Der Reaktionär sympathisiert mit dem Revolutionär von heute,denn er verkörpert die Rache am Revolutionär von gestern.
Nicolás Gómez Dávila (1913–1994)
Überleben und kollidierende soziale Ordnungen
In mancher Hinsicht erinnert der Aufstand im Donbass, der sich nun im dritten Jahr befindet, an den Vendée-Krieg, der von Frühjahr 1793 bis Anfang 1796 im post-revolutionären Frankreich stattgefunden hat. Ein pauschaler Vergleich dieser beiden Episoden macht angesichts der Unterschiedlichkeit ihrer historischen Umstände, Ursprünge und lokalen Gegebenheiten natürlich überhaupt keinen Sinn. Der häufig missverstandene Charakter des Vendée-Kriegs und die massive Vertreibung sowie die humanitären Folgen, mit denen der Aufstand und seine Bekämpfung einhergingen, sind aber höchst lehrreich. So ging diese konterrevolutionäre Bewegung etwa weit über die Haltung ignoranter katholischer Bauern hinaus, die durch Klerus und Adel – in Reaktion auf den Verlust von Besitz, Status und Privilegien – zum Aufstand gegen Vertreter und Unterstützer des republikanischen Regimes in Paris manipuliert oder gezwungen worden waren.
Tatsächlich wurde die post-revolutionäre jakobinische Ordnung von weiten Teilen der einfachen Landbevölkerung genauso wie von Teilen der Provinzeliten als existentielle Bedrohung ihrer traditionellen Identitäten und Lebensweisen und ihrer unabhängigen regionalen Bräuche wahrgenommen, gleichzeitig spielte eine gewisse Loyalität gegenüber der abgesetzten Monarchie eine Rolle. Die post-revolutionären Reformen und die Umverteilungsmaßnahmen kamen hauptsächlich einer bourgeoisen städtischen Minderheit und nicht der Mehrheit der bäuerlichen Bevölkerung zugute. Das Fass zum Überlaufen brachte dann die Einführung der Wehrpflicht. Auch wenn die Guerilla von Adligen und Gildenmeistern angeführt wurde, war sie im Kern eine Volksbewegung. Im Vendée-Krieg stießen eher gegensätzliche gesellschaftliche und kulturelle Bestrebungen und verschiedene Auffassungen von Freiheit aufeinander, als dass eine progressive republikanische Regierung einem reaktionären Rückschlag gegenübergestanden hätte. Hauptsächlich lehrt dieser Krieg, dass emanzipatorische Ideale, werden sie umgesetzt – ganz gleich, ob schleichend oder mit harter Hand –, oft von genau den Teilen der Bevölkerung als destruktiv erlebt werden, die sie »emanzipieren« oder »aufklären« sollen.
Eben dieser Aspekt ist zur Beurteilung der Vorgänge in Donezk und Lugansk relevant. Wäre der Aufstand im Donbass wirklich lediglich eine Aktion von Moskau unterstützter Söldner, die die Bevölkerung zugunsten zynischer Interessen des organisierten Verbrechens, regionaler Oligarchen und des ehemaligen ukrainischen Präsidenten terrorisieren, oder würde er ohne jegliche lokale Unterstützung, ideologisches Narrativ und wirklichen Glauben an ein gesellschaftliches Projekt betrieben, dann wäre er sehr wahrscheinlich schon vor einiger Zeit zusammengebrochen oder gekauft worden. Es spielt keine Rolle, dass die von der ukrainischen Regierung und ihren Verbündeten nicht kontrollierten Teile von Donezk und Lugansk angeblich von Informationen aus der Außenwelt abgeschottet sind – eine hermetische Abschottung ist heutzutage nicht mehr möglich. Der Krieg, seine humanitären Konsequenzen und psychologischen Auswirkungen, haben einen Punkt erreicht, an dem sich Identitätsfragen und soziologische Unterschiede, die schon viel länger in der Ukraine existieren, so zugespitzt haben, dass eine psychologische Wiedereingliederung der betroffenen Regionen nicht mehr möglich scheint.
