Nach den letzten Präsidentschaftswahlen im April 2019 und dem frappierenden Wahlsieg von Wolodymyr Selenskyj ist dessen Amtsvorgänger Petro Poroschenko, der jetzt die Fraktion der Partei Europäische Solidarität – die drittstärkste in der Werchowna Rada – anführt, wegen mehrerer möglicher Strafverfahren ins Rampenlicht geraten. Während seines Wahlkampfes hatte Selenskyj versprochen, im Falle seines Sieges für Gerechtigkeit zu sorgen. Einer seiner Slogans lautete seinerzeit: »Wenn der Frühling kommt, werden wir [Schösslinge] setzen«. Das ukrainische Wort für »[Schösslinge] setzen« (ukr. саджати – sadschati, Anm. d. Redaktion) ist allerdings zweideutig und kann auch »ins Gefängnis stecken« bedeuten. Die Forderung, mit der Korruption auf den höchsten Ebenen aufzuräumen, war eines der zentralen Wahlversprechen, die Selenskyj an die Macht brachten. Poroschenko wurde damit für seine Tatenlosigkeit der vergangenen fünf Jahre abgestraft, in denen es in den oberen Etagen zu keiner Verurteilung wegen Korruption gekommen war, und für seine Unfähigkeit, sein eigenes Team von Figuren zu befreien, die in aufsehenerregende Korruptionsskandale verwickelt sind. Selenskyj ist nach einem Jahr Amtszeit nun unter großem innenpolitischem Druck, hier Ergebnisse zu liefern. Hintergrund sind ein anscheinend erneut gescheiterter Versuch einer Justizreform und sinkende Umfragewerte. Seit Selenskyjs Amtsantritt sind keine hochrangigen Offiziellen verurteilt worden; jetzt richtet sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Anschuldigungen gegen Petro Poroschenko.
Politisch motivierte Gerichtsverfahren gegen politische Opponenten in der Ukraine sind nichts Neues. Ab Mai 2010, also wenige Monate nach dem Wiktor Janukowytsch der vierte Präsident der Ukraine geworden war, wurden eine Reihe Strafverfahren gegen das Team von Julija Tymoschenko (Janukowytschs Opponentin bei den Präsidentschaftswahlen) eingeleitet. Bis zur Mitte der Präsidentschaft Janukowytschs wurden rund zwei Dutzend Mitglieder des Apparats des zweiten Kabinetts Tymoschenko (2007–2010) verhaftet, verhört, ins Gefängnis geworfen oder in die Emigration genötigt. Im August 2011 wanderte auch Tymoschenko selbst ins Gefängnis, nachdem sie wegen Amtsmissbrauchs bei der Vermittlung eines Gasabkommens mit Russland 2009 verurteilt worden war. Auch unter Präsident Leonid Kutschma (1994–2004) hatte es politisch motivierte Strafverfahren gegeben.
Da die ukrainische Justiz für Korruption und politische Abhängigkeit bekannt ist und die rechtsstaatlichen Institutionen chronisch schwach sind, wurden Verfahren gegen hochrangige politische Widersacher bislang nicht als Ausdruck einer unvoreingenommen agierenden Justiz wahrgenommen – weder in der Ukraine noch im Ausland.
Die Verfahren gegen Petro Poroschenko
Seit Präsident Selenskyj und seine Partei Diener des Volkes an die Macht kamen, ist die Tätigkeit Petro Poroschenkos während seiner Präsidentschaft von 2014 bis 2019 intensiv untersucht worden. Die ukrainischen Behörden haben ganze 27 Ermittlungsverfahren gegen Poroschenko eröffnet (die Angaben variieren je nach Quelle). Poroschenko wurde im vergangenen Jahr etliche Male in das Staatliche Ermittlungsbüro (ukr.: DBR) vorgeladen. Im Juni 2020 wurde er in einem der Verfahren offiziell beschuldigt, was zur ersten Anklage gegen ihn führte.
