Einleitung
Alexander Sachartschenko starb am 31. August, nachdem er beim Betreten des Cafés »Separ« im Zentrum von Donezk von einer Bombe schwer verletzt wurde. Der Separatistenführer starb auf dem Weg ins Krankenhaus; einer seiner Leibwächter, der vor ihm ging, war sofort tot. Außerdem wurden zwölf Personen verletzt, darunter Sachartschenkos einflussreicher Stellvertreter und »Einnahmenminister« Alexander Timofejew.
Ob das Attentat Sachartschenko, Timofejew oder beiden galt, ist unklar. Fest steht aber, dass eine Woche später in Donezk der »Volkssowjet« mit Denis Puschilin einen der größten Konkurrenten Sachartschenkos zum neuen Führer wählte. Noch am selben Tag begann Puschilin damit, Sachartschenkos engste Vertraute aus der Regierung zu entfernen. Timofejew sowie die »Minister« für Justiz, Verkehr, Industrie und Landwirtschaft verloren ihre Jobs.
Timofejew, der wenige Tage zuvor mit verbranntem Gesicht und verbundenen Händen wie versteinert an Sachartschenkos Grab gestanden hatte, hatte sich da bereits mit Getreuen nach Moskau abgesetzt. Es heißt, die Rückkehr nach Donezk werde ihm verwehrt.
Dabei hatte es unmittelbar nach dem Attentat so ausgesehen, als werde alles weitergehen wie bisher in der weitgehend von Russland abhängigen Separatistenrepublik. Nur Stunden nach Sachartschenkos Tod hatte sich Dmitri Trapesnikow, einer von drei Stellvertretern des ermordeten Republikchefs, zum Interimsnachfolger erklärt. Zwei Tage später, am 2. September, waren »Minister«, »Abgeordnete«, Feldkommandeure, der Chef der benachbarten »Volksrepublik Luhansk« (»LNR«) sowie mehr als 100.000 Menschen zur Trauerfeier in Donezk erschienen. In Reden wurde beschworen, dass der Weg und die Politik des Ermordeten – allen voran der pro-russische Kurs – fortgesetzt würden.
Moskau befahl die Kehrtwende
Doch bereits am 5. September drehte sich der Wind. In Moskau erhob Alexej Tschesnakow seine Stimme, ein langjähriger Vertrauter von Wladislaw Surkow, der im Kreml für die Ostukraine zuständig ist. Tschesnakow sagte in einem Interview mit der russischen Nachrichtenagentur TASS, dass Trapesnikow nicht rechtmäßig an der Spitze stehe – weil dies laut »Verfassung« der »Volksrepublik« der erste Stellvertreter sein müsse, den es aber nicht gab (<https://tass.ru/politika/5524930>). Das einzig rechtmäßige Verfassungsorgan sei jetzt der »Volkssowjet«, das »Parlament« der »DNR«, und daher müsse dessen Vorsitzender das Ruder übernehmen – Denis Puschilin.
Am 7. September wählten die Abgeordneten – per Handzeichen und angeblich einstimmig – Puschilin zum neuen Interimschef. Trapesnikow gab sein Einverständnis per Presseerklärung – und wurde seitdem nicht mehr gesehen.
Es folgte eine umfangreiche Säuberungskampagne. Der Donezker Publizist Roman Manekin spricht von einem regelrechten Staatsstreich, der vor allem auf die militärische Eigenständigkeit der »DNR« abzielte.
Schlag gegen militärische Eigenständigkeit
Zunächst wurden alle militärischen Verbände, die Sachartschenko unterstellt waren, unter Kontrolle gebracht. Übereinstimmenden Meldungen zufolge verfügte der Separatistenchef nämlich über eigene Truppen, die nicht dem von russischen Offizieren vor Ort befehligten »Ersten Armeekorps (Donezk)« unterstellt waren.
Die »Republikanische Garde«, das Spezialeinheiten-Regiment »SpezNas«, ein Raketenwerferverband, Sachartschenkos Leibwache sowie bewaffnete Einheiten einzelner Ministerien sollen demnach entweder dem Armeekorps oder dem »Innenministerium« beziehungsweise dem »Staatssicherheitsministerium« der »DNR« unterstellt werden. Die beiden letztgenannten »Ministerien« erklärten noch am 7. September ihre volle Unterstützung für Puschilin.
Als sich ein SpezNas-Bataillon weigerte, wurden kurzerhand der Kommandeur und sein Stabschef »zum Verhör« abgeführt.
Das »Verteidigungsministerium« wird Berichten zufolge momentan aufgelöst, es soll sowieso keine besondere Kommandogewalt besessen haben. Die Truppen der »Volksrepublik« Donezk heißen demnach künftig nur noch »Volksmiliz« und werden von dem oben genannten Armeekorps geführt.