Sollte es also tatsächlich eine Identität und ein gesellschaftliches Konzept geben, welche von den Aufständischen gegen externe Aggression und existentielle Bedrohungen verteidigt werden, woraus bestehen diese dann und welche Eigenschaften haben sie? Natürlich unterscheiden sich die Kämpfer und die formelle und informelle Führung der Republiken von Donezk und Lugansk stark in ihren persönlichen Motivationen und dem Ausmaß an ideologischem Bewusstsein. Analysiert man aber den Kern von Diskurs, Symbolen, Ikonographie und auch Propagandamaterial der Aufständischen, so wird meiner Meinung nach ein ideologisches Narrativ sichtbar, das sich um sechs Komponenten gruppiert: die Donbass-Identität, das Erbe der UdSSR, der Große Vaterländische Krieg (d. h. der Zweite Weltkrieg) und der Antifaschismus, die christliche Orthodoxie, die Freiheitsidentität der neurussischen Steppe und der anti-koloniale Widerstand.
Die Donbass-Identität
Zum ersten haben sich die lokalen Proteste gegen (nicht umgesetzte) Pläne der neuen ukrainischen Führung, das Sprachengesetz abzuschaffen und die Anerkennung der russischen sowie anderer Minderheitensprachen zurückzunehmen, zu einem Kampf entwickelt, der von etwas mobilisiert wurde, das man den Spirit des Donbass nennen kann, also jener Gegend, die grob gesprochen zwischen Lugansk und dem Asowschen Meer liegt.
Dieser Spirit verweist auf einen für diese alte Industrieregion typischen Menschenschlag. Ein häufig erwähnter Aspekt ist die Tradition von Unruhen, die in dem historischen Umstand wurzeln, dass die Region – ursprünglich eine von nomadischen Turkvölkern wie den Kuman und den Kipçak bewohnte Steppe – schon früh Zufluchtsort für slawische Dissidenten war. Die Gegend um Lugansk zog beispielsweise protoukrainische Bevölkerungsgruppen an, die während Bogdan Chmelnizkis Kosakenaufstand zwischen 1648 und 1654 vor der polnischen Herrschaft geflohen waren. Nach 1685 siedelten sich große Gruppen verfolgter abtrünniger altorthodoxer Gläubiger in der damaligen Peripherie des russischen Großraums an, getrieben vom eschatologischen Glauben an ein baldiges Weltende. Teile der heutigen Südostukraine gehörten auch lange zu den freien Gebieten der Don-Kosaken. Die derzeitige soziologische Identität der Region geht aber auf die schrittweise Industrialisierung zurück, die nach der ersten Entdeckung der Kohlevorkommen 1720 begann und mit Kohle, Stahl und Eisenbahn sowie mit dem Einsetzen internationaler Investitionen zwischen 1860 und 1890 in Schwung kam.
Als industrielles Herz des zaristischen Russlands und später der UdSSR wurde der Donbass ein Epizentrum verschiedenster Arbeiter- und sozialer Bewegungen. Aus ihnen heraus wurde etwa 1918 die Sowjetrepublik Donezk-Kriwoi Rog gegründet, die nur kurz existierte und deren Fahne die heutige Republik Donezk verwendet. Zum Ende der Sowjetunion 1989/90 führten diese Bewegungen zu den Bergarbeiterstreiks im Donbass. Noch wichtiger ist für die Verfechter der Donbass-Identität jedoch das Bild vom Donbass als Heimat rauer, aber ehrlicher und zuverlässiger Arbeiter, denen harte Arbeit eher liegt als reden und heiße Luft und deren Lebensstil, Einstellungen und Werte dementsprechend denjenigen der arroganten Kosmopoliten und wetterwendigen »New Economy«-Geschäftsleute aus Kiew komplett zuwiderlaufen, genauso wie denen der galizischen (d. h. westukrainischen) Mitteleuropäer, deren Identität auf ihrer langen Zugehörigkeit zum Habsburger Reich und zum polnischen Einflussbereich gründet.
Antipathie und soziales Vorurteil beruhen übrigens auf Gegenseitigkeit, die Bevölkerung des Donbass wird in europhilen Salons und Hipster-Cafés als hinterwäldlerischer und prolliger Menschenschlag beschrieben, der es nicht schafft, mit der Globalisierung zurechtzukommen.