Die Anschuldigungen gegen Poroschenko decken eine große Bandbreite ab. Es gibt allerdings keine offen zugängliche staatliche Quelle, die Details zu allen Verfahren enthält. Auch die genaue Anzahl der Verfahren, die eingeleitet wurden, ist nicht bekannt. Der Zugang zum Gesamtregister vorgerichtlicher Ermittlungsverfahren ist eingeschränkt. Folgt man den offen zugänglichen Quellen, wurde eine Vielzahl von Anschuldigungen erhoben, die in drei Kategorien unterteilt werden können (Tabelle 1 auf Seite 9–13 bietet einen genaueren Überblick über alle Verfahren, die identifiziert werden konnten):
A. Hochverrat
In einer Reihe von Verfahren wird gegen Poroschenko wegen seiner Entscheidungen hinsichtlich der militärischen Aggression Russlands ermittelt. Hier geht es beispielsweise um Poroschenkos Entscheidung, das zweite Minsker Abkommen zu unterzeichnen und um den Beginn der militärischen Offensive im Donbas im Sommer 2014 als Reaktion auf die russische Invasion. Zudem gab er im November 2018 den Befehl, dass Schiffe der ukrainischen Marine die Straße von Kertsch passieren sollen, was wiederum zu Russlands Angriff auf die Schiffe führte.
B. Amtsmissbrauch
Gegen Poroschenko wird darüber hinaus wegen verschiedener Personalentscheidungen als Präsident ermittelt. Das betrifft unter anderem die angeblich rechtswidrige Ernennung von Serhij Semotschko zum Ersten Stellvertretenden Vorsitzenden des Auslandsgeheimdienstes der Ukraine im Juli 2018, die Ernennung von zwei Mitgliedern des Hohen Rates der Justiz (ukr.: WRP) im Mai 2019 (also kurz vor Ende von Poroschenkos Amtszeit) und seine Weigerung Ende 2018, Richter, die ihre fünfjährige Probezeit absolviert hatten, auf Lebenszeit zu ernennen.
C. Korruption, Unterschlagung und Geldwäsche
Hier geht es unter anderem um den Kauf der Werft Kusnja na Rybalskomu für 300 Millionen US-Dollar durch Serhij Tyhipko (Poroschenko war der Hauptanteilseigner des Unternehmens). Gegenstand der Ermittlungen ist auch der Kauf des Fernsehsenders Prjamyj durch eine angeblich Poroschenko nahestehende Person; das habe der Unterstützung von Poroschenkos Wahlkampf dienen sollen.
Mit Stand vom 15. August 2020 sind fünf Verfahren eingestellt worden, weil kein Straftatbestand vorgelegen habe. Hier ging es um Einmischung in die Arbeit des Kyjiwer Bezirksverwaltungsgerichts und um religiöse Volksverhetzung im Zusammenhang mit der kanonischen Anerkennung der Ukrainischen Orthodoxen Kirche 2018/19.
Die meisten Verfahren sind von Andrij Portnow angestrengt worden, der unter Janukowytsch stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung war. Portnow war in den letzten Tagen der Revolution der Würde, als Dutzende Protestierende ums Leben kamen, ins Ausland geflohen (zunächst nach Moskau, dann nach Wien). Bei seiner Rückkehr in die Ukraine am Vorabend der Amtseinführung Selenskyjs im Mai 2019 stellte er umgehend die erste einer Vielzahl von Strafanzeigen. Zudem berichtet er in den Medien und in seinem Telegram-Kanal eingehend über die Fälle. Darüber hinaus hat er offen erklärt, es sei sein Ziel, Poroschenko hinter Gittern zu bringen. Seit November 2019 zirkulieren in den ukrainischen Medien vermehrt Desinformation und falsche Informationen über die Revolution der Würde. Einige Analysen (http://khpg.org/en/index.php?id=1582495802) legen dar, dass Portnow einer der wichtigsten Triebkräfte der Kampagne ist, die die Revolution diskreditieren soll. Insbesondere die Webseite Strana.ua und die Fernsehkanäle ZIK, 112.ua und NewsOne, die vom Oligarchen Wiktor Medwedtschuk kontrolliert werden, boten Portnows Kampagne die nötige öffentliche Plattform.
Die ukrainischen Gesetze bieten zahlreiche Möglichkeiten, Strafverfahren aufgrund von individuellen Anzeigen einzuleiten. Gemäß Paragraph 214 des ukrainischen Strafgesetzbuches muss ein Ermittler oder ein Staatsanwalt die entsprechenden Angaben in das Gesamtregister vorgerichtlicher Ermittlungsverfahren eintragen. Die Ermittlungen sind dann »unverzüglich« aufzunehmen, »jedoch nicht später als 24 Stunden nach Eingang der Anzeige oder von Informationen über die Straftat, oder nachdem aus anderen Quellen Erkenntnisse über eine begangene Straftat erlangt wurden«. Allerdings ist vom Gesetz nicht vorgesehen, dass eine Anzeige vor der Eintragung ins Register einer vorläufigen Prüfung unterzogen wird. Falls der Beamte nichts unternimmt, kann der Anzeigensteller vor Gericht gehen, um die Eintragung in das Register zu erzwingen.
