EU-Visaliberalisierung für die Ukraine – Auswirkungen auf Reformen und Mobilität

Von Iryna Sushko (NGO Europa ohne Grenzen, Kiew)

Zusammenfassung
Seit Juni 2017 können ukrainische Staatsbürger ohne Visum in die EU einreisen. Der vorliegende Beitrag blickt auf das erste Jahr des visafreien Regimes zurück. Er stellt die Auswirkungen auf Mobilität und Reformen in der Ukraine vor, geht auf die Rolle der Zivilgesellschaft bei der Umsetzung der Reformen ein und liefert einen Ausblick auf mögliche neue Projekte auf dem Gebiet der europäischen Integration, die einen ähnlich starken Anreiz für die Politik darstellen können, Reformen durchzuführen.

Einleitung

Im Juni 2017 wurde zwischen der EU und der Ukraine ein visafreies Regime eingeführt, welches zum einen neue Möglichkeiten für Kontakte zwischen Menschen eröffnete. Ebenso wichtig scheint die Visaliberalisierung für ukrainische Reformen in den Bereichen öffentliche Ordnung, Justiz und Sicherheit gewesen zu sein. Die Politiker haben mit der Einführung des Aktionsplans zur Visaliberalisierung, den die EU der Ukraine im November 2010 vorgab, eine Chance zur Modernisierung bekommen.

Im Sommer 2016, ein Jahr vor Einführung der Visafreiheit für die Ukraine, verabschiedete die EU einen neuen Mechanismus für die Aussetzung der Visafreiheit, der bei bestimmten Verstößen durch Länder mit Visafreiheit gegen formale Kriterien in Kraft tritt. Zentraler Punkt ist dabei, auch für die Ukraine, die Sicherheit der Migration.

Folgende Kriterien spielen dabei eine Rolle:

Anzahl der ukrainischen Staatsbürger, denen die Einreise am Grenzübergang verweigert wirdAnzahl der ukrainischen Bürger, die sich widerrechtlich ohne entsprechende Dokumente und Genehmigung in EU-Mitgliedsländern aufhaltenAnzahl der Asylanträge von ukrainischen StaatsbürgernAnzahl der von der Ukraine abgelehnten RückübernahmeersucheBedrohung der Sicherheit auf europäischem Hoheitsgebiet durch ukrainische Staatsbürger; Zunahme der organisierten Kriminalität

Die EU-Mitgliedsstaaten sowie die EU-Kommission können den Mechanismus zur Aussetzung der Visafreiheit auslösen, sobald über einen Zeitraum von zwei Monaten bei einem der obengenannten Punkte ein Anstieg von 50 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zu verzeichnen ist.

Zusätzlich erhielt jedes Land im Rahmen des Abkommens mit der EU und den Schengen-Staaten über das visumsfreie Reisen spezielle »Hausaufgaben«, die den Umgang mit besonders sensiblen Problemen betrafen. Die Ukraine beispielsweise musste die Wirksamkeit ihres Migrationsmanagements unter Beweis stellen, indem sie illegale Migration verhinderte und Korruption in den Bereichen Ausweisausstellung und Grenzkontrolle bekämpfte. Georgien dagegen, das im selben Jahr wie die Ukraine das visafreie Regime mit der EU einführte, musste sich mit dem Problem der durch georgische Staatsbürger in der EU (vor allem in Deutschland und Schweden) begangenen Straftaten befassen.