Auf der Seite des Donbass ist hingegen die Vorstellung dominant, dass vor allem der Donbass für das wirtschaftliche Wohlergehen des Landes verantwortlich ist – hier befand sich bis zum Krieg ein Großteil der ukrainischen Industrie und des ukrainischen Bergbaus und hier wurde zwischen 1997 und 2007 ein beträchtlicher Beitrag zur wirtschaftlichen Erholung des Landes geleistet.
Der derzeitige Konflikt wird nicht als ethnischer Krieg zwischen Ukrainern und Russen verstanden, obwohl der Donbass zwischen 1926 und 1959 durch die Ansiedlung nichtukrainischer Gruppen aus anderen Teilen der UdSSR, die in der Industrie arbeiten sollten, demographisch betrachtet russifiziert oder zumindest diversifiziert wurde. Tatsächlich haben viele aufständische Kämpfer und deren Unterstützer selbst (zum Teil) ukrainische Wurzeln. Es ist eher ein Kampf für einen inklusiven Donbass, der sich definiert über Multiethnizität, regionale Verbrüderung, bestimmte Formen der sozialen Organisation und die verbindende Kraft der russischen Sprache – die für etwa zwei Drittel der Bevölkerung der beiden Provinzen laut offiziellen Volkszählungen Muttersprache oder zumindest Alltagssprache ist.
Sowjetische Restauration
Der zweite zentrale Bestandteil der Donbass-Widerstandsidentität sind Erinnerungen an die sozialen Errungenschaften und die soziale Gerechtigkeit in der Sowjetunion. Dabei haben wir es weder mit einem Bekenntnis zur marxistischen Ideologie noch zur politischen Führung der lokalen kommunistischen Parteien unter den Aufständischen zu tun. Wichtig ist hier vielmehr die Idee eines großen und starken Vaterlands, in dem der Donbass als Herzstück und historisches proletarisches Zentrum eine besondere Position einnahm, die ihm zu Selbstvertrauen und einer Reihe von Privilegien verhalf. Die Zugehörigkeit zu einem organischen russisch dominierten Großraum gilt als Bedingung für das Überleben des Donbass sowohl als Wirtschaftsraum als auch als soziale Identität. Die Donbass-Widerstandsidentität erkennt zwar Privatbesitz und Marktwirtschaft an, ihr Mobilisierungsdiskurs betont jedoch auch die Notwendigkeit, die sozialökonomische Rolle des Staates als Emanation des Volks und die staatliche Kontrolle über die wichtigsten Wirtschaftssektoren im Donbass wiederzubeleben, und stellt sich damit komplett in Opposition zu angelsächsischem Neoliberalismus und Marktfundamentalismus. Die Bevölkerung im Donbass kann durch eine Integration in die Europäische Union, bei der in Westeuropa seit den 1980er Jahren alte Industriegebiete und -gesellschaften durch Zechenschließungen und Deindustrialisierung demontiert und marginalisiert wurden, nicht gewinnen.
Die UdSSR wird außerdem mit sozialer Stabilität bei ziemlich gleichmäßiger Einkommensverteilung, niedriger Verbrechensrate, ziemlich gut entwickelten sozialen Dienstleistungen, einer Arbeitsplatzgarantie und starkem Humankapital assoziiert. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR und der ukrainischen Unabhängigkeit funktionierte ein beträchtlicher Teil der Donbass-Industrie mit neuen Besitzstrukturen und innerhalb der neuen Finanzoligarchien national und global wirtschaftlich weiter. Viele der sozialen Errungenschaften der UdSSR gingen allerdings verloren. Direkt nach dem Untergang der Sowjetunion war der Donbass auch von einem starken Bevölkerungsrückgang geprägt. Zwischen 1989 und 1998 verlor die Region mehr als 1,5 Millionen Einwohner durch Wirtschaftsmigration, einbrechende Geburtenraten und die gesamten Auswirkungen des sozialen Zerfalls, der als existentielle Bedrohung für Lebensnerv und Identität des Donbass wahrgenommen wurde. Die sozialen und psychologischen Auswirkungen der Auflösung der Sowjetunion sind ganz eindeutig ein polarisierendes Erlebnis größeren Ausmaßes, das die derzeitige Identität des Donbass geformt hat.