Die registrierten Anzeigen hatten zur Folge, dass der ehemalige Generalstaatsanwalt Ruslan Rjaboschapka, der von Anfang an Selenskyjs Team angehörte und am 17. März 2020 von Iryna Wenediktowa abgelöst wurde, 17 Verfahren einleitete, in die Poroschenko verwickelt sein soll. Er weigerte sich aber Anklage zu erheben, wobei er erklärte, dass die Fälle »einer Kritik nicht Stand halten« würden. Wenediktowa leitete vier weitere Strafverfahren ein. Einige Stimmen, darunter auch Rjaboschapka selbst, behaupten, dass Selenskyj ihn entlassen habe, weil er sich weigerte, Anklagen gegen Poroschenko zu erheben; Rjaboschapka hat die Anschuldigungen als »juristischen Schrott« bezeichnet.
Das Aufsehen durch die Verfahren gegen Poroschenko wurde weiter angefacht, als sich Wenediktowa am 9. Juni bereiterklärte, Anklage gegen Petro Poroschenko zu erheben, »falls es hinreichend Beweise und Begründungen hierfür gibt«. Bei dieser Gelegenheit nannte sie die 21 Verfahren, die von Rjaboschapka und ihr eingeleitet worden waren, und die Presse begann daraufhin intensiv zu berichten. Das geschah kurz nach Selenskyjs Pressekonferenz zum ersten Jahrestag seines Amtsantritts. Der Präsident hatte da seine Gewissheit geäußert, dass eine Verurteilung Poroschenkos »nur eine Frage der Zeit« sei. Darüber hinaus forderte die Generalstaatsanwaltschaft im Fall Serhij Semotschko, dass Poroschenko in präventive Sicherungshaft zu nehmen sei. Das sorgte für große Demonstrationen von Poroschenkos Anhängern, aber auch von Angehörigen anderer Bevölkerungsschichten, die die Verfahren als politisch motiviert wahrnahmen. Am 8. Juli weigerte sich das Gericht schließlich, die geforderte Maßnahme anzuordnen.
Die fehlende Transparenz bei den Ermittlungen und den anschließenden juristischen Schritten scheint ein eigenes Problem zu sein. Mitte Juni sagte Poroschenkos Anwalt Ilja Nowikow gegenüber BBCNews Ukraine, dass bei allen Verfahren weder er noch sein Mandant über genügend Informationen verfügten und von mindestens vier Verfahren nur aus inoffiziellen Quellen erfahren hätten. Oleksandr Lemenow von der ukrainischen NGO StateWatch meint, das Staatliche Ermittlungsbüro (DBR) arbeite nicht als unabhängige Behörde, sondern setze den politischen Willen des Präsidialamtes und »Instruktionen« der Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa um. Lemenow betont, dass Wenediktowa unter der Patronage von Andrij Jermak, dem Leiter des Präsidialamtes zur Generalstaatsanwältin ernannt und die derzeitige Leitung des DBR im Januar 2020 in einer intransparenten Ausschreibung ausgewählt wurde, als Wenediktowa den Posten der DBR-Direktorin innehatte. Das deutet darauf hin, dass das Präsidialamt, die Generalstaatsanwaltschaft und das DBR koordiniert vorgehen, um Poroschenko zur Verantwortung zu ziehen.
Die Untiefen der Verfahren gegen Poroschenko
Verbindung zu Selenskyjs Wahlkampf und die Forderungen nach Gerechtigkeit
Während Poroschenkos Präsidentschaft sind zwar viele Institutionen zur Korruptionsbekämpfung geschaffen worden, doch ist kein einziger Korruptionsfall auf hoher Ebene bis zu einer Verurteilung gelangt. In seinem Wahlkampf hatte Selenskyj versprochen, hochrangige Korruptionäre zur Verantwortung zu ziehen. Die Erwartungen sind immer noch groß, dass ein gewählter Präsident, der nicht zum traditionellen politischen Establishment gehört, für Gerechtigkeit sorgt, und Wolodymyr Selenskyj versucht diese Erwartungen zu bedienen. Nach einem Jahr im Amt scheint er allerdings nicht sehr weit damit gekommen zu sein (siehe Grafik 1 auf Seite 7).
