwendige Modernisierung und Entwicklung des ukrainischen Hochschulsektors. Die Umsetzung der angestrebten Reformen gestaltet sich jedoch schwierig, nicht zuletzt aufgrund der starren Strukturen sowie der Widerstände vor allem in Teilen der älteren, sowjetisch geprägten akademischen Community. Forderungen nach mehr Transparenz stoßen zudem nicht überall auf Wohlwollen, da sie die an vielen Hochschulen signifikanten informellen Einkünfte erschwert. Daher wird zuweilen mit publizistischen Hetzkampagnen gegen die Reformvorhaben vorgegangen.
Dazu kommen weitere Faktoren, die die Umsetzung der Reformen erschweren. Während einige Universitäten von ihren neuen akademischen Freiheiten Gebrauch machen, gibt es viele Hochschulen, die sich über Jahrzehnte an die Allmacht und Kontrolle des Ministeriums gewöhnt haben und nur schwerlich mit der neuen Autonomie umzugehen wissen. Sie wenden sich weiterhin bei jeder Entscheidung an das Ministerium, z. B. wenn es darum geht, ausländische Diplome anzuerkennen.
Einige Reformen erweisen sich bisher auch als Papiertiger. Zum Beispiel sollte die Zahl der Hochschulen ob des aufgeblähten Hochschulsystems deutlich gesenkt werden und der Bildungsminister gab auch bereits bekannt, dass die Zahl der Hochschulen im letzten Jahr in etwa halbiert worden sei. Allerdings fand diese Schrumpfkur nur auf dem Papier statt: Die »verschwundenen« Hochschulen wurden lediglich von der III. und IV. Akkreditierungsstufe der Hochschulen und Universitäten in die I. und II. Akkreditierungsstufe der »Institute« übertragen.
Als nächstes will das Ministerium das Wissenschaftssystem reformieren. Hochschulen und Forschung sind noch aus der Sowjetzeit kommend zwei voneinander weitgehend getrennte Bereiche: An den Universitäten werden Studierende ausgebildet, während die Forschung den Akademien der Wissenschaften vorbehalten ist. Zukünftig sollen beide Bereiche integriert werden und Hochschulen und Akademien z. B. gemeinsame Master- und Doktorandenprogramme anbieten. Zudem sollen die Akademien einer umfangreichen Prüfung unterzogen und international wettbewerbsfähiger gemacht werden. Letzteres dürfte sich jedoch ohne einen radikalen personellen Schnitt schwierig gestalten, ist der überwiegende Anteil der Akademiemitglieder doch überaltert und vor allem am Erhalt des Status quo interessiert. Erst vor wenigen Wochen wurde Boris Paton als Leiter der Akademie im Amt bestätigt – er ist inzwischen 96 Jahre alt und leitet die Institution bereits seit 1962. Mit ihm und den anderen Mitgliedern, von denen viele jenseits der 70 sind, sind tiefgreifende Reformen nur schwer vorstellbar, zumal angesichts der derzeit angespannten finanziellen Situation kaum große Reformvorhaben möglich sind.
Hinzu kommt, dass die Reformbemühungen des Ministeriums durch den Konflikt in der Ostukraine konterkariert werden. Zum einen beansprucht der Konflikt dringend benötigte Ressourcen sowohl finanzieller als auch personeller Art. Durch die Annexion der Krim verlor die Ukraine im letzten Jahr außerdem einige bedeutende Forschungseinrichtungen. Auch die Kampfhandlungen in der Ostukraine hatten schwerwiegende Folgen: Mehrere Universitäten wurden von den Separatisten gewaltsam besetzt und mussten umgesiedelt werden. So befindet sich die Nationale Universität Donezk nun in Wynnyzja im Westen der Ukraine; zwei Kunsthochschulen sind inzwischen in Kiew ansässig, während die Mehrzahl der betroffenen Hochschulen in benachbarte Städte der Region verlegt wurde, die unter ukrainischer Kontrolle sind, wie z. B. Charkiw, Mariupol, Kramatorsk oder Krasnoarmejsk. Unter dem Konflikt leidet zusehends die akademische Zusammenarbeit mit Russland: Zum Beispiel wird das von der Volkswagen-Stiftung ausgeschriebene Förderprojekt »Trilaterale deutsch-ukrainisch-russische Partnerschaften« vom ukrainischen Bildungsministerium mit dem Hinweis boykottiert, man arbeite nicht mit einem Staat zusammen, der Teile der Ukraine okkupiere. Trotz dieser und weiterer Probleme eröffnen sich der Ukraine auch Chancen, vor allem in der Annäherung an Europa. So wurde die Ukraine inzwischen an das 80 Milliarden Euro schwere EU-Rahmenprogramm für Forschung und Innovation »Horizont 2020« assoziiert. Dadurch ist das Land neben dem Austausch auf Studierendenebene (im Rahmen des Bologna-Prozesses) nun auch stärker in die europäische Forschungslandschaft eingebunden und hat Zugang zu einer Reihe dringend benötigter Finanzierungsquellen. Mit einzelnen EU-Ländern wurde die Kooperation zudem auf der bilateralen Ebene gestärkt. So hat Polen eigens ein Stipendienprogramm für ukrainische Studierende eingerichtet, und auch von Deutschland gibt es Bemühungen, die Zusammenarbeit zu stärken.
Fazit
Nach der jahrelangen lähmenden Auseinandersetzung um die zukünftige Ausrichtung des ukrainischen Hochschulwesens wurde infolge des Euromaidans ein »europäischer« Weg eingeleitet und mit dem sowjetischen System der Hochschulgovernance gebrochen. Die neuen reformorientierten Kräfte konnten 2014 in einem »window of opportunity« ein neues Hochschulgesetz durchsetzen, das eine gute Ausgangsbasis für die dringend benötigte Modernisierung des verkrusteten Hochschulsystems bietet. Nun hängt es vor allem von den Reformern ab, ob sie die vielen guten Ideen gegen Widerstände in der akademischen Community durchsetzen können. Der Konflikt in der Ostukraine ist dabei Herausforderung und Chance zugleich: Den politischen Entscheidungsträgern ist dadurch noch stärker bewusst geworden, dass ohne eine substanzielle Verbesserung der Bildungsqualität eine Modernisierung und wirtschaftliche Stabilisierung des Landes kaum möglich ist. Die Chance für einen Wandel hin zu einem modernen und effizienten Hochschulsystem stand trotz der derzeitigen wirtschaftlich und politisch schwierigen Situation vielleicht noch nie besser als heute.