Anti-faschistischer Widerstand
Die Bedeutung der UdSSR oder zumindest einiger ihrer Aspekte und Episoden für den ideologischen Kontext des Donbass-Widerstands bringt uns zu dessen dritter Komponente, dem Großen Vaterländischen Krieg (1941–45) und seinem antifaschistischen Kampf. Die Aufständischen sehen sich als neue Generation von Männern, die die Pflicht zur Verteidigung des Donbass erfüllen und damit zum einen den Revolutionären der Sowjetrepublik Donezk-Kriwoi Rog nachfolgen, die die ukrainischen Nationalisten und 1918 die antibolschewistischen Don-Kosaken und ihre deutschen und polnischen Unterstützer bekämpft haben, und zum anderen natürlich auch den Partisanen, die sich von Oktober 1941 bis Februar 1943 der deutschen Besetzung des Donbass widersetzt haben. Als solche sind sie Teil einer noch stark in der alten Sowjetunion verankerten Erinnerungskultur an den Großen Vaterländischen Krieg. In der Sicht der Aufständischen haben ukrainischer Nationalismus und Ultranationalismus immer Auftrieb durch die Unterstützung ausländischer Invasoren und Besatzer bekommen.
Dies bezieht sich auch auf die Unterstützung des Deutschen Kaiserreichs für die Ukrainische Räterepublik und für Hetman Skoropadskis ukrainischen Staat von 1917/18. Besonders hervorgehoben wird die Rolle ausländischer Unterstützung in Bezug auf die galizisch-ukrainischen Nationalbewegungen und ihre Hilfseinheiten, die mit den nationalsozialistischen Besatzern der Ukraine und mit Stepan Banderas Unabhängigkeitserklärung der Ukraine im Sommer 1941 kollaborierten. Die »Banderiten«, die derzeitigen ukrainischen Ultranationalisten, die in der Regierung und in den paramilitärischen Einheiten vertreten sind, die die Aufständischen im Donbass bekämpfen, gelten als direkte Nachfolger der Nazi-Kollaborateure. Aus der Perspektive der Aufständischen ist der einzige Unterschied, dass sie heute nicht mehr der deutschen Expansion dienen, sondern der Übernahme und Besetzung des Landes wie letztlich auch der russischen Welt durch die NATO und Amerika. Das erklärt die starke anti-amerikanische und Anti-NATO-Linie der Aufständischen im Donbass.
Orthodoxie als kulturelle Verteidigung
Der vierte Bestandteil der aufständischen Ideologie in der Südostukraine ist die russische Orthodoxie. Russisch-orthodoxe Symbole tauchten beim Aufstand schon früh auf und einige Kosakeneinheiten wie die Orthodoxe Armee beziehen sich explizit auf den religiösen Charakter des Kampfs. Unabhängig davon, wie sehr einzelne Aufständische und ihre Unterstützer die Religion aktuell im Alltag praktizieren, sind die russische Orthodoxie und die orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats zentrale Momente der russischen Identität und ein Bindeglied für den russischen Großraum, von dem der Donbass sich in der Perspektive der Aufständischen als ein unveräußerlicher Teil versteht. Zudem gilt die Orthodoxie als Wächterin über die traditionellen Werte und Normen der Familie sowie jener sozialen Organisation, auf denen die Gesellschaft aufgebaut sein müsste. Damit wird sie als Teil der eigenen Mission gesehen, die als kulturelle Verteidigung gegen den Liberalismus und eine verweichlichte, entchristianisierte und zum Vassallen degradierte Europäische Union beschrieben wird.