Selenskyj hat aus seiner Abneigung gegen seinen Vorgänger nie einen Hehl gemacht. Poroschenko bleibt Selenskyjs schärfster politischer Rivale. In Umfragen liegt Poroschenko bei der Beliebtheit an zweiter Stelle hinter Selenskyj, dessen Werte seit dem Frühjahr zurückgehen (siehe Tabelle 2 auf S. 7 und Grafik 2 auf S. 8). Auch scheint die öffentliche Meinung Ermittlungen hinsichtlich Poroschenkos Aktivitäten als Präsident zu unterstützen. In einer vor kurzem durchgeführten Umfrage des Kyjiwer Internationalen Instituts für Soziologie glaubten 51 Prozent der Befragten, dass die Strafermittlungen gegen Poroschenko dem Kampf für mehr Gerechtigkeit dienten, während 30 Prozent meinten, dass sie politisch motiviert seien. Darüber hinaus sollen Umfragen, die angeblich vom Team des Präsidenten vorgenommen wurden, belegen, dass ein großer Teil seiner Wähler Poroschenko hinter Gittern sehen will. Zudem hat Selenskyj eine Schwäche für hohe Zustimmungswerte. All dies könnte ihm mehr Selbstvertrauen gegeben haben, Poroschenko strafrechtlich zu verfolgen.
Anzeichen für selektive Justiz?
Im Laufe des vergangenen Jahrzehnts ist politische Korruption in der Ukraine immer raffinierter geworden. Die Aufdeckung und Verfolgung dieser Korruption erfordert moderne Instrumente, Wissen, Expertise und Koordination auf Seiten staatlicher Institutionen, um diese in die Lage zu versetzen, komplexe Fälle gerichtsfest aufzuarbeiten, sodass die Richter unvoreingenommen entscheiden können, ob es hinreichend rechtskräftige Beweise für eine Verurteilung gibt. Poroschenko wird zwar schwerer Straftaten verdächtigt und mancher ist fest davon überzeugt, dass Poroschenkos Hände alles andere als sauber sind, doch müssen diese Vorwürfe erst vor Gericht bewiesen werden. Das erfordert starke institutionelle Kapazitäten, die derzeit zu fehlen scheinen.
Oleh Korezkyj, Ermittler im DBR, erklärte am 8. Juli, dass er und sein Ermittlerteam, das für einige der Verfahren gegen Poroschenko zuständig ist, von Oleksandr Babikow, dem Ersten Stellvertretenden Direktor des DBR, unter Druck gesetzt worden seien. Wie es der Zufall will, war Babikow früher Janukowytschs Anwalt. Darüber hinaus meinte Korezkyj, dass, nach seinen Arbeitsergebnissen zu schließen, klar sei, dass fast 80 Prozent der Verfahren gegen Poroschenko, für die er zuständig ist, juristisch die Grundlage fehle. Darüber hinaus würden bei vielen Verfahren gegen Poroschenko keine Elemente einer Straftat vorliegen: »Einigen der aktuellen Strafverfahren [gegen Poroschenko] liegen zweifellos keine Straftatbestände zugrunde. Bei einigen ist es so, dass es überhaupt keine Straftat gegeben hat«, meinte Korezkyj. Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa hingegen – die Babikow zu ihrem ersten Stellvertreter ernannt hatte, als sie noch an der Spitze des DBR stand – erklärte wiederum, sie sei mit sämtlichen Details aller Verfahren gegen Poroschenko vertraut und halte sie für wohlbegründet.
Iryna Wenediktowa hat harsche Kritik von Antikorruptions-Aktivisten auf sich gezogen, weil sie weder die fachliche Qualifizierung für diese wichtige Rolle mitbringe, noch ein unabhängiger politischer Akteur sei. Aus technischer Sicht erfüllt sie die Voraussetzungen für ihr Amt (einen Abschluss in Jura und mindestens fünf Jahre Berufserfahrung im juristischen Bereich). Allerdings ist sie nie Staatsanwältin gewesen, was als Nachteil gesehen wird. Außerdem hatte sie ein Auswahlverfahren für einen Sitz am Obersten Gerichtshof nicht bestanden.