Damit wäre die »DNR« militärisch ähnlich aufgestellt wie die benachbarte »LNR«, wo es nie ein Verteidigungsministerium gab, sondern eine »Volksmiliz«, die von einem »Zweiten Armeekorps (Luhansk)« – ebenfalls mit russischen Offizieren – befehligt wird. Der »LNR«-Volksmiliz wurden zudem immer wieder ehemals eigenständige Verbände unterstellt, deren Kommandeure bei mysteriösen Attentaten ums Leben gekommen waren (s. Dokumentation S. 16). Neben Politik und Militär werden aber auch deutliche Veränderungen in der Wirtschaft erwartet. Denn unter Timofejew galt hier das Gesetz des Stärkeren. Seine Truppen waren berüchtigt dafür, die angeblich für die Regierung bestimmten Einnahmen mit Waffengewalt bei den Betrieben einzutreiben.
Sachartschenkos Tod bedeutet weitgehende Übernahme der »DNR« durch Russland
Russischen Medienberichten zufolge wurde Timofejew für ausufernden Schmuggel und Korruption verantwortlich gemacht. So hätten überhöhte Transportkosten seitens der »Volksrepublik« die Gewinne von »Wneschtorgserwis« heftig geschmälert, berichtete das Onlinemagazin »Russkij Reporter«. »Wneschtorgserwis« ist die geheimnisumwitterte Holdinggesellschaft, welche die im vorigen Jahr unter Kontrolle der »Volksrepubliken« gestellten Betriebe verwalten sollte. In Donezk gingen aber lediglich neun von dreiundvierzig betroffenen Betrieben an »Wneschtorgserwis«, alle anderen werden bislang von verschiedenen »DNR«-Ministerien verwaltet.
Einem am 16. September veröffentlichten Bericht von Radio Swoboda zufolge sollen nun auch die restlichen vierunddreißig Firmen an die Holding gehen, deren Firmensitz in Südossetien vermutet wird und deren Chef ein ehemaliger stellvertretender Gouverneur der sibirischen Region Irkutsk ist (<https://www.svoboda.org/a/29492550.html>). »Wneschtorgserwis« ist immer wieder mit dem aus Donezk stammenden ehemaligen Oligarchen Serhij Kurtschenko in Verbindung gebracht worden.
Wenn diese Berichte zutreffen, dann bedeutet der Tod Sachartschenkos und die Absetzung seines mächtigen Stellvertreters Timofejew nichts weniger als die totale Übernahme der »Volksrepublik« – politisch, militärisch und wirtschaftlich – durch Russland.
Und je mehr Kontrolle Moskau über die Separatistengebiete hat, desto stärker kann es bei den internationalen Verhandlungen auftreten – sei es in Minsk, im Normandie-Format oder bei den Treffen Surkows mit US-Unterhändler Kurt Volker (die aber seit dem letzten Treffen im Januar in Dubai nicht mehr stattgefunden haben).
Kann Puschilin sich an der Macht behaupten?
Puschilin, der mittlerweile den Parlamentsvorsitz sowie sein Abgeordnetenmandat niedergelegt hat, erklärte am 20. September in Donezk, dass er bei der für den 11. November angesetzten Wahl zum Republikchef kandidieren werde. Für ein von Moskau kontrolliertes Puschilin-Regime sind aber noch Hürden zu überwinden.
Zum einen gibt es Zweifel an Puschilins Eignung als Separatistenchef. Der stets mit Anzug und Krawatte auftretende siebenunddreißigjährige verkörpert zwar einen für Donezk neuen zivilen Politikstil – ganz im Gegensatz zum stets säbelrasselnden und oft uniformierten Sachartschenko. Aber Puschilins Vergangenheit als Anwerber des berüchtigten Finanzpyramidensystems »MMM«, das im Russland der 1990er Jahre Millionen Menschen um ihre Ersparnisse brachte, prädestiniert ihn nicht eben zum Volkshelden. Hinzu kommt, dass Puschilin durch seine langjährige Rolle als Chefunterhändler ganz überwiegend mit den auch in Donezk wenig beliebten Minsker Verhandlungen in Verbindung gebracht wird [am 12. August ernannte Puschilin Natalja Nikonorowa zur Chefunterhändlerin, Anm. d. Red.]
Auf der anderen Seite ist es unter den in den »Volksrepubliken« herrschenden totalitären politischen Bedingungen kaum vorstellbar, dass Puschilin die Wahl verliert – ganz gleich, wie beliebt er tatsächlich ist oder wer gegen ihn kandidiert. Bei vergangenen Abstimmungen in Donezk und Luhansk, zuletzt für die »Primaries« genannten Vorwahlen im Oktober 2016, haben die von den offiziellen Medien und den als Regierungsparteien fungierenden Bewegungen »Donezkaja Respublika« und »Mir Luganschtschine« unterstützten Kandidaten stets mit großer Mehrheit gewonnen.