Da globalisierte Liberale ein persönliches Interesse daran hätten, die christlich-orthodoxe Zivilisation zu zerstören, werde diese von verschiedenen Seiten attackiert: von protestantischen und pfingstkirchlichen Missionaren und verschiedenen Sekten, die seit den 1990er Jahren in vielen Teilen der alten UdSSR aktiv waren, von einer ausländisch finanzierten »Zivilgesellschaft«, von breit organisierten internationalen Gay- und Transgenderkampagnen, durch militärische Aggression gegen Serbien und die Serben im ehemaligen Jugoslawien und jetzt auch noch gegen den Donbass und die russische Orthodoxie im Rest der Ukraine. Die Aussage, dass eine Reihe führender Persönlichkeiten in der aktuellen ukrainischen Regierung und in der vom Ausland unterstützten Protestbewegung Protestanten und Scientologen seien, gilt als Beleg der destruktiven Rolle von nichttraditionellen Gläubigen. An der Front im Donbass stehe daher das Überleben einer Zivilisation und des wahren Christentums auf dem Spiel.
Freiheitsidentität der neurussischen Steppe
Eine fünfte Komponente der aufständischen Ideologie, die die geographischen Grenzen des eigentlichen Donbass überschreitet, sind die für »Neurussland« und die »wilde Steppe« typische Grenzidentität. Historisch betrachtet bezieht sie sich auf die dünn besiedelte Kipçak-Steppe und die Nordküste des Schwarzen und des Asowschen Meers, die seit dem Russisch-Ottomanischen Krieg von 1768 bis 1774 als militärisches Grenzgebiet zum russischen Großraum gehörten. Nach und nach wurden diese Gebiete dem militärischen Gouvernement Novorossiisk (»Neurussland«) einverleibt, dessen Territorium sich schließlich bis zum Dnjestr und nach Bessarabien (also dem heutigen Moldawien an der Grenze zu Rumänien) erstreckte. Der aktuelle Bezug auf Neurussland ist in zweierlei Weise relevant.
Zum einen bezieht sich Neurussland (Noworossija auf Russisch) auf Gegenden in der südlichen und südöstlichen Ukraine vom Donbass bis nach Odessa und Transnistrien, in denen das russische Element sehr präsent ist und die sich aus Sicht der aufständischen Ideologie letztendlich zu einem Staatenbund zusammenschließen sollten, wenn der derzeitige ukrainische Staat zusammenbricht.
Zum anderen gilt die alte wilde Steppe als Teil der russischen Welt mit einer starken Tradition von freien Bürgern und Pionieren. Einige Bereiche dieser Region waren bereits von slawischen Gruppen wie Kosaken, (Proto-)Ukrainern und Altorthodoxen besiedelt, bevor das Land vom zaristischen Russland offiziell annektiert wurde. Im 18. Jahrhundert kam es aber zu einer systematischeren Kolonisierung durch die Ansiedlung von slawischer Bevölkerung, die das Grenzgebiet demographisch stärker im russischen Großraum verankern sollte. Anders als viele Bauern im russischen Kerngebiet waren die Siedler meist keine Leibeigenen, sondern freie Bauern. Die kosakische, demokratisch-freie Selbstverwaltung, die Bauernräte und die gemeinschaftlichen Landbesitzstrukturen, die sie schufen, waren ihrer Zeit weit voraus, gelten als historische Präzedenzfälle und werden von den Aufständischen als Grundpfeiler einer nicht-liberalen Demokratie präsentiert, die in der Region errichtet werden soll.
Bürgerkrieg oder Kolonialkrieg?
Außerdem gibt es unter den Aufständischen die Überzeugung, dass sie, ihre Ideologen und die ihnen zugeneigten Meinungsmacher keinen separatistischen, sondern einen Kolonialkrieg kämpfen. Hier manifestiert sich zum einen eine starke Ablehnung der Oligarchen – vor allem, aber nicht nur der regierungsnahen Oligarchen, die die ukrainische Regierung als offizielle Gouverneure in der Ostukraine eingesetzt hat –, die die Ukraine und den Donbass aus dieser Sicht an ausländische Interessen verkauft und die sozialen Errungenschaften der Sowjetzeit zerstört haben.