In den drei Jahrzehnten ukrainischer Unabhängigkeit ist es fast nie der Fall gewesen, dass der Generalstaatsanwalt Unabhängigkeit von der Präsidialverwaltung (zwischen 2005 und 2010 Sekretariat des Präsidenten, seit 2019 Präsidialamt, Anm. d. Redaktion) demonstriert hätte. Wenediktowa war 2019 eine wichtige Figur in der Regierungspartei Diener des Volkes. Zudem hat Wenediktowas Familie angeblich gute politische Verbindungen und gehört zum inneren Kreis der ukrainischen Eliten. Unabhängige Recherchen haben ergeben, dass Wendiktowas Bruder Serhij Wenediktow lange für Firmen gearbeitet hat, die der Familie von Innenminister Arsen Awakow gehören. Zudem wurde Wenediktowas Ehemann Denis Kolesnik, der bei der Nationalen Polizei der Ukraine arbeitete, von Charkiw auf eine Führungsposition in Kyjiw befördert, kurz nachdem Wenediktowa Abgeordnete der Werchowna Rade wurde.
Darüber hinaus sind während ihrer Amtszeiten beim DBR und als Generalstaatsanwältin Bürokraten mit zweifelhafter Vergangenheit, die oft mit der Ära Janukowytsch assoziiert werden, wieder in Schlüsselpositionen zurückgekehrt: Wenediktowa ernannte Andrij Ljubowytsch, Ihor Musteza und Oleksij Symonenko zu ihren Stellvertretern als Generalstaatsanwältin; Erster Stellvertretender Generalstaatsanwalt wurde Roman Howda. Laut Recherchen von Bihus.info und StateWatch waren sie alle eng mit dem Regime Janukowytsch verbunden und/oder in die Verfolgung von Protestierenden während der Revolution der Würde verwickelt. Angeblich steht Andrij Jermak hinter diesen Ernennungen. Die Gerichtsverhandlung am 18. Juni, bei der über die präventive Sicherungshaft gegen Poroschenko im Fall Serhij Semotschko entschieden werden sollte, ließ noch größere Besorgnis entstehen, dass es sich um selektive Justiz und politische Strafverfolgung handeln könnte. Anlass hierfür war auch der Umstand, dass der Richter, der die Verhandlung leitete, niemand anderes als Serhij Wowk war, der in der Ära Janukowytsch für seine Rolle bei der Verfolgung von Mitgliedern der Regierung Tymoschenko notorische Berühmtheit erlangt hatte. Besonders unter Präsident Janukowytsch hatte das Strafverfolgungssystem das Ansehen der Ukraine stark beeinträchtigt. Das Land wurde international heftig wegen selektiver Justiz kritisiert.
Internationale Reaktionen
Zahlreiche internationale Institutionen haben ihre Besorgnis über eine möglicherweise politische Strafverfolgung von Petro Poroschenko geäußert. In der Stellungnahme des Europäischen Parlaments vom 12. Juni wird gefordert, dass »Gerichtsverfahren allein auf Fakten basieren sollten und nicht als Mittel zur politischen Auseinandersetzung eingesetzt werden dürfen« (https://www.europarl.europa.eu/cmsdata/208907/20200612_Joint_statement_on_the_Poroshenko_case_Final.pdf). Donald Tusk, derzeit Vorsitzender der Europäischen Volkspartei (EVP), erklärte am 17. Juni, dass »Anschuldigungen weder an eine politisch motivierte Verfolgung erinnern noch politisch motiviert gegen ausgewählte politische Opponenten gerichtet sein sollten.«
Im Vorfeld der Gerichtsverhandlung vom 18. Juni über die erstmals geforderte Inhaftierung Poroschenkos hatte eine Reihe westlicher Botschaften öffentliche Erklärungen abgegeben, in denen vor möglicher politisch motivierter Strafverfolgung gewarnt wurde. Die Botschaft der USA warnte, dass »das Justizsystem nicht zu dem Zweck genutzt werden sollte, politische Rechnungen zu begleichen«. Die kanadische Botschaft mahnte »eine Justiz frei von politischer Einmischung« an.