Bedeutender ist ohnehin die Frage, ob Puschilin die nötige Unterstützung aus Moskau hat. Denn zuletzt hat es Zweifel an der Machtfülle seines bedeutendsten »Kuratoren« gegeben. Wladislaw Surkow, der 2013 von Putin zu dessen persönlichem Berater für die Ostukraine ernannt wurde und seither die Geschicke in den »Volksrepubliken« maßgeblich mitbestimmte, wurde erst am 13. Juni, fast drei Monate nach der Wiederwahl Wladimir Putins ins Präsidentenamt, als Kreml-Beauftragter für die Ostukraine wiederbestätigt.
Krieg der Kuratoren?
Zwischenzeitlich war in Moskau spekuliert worden, dass Putin Surkow fallen lässt, weil er unzufrieden mit dem Stillstand bei den Minsker Verhandlungen ist. Zudem gab es seit einiger Zeit Berichte, dass der mächtige russische Inlandsgeheimdienst FSB in Donezk und Luhansk seine eigenen Leute unterstützt. Ukrainische Beobachter sprechen von einem »Krieg der Kuratoren«, vor allem seit dem Putsch in Luhansk im November 2017, bei dem der bis dahin relativ unbekannte Geheimdienstler Leonid Passetschnik den langjährigen Separatistenchef Igor Plotnizkij aus dem Amt jagte.
Plotnizkij galt als Surkows Mann in Luhansk, während Passetschnik aus naheliegenden Gründen als FSB-Gestalt wahrgenommen wurde. Der unblutige Staatsstreich wurde daher oft als eine persönliche Niederlage Surkows in einem Moskauer Machtkampf mit dem FSB interpretiert.
Dazu passt auch die jüngste Aussage des russischen Journalisten Pawel Kanygin, dass die entscheidende militärische Unterstützung für den Passetschnik-Putsch aus Donezk gegen den Willen des Kremls erfolgte. Medienberichten zufolge hatte damals Sachartschenko seine »Republikanische Garde« nach Luhansk beordert.
Zuletzt wurde auch in russischen Medien über eine FSB-Beteiligung an einer Nachfolgeregelung für Donezk spekuliert. Die investigative Website »The Insider« berichtete am 18. September, dass sich Vertreter der russischen Sicherheitsdienste (»Silowiki«) bei einem geheimen Treffen mit Surkow und Separatistenführern in Rostow-am-Don gegen Puschilin und für den ehemaligen ukrainischen Innenminister Witalij Sachartschenko ausgesprochen haben. Sachartschenko, der nicht mit dem getöteten »DNR«-Chef verwandt ist, stammt auch aus Donezk und floh nach der Maidan-Revolution nach Russland (<https://theins.ru/politika/117762>).
Dennoch erscheint eine weitere Niederlage Surkows unrealistisch. Wahrscheinlicher ist, dass der Kreml mittels Puschilin in Donezk spätestens nach der Wahl im November deutlich mehr zu sagen hat als bisher.
Wie genau Moskaus Kontrolle in Luhansk aussieht, und ob sich der Kreml mit Passetschnik arrangiert hat, ist unklar. Immerhin hat der noch nie gewählte Separatisten-Putschist am 17. September erklärt, dass er zur Wahl am 11. November antritt. Aber die kleinere und wirtschaftlich unbedeutendere »Volksrepublik Luhansk« hat im Machtpoker um die Ostukraine in der Vergangenheit eher eine Randstellung innegehabt.
Fazit
Eine schnelle Lösung des Donbass-Konflikts ist auch nach Sachartschenkos Ermordung nicht absehbar. Allgemein wird erwartet, dass die internationalen Verhandlungen mindestens bis zu den ukrainischen Präsidentschaftswahlen im März 2019 auf der Stelle treten werden.
Der Fall Sachartschenko zeigt aber, dass die Separatisten keinesfalls, wie gern in der Ukraine behauptet wird, hundertprozentige Marionetten des Kremls sind. Sie haben eigene Interessen und spielen diese nötigenfalls aus. Das funktioniert vor allem dann, wenn in Moskau unklare oder komplizierte Machtverhältnisse herrschen. Wenn die »Machtvertikale« stark und effizient ist, werden die Spielräume kleiner. Mit der konsequenten Installation Puschilins als loyalen und kompromissbereiten Separatistenführer hat der Kreml Stärke bewiesen. Abzuwarten ist, ob das so bleibt.