Die aktuelle Regierung der Ukraine stehe unter der Vormundschaft des IWF, so die Vertreter dieser Überzeugung, der das Potential des Landes verschleudern will, indem er es zu einem bloßen Reservoir für billige Arbeitskräfte und zu einer Kolonie agroindustrieller transnationaler Konzerne und der Schiefergasindustrie macht, die um die zufälligerweise im Ostteil des Landes existierenden Reserven buhlt. Das bedeutet natürlich Privatisierung und über kurz oder lang die Demontage des Bergbaus und anderer Industriesektoren im Donbass.
Außerdem werden der Krieg und die sogenannte Anti-Terror-Operation im Donbass als Vorläufer einer physischen und sozialen Zerstörung des Donbass gesehen, in deren Folge der Wiederaufbau nach und nach an ausländische und mit dem Regime verquickte Unternehmen sowie aus dem Ausland finanzierte zivilgesellschaftliche und internationale Organisationen mit ihrer ideologischen Agenda übergeben werden könne.
Resümee
Mit ihren sowjetischen, zaristischen und traditionalistisch-christlichen Anleihen ist die Donbass-Widerstandsidentität so eklektisch wie paradox. Sie ist aber jenseits der klassischen Links-Rechts-Dichotomie angesiedelt und verfügt offenbar über ein gewisses internationales Flair. Das zeigt eine Reihe westeuropäischer und lateinamerikanischer Linker, die von einer militanten Linken enttäuscht sind, die sich – wie es einmal anekdotisch gefasst wurde – mehr um Transgenderrechte und einen fröhlichen Multikulturalismus sorgt als um die Probleme der Arbeiterklassen. Genauso gibt es militante Rechte, die den wirtschaftlichen Neoliberalismus vieler nationalistischer westeuropäischer Parteien ablehnen. Aus beiden Gruppen hat sich eine Reihe von Freiwilligen dem Donbass-Aufstand angeschlossen.
Abseits aller Ideologie ist ein bedeutsamer psychologischer Faktor zur Erklärung der Verbissenheit des Donbass-Widerstands die Erwartung, dass die Reaktion der ukrainischen Zentralregierung, ihrer Armee und der ultranationalistischen Paramilitärs nach einem Fall von Donezk und Lugansk tatsächlich der republikanischen Repression in der Vendée vor dem Aufstand und nach seiner Niederschlagung ähnlich wäre. In dieser Region mit insgesamt etwa 800.000 Einwohnern wurden mindestens 170.000 Zivilisten und Kämpfer getötet, außerdem kam es zu Massenertränkungen »widerspenstiger Elemente« und zu etwa 7.000 Todesurteilen in Reaktion auf den Aufstand. Ein Element, das in diesem Zusammenhang in Diskurs und Ikonographie des Donbass-Aufstands auftaucht, sind die »42 Märtyrer vom 2. Mai«. Gemeint sind damit die prorussischen Demonstranten, die beim Brand des Gewerkschaftsgebäudes in Odessa umkamen und die häufig herangezogen werden, um zu zeigen, was vermeintlich bevorstünde, würden die »Banderiten« den Donbass zurückerobern.
Insgesamt ähnelt die Widerstandsidentität des Donbass derjenigen, die sich im Laufe der Jahre in Transnistrien entwickelt hat, jener Region, die sich 1990 von Moldawien abgespalten hat. Der Transnistrische Krieg, der 1992 als Versuch einer Rückeroberung des Gebietes folgte, dauerte jedoch nur vier Monate und das Ausmaß der Zerstörung und die mit ihm einhergehende humanitäre Krise waren viel geringer als jetzt in der Südostukraine. Die Bedingungen für eine Konsolidierung einer Form von echter Staatlichkeit waren dort also günstiger. Im Donbass sind Separatismus und die internationale Anerkennung einer de-facto-Staatlichkeit an sich womöglich noch nicht einmal das Ziel. Sezession wird aber zumindest so lange als eine Notwendigkeit betrachtet, wie die Ukraine in der Sicht der Aufständischen von amerikanischen Vasallen, Liberalen und Banderiten regiert wird. Der de-facto-Staat soll außerdem als Versuchsfeld fungieren, auf dem das angestrebte gesellschaftliche und ideologische Modell in die Tat umgesetzt werden kann.
Übersetzung aus dem Englischen: Sophie Hellgardt