Umsetzung des visafreien Regimes

Wie häufig am Grenzübergang die Einreise verweigert wird – aufgrund eines fehlenden gültigen biometrischen Reisepasses oder aufgrund fehlender Dokumente, die den Zweck des Besuchs bestätigen –, spielt für eine mögliche Aussetzung der Visafreiheit eine Rolle. In Bezug auf dieses Kriterium besteht derzeit im Hinblick auf die Ukraine eine relativ stabile Situation ohne negative Auswirkungen. Das visafreie Regime nutzten nach offiziellen Angaben im Jahr der Einführung, 2017, insgesamt fast eine halbe Million Ukrainer. Die Experten der NGO Europa ohne Grenzen gehen allerdings davon aus, dass die tatsächliche Zahl deutlich höher ist. Bei der offiziellen Auswertung werden diejenigen ukrainischen Staatsbürger nicht berücksichtigt, die über Drittstaaten wie Belarus, Russland, die Republik Moldau, die Türkei und die Länder des Westbalkan visafrei in die EU eingereist sind. Laut Bericht des staatlichen Grenzschutzdienstes der Ukraine stieg der Personenverkehr aus der Ukraine in die EU nach Einführung des visafreien Regimes direkt im letzten Sommer um 15 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Nach Angaben der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (FRONTEX) verweigerten Grenzbeamte der EU-Mitgliedsstaaten im Jahr 2017 insgesamt 37.117 ukrainischen Staatsbürgern die Einreise, was einer Zunahme von 34 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht. Meist wurde die Einreise verweigert, weil die Reisenden den Zweck der Reise nicht nachweisen konnten, keine Aufenthaltserlaubnis hatten oder nicht ausreichend Geld für den Aufenthalt vorweisen konnten und damit die Einreisebedingungen nicht erfüllten.

Was den widerrechtlichen Aufenthalt von ukrainischen Staatsbürgern in EU-Mitgliedsländern angeht, zeigen die Statistiken von FRONTEX, dass im Jahr 2017 die Anzahl der entdeckten »illegalen« Ukrainer um 12 Prozent gestiegen ist. Es ist jedoch wichtig zu wissen, dass sich die Dynamik des illegalen Aufenthalts von Ukrainern insgesamt abschwächt, da die entsprechende Zahl im Jahr 2016 noch um 28 Prozent gegenüber 2015 gestiegen war.

Im Jahr 2017 sank die Anzahl der ukrainischen Staatsbürger, die beim Grenzübertritt oder im Hoheitsgebiet der EU-Mitgliedstaaten mit gefälschten Dokumenten erwischt wurden, um ein Drittel und lag bei 801 Fällen, gegenüber 1.208 Fällen im Jahr 2016. FRONTEX zufolge verwandten im letzten Jahr vor allem Marokkaner und Bürger der Russischen Föderation gefälschte Dokumente. In den meisten Fällen verwandten die marokkanischen Bürger falsche spanische Ausweispapiere, während Ukrainer gefälschte polnische Visa besaßen. Die Einführung des visafreien Regimes für ukrainische Staatsbürger führte automatisch zu einem Rückgang der Betrugsfälle, da der Bedarf an gefälschten Visa nicht mehr besteht. Gleichzeitig wurde in der Ukraine die für die Ausstellung von Ausweisdokumenten zuständige Verwaltung reformiert und der Schutz personenbezogener Daten verbessert.

Die Zahl der aus der Ukraine in die EU eingereisten Asylbewerber ist ebenfalls rückläufig. Die jüngsten Daten des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen für den Zeitraum 2016 bis 2017 bestätigen, dass die Zahl der Asylbewerber aus der Ukraine in den letzten zwei Jahren stetig zurückgegangen ist und dass das visafreie Regime nicht zu einem Anstieg entsprechender Asylanträge geführt hat.

Auswirkungen auf Mobilität und Reformen

Die Einführung des visafreien Regimes mit der EU führte zu größerer Mobilität der Ukrainer bei Reisen in die EU. Dies zeigte sich besonders in der Ostukraine, von wo aus Reisen in die EU stark zugenommen haben, während die Anzahl der Reisen nach Russland zurückging. Gemäß einer Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS) vom Dezember 2017 ist der Anteil derjenigen Ukrainer, die die EU besucht haben, auf 11 Prozent gestiegen, wobei sich der Wert für die Ostukraine vervierfacht hat.

Für viele Ukrainer ist das Abkommen mit der EU über visafreies Reisen nicht nur ein Mittel, um Kontakte zu vertiefen und die Mobilität zu erhöhen. Die Abschaffung der Visumpflicht ist gleichzeitig ein Symbol für die praktische Integration der Ukrainer in die EU sowie eine Anerkennung für die Bemühungen, mit dem Euromaidan (Revolution der Würde im Jahr 2014) die europäischen Werte zu schützen, die im Assoziierungsabkommen mit der EU festgehalten sind.

Gleichzeitig glaubt mehr als ein Drittel der Ukrainer, dass die Einführung des visafreien Regimes zur Durchführung wichtiger Reformen in der Ukraine beigetragen hat. Somit wurden zwei wichtige Ziele erreicht: zum einen Mobilität und zum anderen die Einleitung von Modernisierungsmaßnahmen in konkreten Politikbereichen.

Die ukrainische Regierung hat fast sieben Jahren gebraucht, um die Aufgaben zu bewältigen, die im Aktionsplan für die Visaliberalisierung vorgeschrieben waren, und genauso lange währte die zivilgesellschaftliche Überwachung, die Fortschritte oder Abweichungen in Bezug auf die definierten EU-Kriterien erfasste. Unpopuläre politische Entscheidungen wurden in diesem Zusammenhang befürwortet, über den Fortschritt der Reformen wurde aktiv öffentlich berichtet. Die Ergebnisse der unabhängigen Überwachung durch die Zivilgesellschaft wurden sowohl von einigen für die Umsetzung der Vereinbarung mit der EU zuständigen ukrainischen Behörden als auch von Experten der EU, die an einer unvoreingenommenen Bewertung der Qualität des Reformprozesses interessiert waren, verwandt.

Als besondere Herausforderung erwies sich für die ukrainische Regierung die Bekämpfung der Korruption. Die Aufgaben in Bezug auf die Grenzverwaltung und das Migrationsmanagement wurden am erfolgreichsten bewältigt. Dabei ging es zunächst um die Einführung eines Konzepts der integrierten Grenzverwaltung, bestehend aus folgenden Komponenten bzw. Aufgaben:

Untersuchung der grenzüberschreitenden Kriminalität in Zusammenarbeit mit den zuständigen StrafverfolgungsbehördenVierstufiges Zugangsmodell (Zusammenarbeit mit Nachbarländern, Grenzkontroll- und Kontrollmaßnahmen in der Freizügigkeitszone [bzw. im Schengen-Raum], einschließlich der Überwachung von Ausländern und der Kontrolle ihrer Rückkehr)Zwischenbehördliche Zusammenarbeit im Grenzmanagement (Grenzdienste, Zoll, Polizei, Migrationsbehörden, Sicherheitsdienste und andere spezialisierte Behörden); Koordinierung der internationalen Zusammenarbeit

Ein wichtiger Bestandteil des Konzepts ist die Risikoanalyse. Dieses Instrument der Grenzsicherung ermöglicht es den Strafverfolgungsbehörden, fundierte Entscheidungen zu treffen, um Straftaten zu ermitteln, Sicherheitsrisiken zu verringern und den legitimen Personen- und Güterverkehr zu erleichtern. Die Reformen haben sich auch auf das Migrationsmanagement ausgewirkt. Es wurden entsprechende Gesetze zur Regulierung der Arbeitsmigration, Auswanderung und Zwangsumsiedlung entwickelt und verabschiedet.

Zur Liberalisierung der Visaverfahren wurden neue Ausweisdokumente eingeführt – biometrische Reisepässe, die von der EU zur Bedingung für visafreies Reisen gemacht werden. Die Ausstellung von biometrischen Reisepässen begann im Jahr 2015. Bis zum Jahr 2017 stellte die staatliche Migrationsbehörde fast 4 Millionen Reisepässe für Reisen ins Ausland aus. Außerdem werden neue Personalausweise mit einem besseren Schutz personenbezogener Daten die internen ukrainischen Pässe ersetzen.

Im Rahmen des Aktionsplans zur Visaliberalisierung wurde eine Zusammenarbeit der Ukraine mit dem Europäischen Polizeiamt (Europol) bei operativen und strategischen Fragen eingeleitet, die den Austausch benötigter Informationen im Rahmen von Strafverfahren ermöglicht. Zudem wurde die Zusammenarbeit mit der europäischen Justizbehörde (Eurojust) aufgenommen, die den Austausch von Informationen zur Bekämpfung schwerer Straftaten, einschließlich der organisierten Kriminalität und des Terrorismus, vorsieht.

Schwierige Korruptionsbekämpfung

Besonders schwierig war es, vor dem Hintergrund der Visaliberalisierung die Forderungen im Bereich der Korruptionsbekämpfung zu erfüllen. Aus diesem Grund hat die Ukraine in diesem Bereich umstrittene Ergebnisse erzielt. Auf der einen Seite wurden neue Antikorruptionsbehörden gegründet, wie die Nationale Agentur zur Verhinderung von Korruption und das Nationale Antikorruptionsbüro (NABU). Auf der anderen Seite haben diese neuen Behörden nicht die erwarteten Erfolge erzielt, nämlich die Einleitung von Korruptionsverfahren gegen korrupte Beamte und Politiker von den höchsten Stufen der Macht.

Als sehr problematisch erwies sich die Einführung eines Systems für elektronische Einkommenserklärungen von Beamten und Politikern. Ständige Systemausfälle und rechtliche Blockaden machten die Erfüllung dieser Vorgabe schwierig. Druck von Vertretern der ukrainischen Zivilgesellschaft machte die Einführung dieses Systems jedoch möglich. Um die Transparenz der Vermögenserklärungen von Politikern und Beamten im Jahr 2017 zu gewährleisten, wurde ein einheitliches staatliches Deklarationsregister für Personen eingeführt. Im selben Jahr wurde die Nationale Agentur der Ukraine für Auffindung, Zurückverfolgung und Verwaltung von Vermögenswerten aus Korruption und anderen Verbrechen (ARMA) gegründet. Allerdings gibt es immer noch viele Zweifel über die Fortschritte bei der Prävention und Bekämpfung von Korruption. Es ist zum Beispiel erforderlich, eine neue Antikorruptionsstrategie zu verabschieden, um die Wirksamkeit der Nationalen Agentur zur Verhinderung von Korruption zu erhöhen, und die Justizreform abzuschließen.

Erst 2017 wurde die Reform des Obersten Gerichtshofes der Ukraine begonnen. Es wurde ein großangelegtes offenes Auswahlverfahren durchgeführt, das zur Ernennung von 120 Richtern des neuen Obersten Gerichtshofes führte. Die Reform sieht auch die Einführung eines »elektronischen Gerichtsmanagements« vor, um die Kommunikation mit dem Gericht zu verbessern und die Betriebskosten für diese Instanz zu senken. Jedoch bestehen immer noch mehr Herausforderungen und Aufgaben, als Erfolge zu verzeichnen wären. Zentrale Aufgabe ist die Verabschiedung eines Gesetzes über das Antikorruptionsgericht – und die anschließende Schaffung dieses Gerichts.

Nachhaltigkeit der Reformen sicherstellen

Der Prozess der Visaliberalisierung ist insgesamt zu einem sehr wirksamen Instrument für den internen Wandel und die Modernisierung einzelner Politikbereiche in der Ukraine geworden und stärkt die Zusammenarbeit mit der EU, vor allem im Bereich der Sicherheit. Es ist jedoch wichtig sicherzustellen, dass die im Rahmen der Visaliberalisierung erzielten Fortschritte dauerhaft und unumkehrbar sind. Anlass zu Zweifeln an der Nachhaltigkeit von Reformen nach der Einführung des visafreien Regimes hat die Republik Moldau gegeben, die bei der Visaliberalisierung im Rahmen der Östlichen Partnerschaft am schnellsten Fortschritte machte und direkt nach der Visaliberalisierung begann, einen Teil der entsprechenden Reformen rückgängig zu machen. Als die Europäische Kommission 2015 ihren Abschlussbericht veröffentlichte, in dem sie anerkannte, dass die Ukraine alle Verpflichtungen erfüllt habe, stellte sich somit die Frage nach der Entwicklung neuer Instrumente zur Sicherung und Fortsetzung der durchgesetzten Reformen.

Die Entscheidung der Europäischen Union, eine Überwachung der zur Voraussetzung für die Visaliberalisierung gemachten Reformen einzurichten, war dementsprechend keine Überraschung. Auch zivilgesellschaftliche Aktivisten, die sich im Rahmen des Prozesses der Visaliberalisierung für Reformen in der Ukraine einsetzten, unterstützten die Idee, den Stand der Reformen, insbesondere im Bereich der Korruptionsbekämpfung, weiter zu kontrollieren.

Daher wurde im ersten Bericht der Europäischen Kommission nach der Visaliberalisierung (»First Report under the Visa Suspension Mechanism«) bestätigt, dass die Ukraine gewisse Fortschritte im Kampf gegen die Korruption gemacht habe, unter anderem durch die Arbeit des neu gegründeten Nationalen Antikorruptionsbüros und der besonderen Antikorruptionsstaatsanwaltschaft. Gleichzeitig bleibe die Nachhaltigkeit der Reformen eine Herausforderung. Besondere Aufmerksamkeit sollte unter anderem der Entwicklung und Arbeit der Nationalen Agentur zur Verhinderung von Korruption gewidmet werden. Der Bericht der Europäischen Kommission verweist auf den Konflikt zwischen dem Nationalen Antikorruptionsbüro (NABU) und der Generalstaatsanwaltschaft, auf die Offenlegung der vom NABU durchgeführten Untersuchungen und auf nur sehr wenige Gerichtsverfahren, die im Zusammenhang mit Korruption auf den höchsten Machtebenen eingeleitet wurden.

Neben dem Schwerpunkt Korruptionsbekämpfung konzentriert sich die EU im genannten Bericht auf Politikbereiche, in denen einige Erfolge nachgewiesen wurden oder eine solide Grundlage für qualitative Veränderungen geschaffen wurde. Dazu gehören Dokumentensicherheit, Grenzmanagement, Asylpolitik, Antidiskriminierung und Gleichberechtigung.

Neue Aufgaben für Politik und Zivilgesellschaft

Angesichts der Aufgeschlossenheit und des Vertrauens von Seiten der EU wurde das visafreie Regime so zu einem besonderen Test in Bezug auf die verantwortungsvolle Haltung der einbezogenen Länder. Natürlich werfen die Kriterien zur möglichen Aussetzung der Visafreiheit und der Mechanismus zur Überwachung viele Fragen auf. Zunächst ging es darum, ob es der Ukraine gelingen würde, die Bedingungen für die Beibehaltung der Visafreiheit zu erfüllen, und darum, wie sich die Visafreiheit auf die Migration in die EU auswirken würde. Da das erste Jahr nach Einführung der Visafreiheit gezeigt hat, dass die meisten Ukrainer ehrlich und verantwortungsbewusst mit den neuen Reisemöglichkeiten umgehen, stellen sich die nächsten Fragen: Was kommt nach der Visaliberalisierung? Welches neue Projekt auf dem Gebiet der europäischen Integration kann der nächste, ebenso starke Anreiz für die Regierung der Ukraine sein, Reformen durchzuführen?

Die Bewertung der Fortschritte der ukrainischen Reformen in einzelnen Teilbereichen kann dazu beitragen, die entsprechenden Reformen voranzutreiben und neue Instrumente zur Umsetzung dieser Aufgaben zu schaffen. Die erfolgreiche Einführung der Visaliberalisierung und der darauf folgende Übergangszeitraum machen die Schaffung einer neuen Form öffentlicher Kontrolle über die Nachhaltigkeit des Wandels nötig, sowie die Entwicklung von Expertennetzwerken, die die Öffentlichkeit über die aktuelle Lage informieren und eine aufgeschlossene Regierung bei Reformen unterstützen.

Eine weitere wichtige Aufgabe ist die Information der ukrainischen Bürger über die Einreisebestimmungen der EU-Länder, vor allem, weil die EU in zwei Jahren ein neues System der Reisegenehmigung (ETIAS) einführen wird, welches die Vorabregistrierung von potenziellen Reisenden verlangt. Der Onlineantrag muss nur alle drei Jahre gestellt werden, wobei 7 Euro Bearbeitungsgebühr pro Antrag anfallen. Das Ziel ist die personenbezogene präventive Risikoanalyse bei Einreisen in die EU bzw. den Schengen-Raum. Diese Regelungen werden die Bürger visumsfreier Länder betreffen, darunter die Ukraine. Zuerst führte diese Maßnahme in der ukrainischen Bevölkerung zu Besorgnis. Jedoch versuchen die zuständigen Behörden durch ihre Aufklärungsarbeit den Bürgern zu vermitteln, wie wichtig es ist, eine Balance zwischen Sicherheit und Bewegungsfreiheit zu erreichen.

Ausblick

Beflügelt durch den Erfolg bei der Visaliberalisierung sieht die Ukraine weiterhin Perspektiven in Bezug auf die Zusammenarbeit mit der EU, insbesondere im Rahmen des bestehenden Assoziierungsabkommens. Über das Abkommen hinaus gibt es weitere europäische Integrationsprojekte, die von der ukrainischen Zivilgesellschaft unterstützt werden und an denen die ukrainische Regierung arbeitet, so zum Beispiel das Abkommen über den gemeinsamen Luftverkehrsraum oder die Zusammenarbeit bei der mobilen Kommunikation und bei Passagierrechten im Reiseverkehr.

Gleichzeitig wird im gesellschaftspolitischen Diskurs ein weiteres Ziel genannt: die Stärkung der Zusammenarbeit mit den Schengen-Mitgliedstaaten mit dem Ziel der Assoziierung mit dem Schengen-Raum. Die Vorteile einer möglichen Assoziierung sind klar: ein höherer Grad an Bewegungsfreiheit im Schengen-Raum und Erhöhung der Sicherheit im Land und an seinen Grenzen.

Durch eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Schengen-Staaten auf Grundlage des elektronischen Sicherheitssystems SIS, welches den Austausch von Informationen über Straftäter und Verdächtige ermöglicht, durch die Zusammenarbeit mit Interpol und durch die vorbeugende Risikoanalyse wurde die Kriminalitätsrate in den Ländern des Schengen-Raums deutlich reduziert und die Mobilität von Menschen, Waren und Kapital erhöht. Die Vorteile der Annäherung der Ukraine an die Schengen-Staaten bestehen für beide Seiten, da auch die EU nach der Erfüllung der Schengen-Kriterien von einer stabileren Ukraine mit sicheren Grenzen und höherer innerer Sicherheit profitieren wird. Derzeit prüft die Ukraine den Plan für die Umsetzung des Schengen-Abkommens. Parallel dazu könnte ein politischer Dialog mit der EU eine langfristige Perspektive für die Schengen-Assoziierung der Ukraine schaffen. Eine Assoziierung erfordert auf jeden Fall die schrittweise Umsetzung aller Komponenten des Schengen-Abkommens und festigt damit die im Prozess der Visaliberalisierung erreichten Fortschritte.

Übersetzung aus dem Ukrainischen:Lina Pleines

Über die Autorin

Iryna  Sushko  ist  geschäftsführende  Direktorin  des  ukrainischen  Zentrums  für  Analysen  »Europa  ohne  Grenzen«  (NGO) (siehe www.europewb.org.ua). Sie studierte Geschichte und Ethnologie und arbeitete in diesem Bereich an der Universität für Wirtschaft und Recht »KROK« in Kiew. Ab 2001 leitete sie ein Projekt im Forschungszentrum für Frieden, Konversion und Außenpolitik, in dessen Rahmen die einzige ukrainische Monitoring-Studie zur Visapolitik der Europäischen Union durchgeführt wurde.

2009 wurde Iryna Sushko zur Mitbegründerin des Zentrums für Analysen »Europa ohne Grenzen«, das sich mit den  Themenkomplexen  Mobilität,  Unterstützung  der  Reformen  im  Bereich  der  öffentlichen  Sicherheit  und  Ordnung sowie Migration und Grenzmanagement beschäftigt. Sie arbeitet im Bereich Advocacy für die Bewegungsfreiheit von Personen.

Iryna Sushko ist Gründungsmitglied der internationalen Koalition »Für ein Europa ohne Visa« und ist seit 2015 deren Leiterin. Sie ist als Expertin in zwei internationalen Projekte dauerhaft tätig: Index der europäischen Integration der Östlichen Partnerschaft und Index der Visaliberalisierung der Östlichen Partnerschaft. 2015 wurde sie zur nationalen Koordinatorin der ukrainischen Plattform des Forums der Zivilgesellschaft der Östlichen Partnerschaft gewählt und ist Mitbegründerin des Koordinationsbüros der ukrainischen Zentren für Analysen (Think-Tanks) in Brüssel.

Weitere Analysen von Iryna Sushko unter: https://dt.ua/author/irina-sushko.


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