Schlussfolgerungen
Dem Rechtsstaatlichkeitsindex des World Justice Projects zufolge hat sich die Strafjustiz in der Ukraine seit 2016 verschlechtert (siehe Grafik 3 auf Seite 8). Ein weiterer Einsatz selektiver Justiz könnte für das Vertrauen der Ukrainer in ihre rechtsstaatlichen Institutionen und für das Justizsystem pures Gift sein, nämlich vor dem Hintergrund, dass im globalen Vergleich das Vertrauen in den Staat in der Ukraine jetzt schon mit am niedrigsten ist, folgt man einer Gallup-Umfrage von 2019. Beim gesellschaftlichen Vertrauen in die Institutionen liegt die Justiz an letzter Stelle (siehe Grafik 1 auf Seite 9). In den letzten Monaten der Präsidentschaft Poroschenko glaubten 91 Prozent der Ukrainer, dass Staat und Regierung von Korruption durchsetzt seien. Es besteht also ein starker gesellschaftlicher Wunsch nach einer Verurteilung von hochrangigen Korruptionären.
Dieses nationale Bedürfnis nach Gerechtigkeit wird auch von einer starken internationalen Unterstützung für rechtmäßige Ermittlungen zu politischer Korruption flankiert. Allerdings lässt der Verlauf der bislang eröffneten Verfahren den Schluss zu, dass die gegenwärtigen Anschuldigungen gegen Poroschenko schlecht begründet sind. Seit die internationale Gemeinschaft der Ukraine mehr Aufmerksamkeit widmet, sind die Korruptionsmethoden komplexer geworden. Meist fehlen explizite und direkte Beweise, folglich ist Korruption deutlich schwieriger zu ermitteln. Die Institutionen zur Korruptionsbekämpfung sind entweder schwach oder werden in der Ausübung ihrer Tätigkeit behindert. Dadurch geraten jetzt zunehmend Verfahren wie der Fall Semotschko, die aus juristischer Sicht leichte Beute sind, ins Rampenlicht.
Die Wahrscheinlichkeit, dass bei Verfahren wie denen gegen Poroschenko Verurteilungen eine langfristig positive Wirkung auf Präsident Selenskyjs Zustimmungswerte haben werden und den gesellschaftlichen Druck mindern, ist gering. Der Fall Tymoschenko, ein Meilenstein der gescheiterten Präsidentschaft Janukowytsch, hat gezeigt, dass kurzfristigen Zielen nachzujagen kein nachhaltiges Mittel ist, die Legitimität eines Präsidenten bei dessen Kampf gegen die Korruption zu erhöhen. Kommt es unter Selenskyj zu einem ähnlichen Szenario, könnte dies langfristig sowohl national wie auch international negative Auswirkungen mit sich bringen. Innerhalb des Landes könnte es die Gesellschaft noch weiter polarisieren und bestehende Spaltungen verfestigen. Ein solches Szenario kann sich die Ukraine nicht leisten – angesichts des Krieges mit seinem Nachbarland Russland, das die Spaltungen und inneren Teilungen der Ukraine auszunutzen sucht. International könnte es die Beziehungen der Ukraine zu ihren westlichen Partnern, die bereits Ermüdungserscheinungen aufweisen, weiter gefährden.
Wenn die internationalen Entwicklungspartner der Ukraine dabei helfen wollen, nachhaltige Reformen für mehr Rechtsstaatlichkeit und rechtmäßige Ermittlungen zu politischer Korruption zu gewährleisten, sollten sie weiter darauf drängen, dass die Räume und Möglichkeiten für Korruption verringert werden, wie sie es bisher mit ihrer Politik der Konditionalität getan haben. In diesem Zusammenhang ist es für die EU von größter Bedeutung, weiterhin ihre Instrumente nach dem Motto »Zuckerbrot und Peitsche« zu verknüpfen (Auszahlung von Fördergeldern, Zugang zum Europäischen Binnenmarkt als Belohnung für die Reform der Justiz und Sicherheitsbehörden sowie die Bekämpfung der Korruption). Ein Musterbeispiel hierfür ist die Kreditvereinbarung über 1,2 Milliarden Euro und das Memorandum zwischen der Ukraine und der EU, das vor kurzem von der Werchowna Rada ratifiziert wurde. Die internationale Gemeinschaft sollte weiterhin starke und klare Signale senden, dass politisch motivierte Strafverfolgung nicht der richtige Weg ist, um die Entwicklung hin zu einem nachhaltigen und gut funktionierenden Rechtsstaat zu gewährleisten. Politischer und diplomatischer Druck durch öffentliche Stellungnahmen, rechtzeitige und koordinierte Warnungen sowie Ratschläge sollten diesen Prozess in jeder Phase begleiten.
Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder