Quartalsbericht zur Ukraine: Oktober bis Dezember 2020

Von Andrian Prokip (Kennan Institute, Wilson Center, Washington, D.C./Ukrainian Institute for the Future, Kyjiw)

Zusammenfassung
Die letzten drei Monate des Jahres 2020 waren in der Ukraine gekennzeichnet von einer Verfassungskrise (ausgelöst durch Auseinandersetzungen um die Rolle der Antikorruptionsbehörden im politischen System der Ukraine), Lokalwahlen (die bis auf wenige Ausnahmen transparent und repräsentativ verliefen) und einem Höhepunkt der Covid-19-Pandemie. Die Wirtschaft war weiterhin in einer schwierigen Lage und weit von Erholung entfernt, was auch die öffentliche Stimmung negativ beeinflusste. Außenpolitisch wurden zu einigen Nachbarstaaten bessere Beziehungen erreicht, zu anderen verschlechterten sich die Beziehungen jedoch.

1. Internationale Beziehungen

Großbritannien

Während seiner London-Reise Anfang Oktober unterschrieb Präsident Volodymyr Zelensky ein Abkommen über politische Zusammenarbeit, Freihandel und strategische Partnerschaft zwischen der Ukraine und Großbritannien. Weil das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine die Beziehungen zum Post-Brexit-Großbritannien nicht regelt, mussten die beiden Länder ihre Beziehungen neu formalisieren. Das neue Abkommen regelt nun eine strategische Partnerschaft mit einer engeren Zusammenarbeit in den Bereichen Handelsliberalisierung und Sicherheit zwischen der Ukraine und Großbritannien.

Im Wesentlichen ist das neue Abkommen ein Fortführungsabkommen, das mit Ausnahme der Regelungen, die sich speziell und ausschließlich auf die Beziehungen zwischen Großbritannien und der Ukraine beziehen, sämtliche Bestimmungen des EU-Ukraine-Abkommens fortschreibt.

Außerdem unterzeichneten die Parteien ein Memorandum über den gemeinsamen Bau von Militärschiffen für den ukrainischen Verteidigungssektor in britischen Werken und Großbritannien sicherte einen Kredit zur Finanzierung des Baus zu.

Europäische Union

Am 06. Oktober 2020 fand in Brüssel der 22. EU-Ukraine-Gipfel statt. In einer nach dem Gipfel von den teilnehmenden Parteien veröffentlichten gemeinsamen Erklärung wurde betont, dass die Ukraine weiter an einer Justizreform, der Bekämpfung der Korruption und einem Ende des oligarchischen Einflusses arbeiten müsse. Zudem wurde die erfolgreiche Umsetzung der Anforderungen gewürdigt, die die EU als Bedingung für den Zugang der Ukraine zum visafreien EU-Grenzverkehr formuliert hatte. Die EU ließ Perspektiven für eine tiefere wirtschaftliche Integration mit der Ukraine erkennen und die Parteien kamen überein, das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine zu überprüfen und zu aktualisieren.

Am 11. Dezember verkündete ein internationales Streitbeilegungsgremium der EU seine Entscheidung über das 2015 von der Ukraine verhängte Exportverbot für sämtliches unverarbeitetes Holz und befand es darin insgesamt für unrechtmäßig; in einigen Fällen könne ein teilweises Verbot zulässig sein, etwa aus Umweltschutzgründen, heißt es in dem Urteil außerdem. Dabei bezog sich das Schiedsgericht indirekt auf ein 2005 von der Ukraine erlassenes Exportverbot für zehn bestimmte Holzarten. Das Verbot von 2015 bewirkte keinen Stopp der unkontrollierten Abholzung der ukrainischen Wälder, wie einige Politiker und Exporteure vorhergesagt hatten, und die EU bewertete das Verbot als Verstoß gegen das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine.

Polen

Am 11. Oktober besuchte Polens Präsident Andrzey Duda die Ukraine, um ukrainische Politiker zu treffen und der Opfer der Massenrepressionen von 1937 bis 1941 zu gedenken. Duda bezeichnete diesen Besuch als »außerordentlich wichtig« und sagte, Polen stünde bei der Bekämpfung der russischen Aggression an der Seite der Ukraine. Zwei Tage später nahmen der ukrainische und der polnische Präsident am Wirtschaftsforum in Odessa teil, bei dem eine Vereinbarung zwischen den Häfen von Odessa und der polnischen Stadt Gdansk sowie eine Vereinbarung zur Beförderung von Privatisierungen in der Ukraine unterzeichnet wurde.

In den letzten Jahren gab es zwischen Polen und der Ukraine starke Auseinandersetzungen über erinnerungspolitische Themen, wobei die wirtschaftliche Zusammenarbeit anscheinend zur Überwindung des gegenseitigen Misstrauens beiträgt.

Ungarn

Zwischen Ungarn und der Ukraine entstand ein neuer Spannungsherd. Am 30. November, nach den Lokalwahlen, durchsuchten ukrainische Sicherheitsdienste lokale Stiftungen im Oblast Sakarpattja (Region Transkarpatien), die sich zur Interessenvertretung der lokalen ungarischen Minderheit gegründet hatten. Der Oblast grenzt an vier Länder – Polen, die Slowakei, Ungarn und Rumänien –, hier leben zahlreiche ethnische Minderheiten. Ziel der Durchsuchungen war es zu kontrollieren, ob sich die Tätigkeit der Stiftungen gegen die staatliche Souveränität der Ukraine gerichtet haben könnte. Die Operation bezog sich laut offiziellen Angaben auf eine Eröffnungssitzung in einem transkarpatischen Dorf, auf der neben der ukrainischen auch die ungarische Nationalhymne gesungen wurde. Der Einsatz der Sicherheitsdienste verstärkte bereits vorhandene Spannungen zwischen Regierung und Gemeinde, die auf kürzlich in Kraft getretene spaltende Sprach- und Bildungsgesetze, Auseinandersetzungen um die Erteilung ungarischer Staatsbürgerschaften an Ukrainer und andere Konflikte zwischen Offiziellen in Kyjiw und Budapest zurückgehen.

Nach dem Einsatz der Sicherheitsdienste rief der ungarische Außenminister Peter Szijjarto die Nato-Hauptquartiere zum wiederholten Mal auf, die Nato-Kooperation mit der Ukraine einzufrieren. In den letzten sechs Jahren hat sich Budapest häufig gegen Bemühungen der Ukraine zur Integration des Landes in die Nato eingesetzt; Ungarns Vetomacht gegen eine ukrainische Mitgliedschaft ist mittlerweile ein routinemäßig verwendeter Hebel, um die Ukraine in bilateralen Auseinandersetzungen unter Druck zu setzen. In diesem Fall ließ die Nato jedoch wissen, dass sie darauf nicht eingehen würde, und rief die Parteien zu einer friedlichen Lösung des Konflikts auf.

Türkei

Am 16. Oktober besuchte Präsident Selenskyj Istanbul, um seinen türkischen Kollegen Recep Tayyip Erdoğan zu treffen. In einer nach dem Treffen veröffentlichten gemeinsamen Erklärung versicherte der türkische Präsident, die Türkei unterstütze die ukrainischen Bemühungen um einen Nato-Beitritt, die Reintegration der Krim und des Donbas und den Schutz der Menschenrechte in der Region. Außerdem betonte Erdoğan, es sei wichtig, eine Kooperation auch in anderen Bereichen zu entwickeln, etwa in Wirtschafts- und Sicherheitsfragen.

Russland, Belarus und die GUS

Die Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland haben sich weiter verschlechtert. Im September und Dezember setzte Russland einige weitere ukrainische Parlamentarier auf die Liste der mit Sanktionen belegten ukrainischen Amtsträger, unter anderem den Parlamentspräsidenten und ehemaligen Präsidenten des Landes, Petro Poroshenko.

Auch die Beziehungen zwischen der Ukraine und Belarus (unter der Regierung von Aljaksandr Lukaschenka, den Kyjiw nicht als rechtmäßigen Präsidenten anerkennt) haben sich weiter verschlechtert. Die Ukraine hat die von der EU erlassenen Sanktionsregeln übernommen. Ende Dezember erleichterte die ukrainische Regierung belarussischen IT-Spezialisten und einigen anderen Berufsgruppen den Erhalt des dauerhaften Aufenthaltsrechts in der Ukraine. Ein Grund hierfür war die Entscheidung der Ukraine, die Stärkung von Menschenrechten in den Fokus zu nehmen.

Die Abschaltung des Internets in Belarus als Antwort auf die Proteste gegen die Wahlergebnisse legte die IT-Unternehmen des Landes lahm, von denen sich einige auch für die Ausweitung der Proteste über digitale Plattformen engagiert hatten. Obwohl sie in der Ukraine möglicherweise ungünstigere steuerliche Bedingungen und andere wirtschaftliche Nachteile vorfinden würden, ziehen IT-Spezialisten und andere Fachkräfte das Land inzwischen als Ziel einer Umsiedlung in Betracht.

Gleichzeitig dünnte die ukrainische Regierung ihre Verbindungen nach Russland und in die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten weiter aus. Kürzlich zog das Land sich aus dem Vertrag zur Antimonopolgesetzgebung und aus einigen Kooperationsvereinbarungen im Energiebereich zurück.

2. Innenpolitik

Verfassungskrise

Am 27. Oktober erklärte das Verfassungsgericht der Ukraine (VGU) in einem Urteil (http://ccu.gov.ua/dokument/13-r2020) über einige Rechtsnormen in Antikorruptionsverfahren und -institutionen, diese entsprächen nicht der Verfassung und unterliefen die Unabhängigkeit der Justiz. Als nicht verfassungskonform wurde dabei erachtet, dass strafrechtlich verfolgbar ist, wer falsche Angaben in Erklärungen zu Einkommen und Ausgaben macht – Politiker und Regierungsmitglieder bestimmter Ebenen sind zur Abgabe dieser Erklärungen verpflichtet (wobei behördliche und Disziplinarmaßnahmen rechtskräftig bleiben). Insgesamt macht die Entscheidung des VGU eine Überprüfung sämtlicher Rechtsakte, auf denen die Tätigkeiten der Antikorruptionsstellen beruhen, sowie deren Harmonisierung mit der ukrainischen Verfassung erforderlich. Die Entscheidung rief starke Reaktionen bei politischen und zivilgesellschaftlichen Gruppen und auch bei den Spitzen der Antikorruptionsbehörden hervor. Der Leiter der Nationalen Behörde zur Korruptionsprävention warf dem VGU vor, die Antikorruptionsbemühungen der Ukraine zu gefährden, setzte das Urteil jedoch um und sperrte den Zugang zu dem Verzeichnis der Erklärungen. Das Nationale Antikorruptionsbüro musste 110 Strafverfahren einstellen. Zivilgesellschaftliche Gruppen organisierten Massenproteste zur Unterstützung der Antikorruptionsbehörden und forderten den Rücktritt der VGU-Richter. Das Außenministerium erklärte, die Entscheidung des VGU könne das Assoziierungsabkommen zwischen EU und Ukraine und die Regelung für visumfreies Reisen zwischen EU und Ukraine gefährden; Präsident Selenskyj berief den Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat ein, um nach Lösungen zu suchen; dieser empfahl ein Gesetz zu verabschieden, das die VGU-Entscheidung in Frage stellen und die Regeln zur Besetzung des Gerichts ändern würde. Dieser Vorschlag entsprach jedoch nicht der grundsätzlich im rechtlichen und politischen System der Ukraine verankerten Gewaltenteilung und hätte die Krise – wäre er zur Ausführung gekommen – unweigerlich verschärft. Internationale Organisationen wie die Staatengruppe gegen Korruption (GRECO) und die Venedig-Kommission reagierten sofort ablehnend (https://www.coe.int/en/web/kyiv/-/ukraine-letter-from-the-venice-commission-and-greco-relating-to-the-constitutional-court-and-the-fight-against-corruption).

Heikel im Zusammenhang mit der Verfassungskrise ist, dass für einige VGU-Richter Interessenskonflikte bestanden, als sie über die für zu weitgehend befundenen Befugnisse der Antikorruptionsbehörden urteilten: Sie wurden zu dieser Zeit von der Nationalen Behörde zur Korruptionsprävention wegen Einreichung angeblich falscher Angaben überprüft.

Am 14. Dezember änderte die Werchowna Rada die geltende Gesetzgebung, um die Macht der Nationalen Behörde zur Korruptionsprävention wiederherzustellen. Die Debatten über die Frage, ob die Gesetze zur Gründung der Antikorruptionsbehörden verfassungsgemäß sind, halten jedoch an und womöglich wird das VGU die Gesetze vom 14. Dezember noch kippen.

Am 29. Dezember enthob Präsident Selenskyj den VGU-Vorsitzenden per Verordnung für zwei Monate aus seinem Amt des VGU-Richters, mit der Begründung, dieser sei verdächtig, in Bestechung und Betrug verwickelt zu sein. Die Verfassung gibt dem Präsidenten jedoch nicht das Recht, einen VGU-Richter wegen solcher Handlungen zu suspendieren.

Die Verfassungskrise wurde 2020 nicht gelöst. Mit seiner heftigen Reaktion auf das VGU-Urteil hat Präsident Selenskyj der Opposition möglicherweise unbeabsichtigt die Möglichkeit verschafft, ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn zu eröffnen. Die Krise wird die politischen Spaltungen der Ukraine im Jahr 2021 in vielfacher Hinsicht bestimmen.

Lokalwahlen

Am 25. Oktober wurden in der Ukraine Lokalwahlen nach den neuen Regeln des reformierten Wahlsystems abgehalten. Die größte Änderung in diesem Zusammenhang war die Einführung eines Verhältniswahlsystems mit offenen Listen für Wahlkreise mit mehr als 10.000 Wählern, über die jeweils mehrere Abgeordnete in die Räte von Rajonen, Oblasten und Gemeinden entsendet werden. Die Änderungen traten erst kurz vor den Wahlen in Kraft und Wähler wie auch Wahlkomitees hatten Schwierigkeiten, sie zu verstehen.

Dennoch berichtete die Wahlbeobachtungsmission der OSZE, der Prozess sei insgesamt ordnungsgemäß, gut organisiert und transparent verlaufen und die vorgesehenen Abläufe seien trotz Neuheit der Regularien und pandemiebedingter Herausforderungen an die Wahlen meist umgesetzt wurden. Die Wahlbeobachtungsmission vermerkte allerdings auch, dass die Arbeit der Territorialen Wahlkomitees (anders als die der Zentralen Wahlkommission der Ukraine) häufig politisiert wurde, wobei die gemeldeten Verstöße die Ergebnisse nicht signifikant beeinflussten.

Die Wahlergebnisse machten territoriale Unterschiede in der Sympathie für Politiker und politische Kräfte deutlich. Zudem zeigten sie die wachsende Unabhängigkeit lokaler Eliten – etwa Bürgermeister großer Städte – von Parteichefs in Kyjiw, so dass die landesweiten Parteien gezwungen sein dürften, die Interessen lokaler Führungsfiguren ernsthafter zu berücksichtigen.

Meinungsumfrage des Präsidenten

Zwei Wochen vor den Lokalwahlen gab Präsident Selenskyj bekannt, dass er am Wahltag eine Meinungsumfrage durchführen würde, um der Nation »Fragen zu stellen, die noch niemand stellen wollte«. Die fünf Fragen, die er stellte, nahm die Öffentlichkeit allerdings mit Kritik und Sorge auf: Ihre Formulierung war geeignet, Unterstützer der Partei Diener des Volkes zu mobilisieren. Die OSZE berichtete, dass die von der Partei des Präsidenten finanzierte Umfrage allem Anschein nach einen unzulässigen politischen Vorteil am Wahltag bewirkte und gegen die klare Trennung von Staat und Partei verstieß. Indem sie weder Referendum noch Volksentscheid war, hatte sie jedoch keinerlei rechtlichen Status und bis Ende Dezember hat Präsident Selenskyj sich noch nicht dazu geäußert, was er mit den Ergebnissen der Umfrage vorhat.

Covid-19 in der Ukraine

Im letzten Quartal 2020 verbreiteten sich die Covid-19-Infektionen in der Ukraine weiter. Die Anzahl der täglich gemeldeten neuen Fälle lag Anfang Oktober bei 4.000, wuchs bis Ende November auf 16.000 und ging Ende des Jahres auf rund 9.000 zurück.

Am 30. November trat eine von der Regierung eingeführte Wochenend-Quarantäne in Kraft, die Lockdown-Regeln für die Wochenenden vorsah. Im Rahmen ihres Wahlkampfs weigerten sich die Bürgermeister zahlreicher großer Städte allerdings, den entsprechenden Kabinettsbeschluss umzusetzen, mit der Begründung, dies würde wirtschaftliche Einbußen für die Kommunen bedeuten und die Verbreitung der Infektionen nicht wirkungsvoll bekämpfen. Am 2. Dezember musste die Regierung die Bestimmungen zur Wochenend-Quarantäne dann aufheben.

Umfragen zufolge befürwortete mehr als die Hälfte der Ukrainer irgendeine Form von Lockdown, es gab jedoch auch breite Proteste gegen die für Anfang 2021 geplanten Lockdown-Maßnahmen.

Im Dezember genehmigte das ukrainische Parlament einen Finanzhilfemechanismus für Arbeitnehmer und kleine Unternehmer, die durch Pandemie und Quarantäne Einkommensverluste erlitten haben. Mit der Auszahlung der Unterstützung hat die Regierung bereits begonnen. Von manchen wird allerdings bezweifelt, dass eine Einmalzahlung, die niedriger ist als das monatliche ukrainische Durchschnittseinkommen, eine große Hilfe sein kann. Zudem haben Angehörige einiger Industriezweige keinen Anspruch auf die Leistung. Begrüßen werden die Zahlung allerdings sicherlich die zahlreichen kleinen Unternehmen und Soloselbständigen, die es gerade schaffen, genug Einkommen zu generieren, um nicht von staatlichen Leistungen abhängig zu sein, deren laufender Lebensunterhalt jedoch ständig in Gefahr ist.

Impfperspektiven

Ende 2020 präsentierte die ukrainische Regierung einen Plan zur Impfung der Hälfte ihrer Bevölkerung – etwa 21 Millionen Menschen – bis 2022. Die Kosten dafür werden mit 15 Milliarden US-Dollar veranschlagt, wobei nur 15 Prozent dieser Summe im Staatshaushalt 2021 vorgesehen sind. Im Dezember hieß es in der Ukraine dazu von offizieller Stelle, Covax (die weltweite Initiative für die Gewährleistung des Zugangs zu Covid-19-Diagnostika, -Behandlungsmitteln und -Impfstoffen) habe einen Antrag der Ukraine auf vier Millionen Dosen Covid-19-Impfstoff offiziell genehmigt. Eventuell versorgen auch die Regierungen Frankreichs und Polens die Ukraine mit Impfstoffen, sollten dort Überschüsse auflaufen.

Bis Ende 2020 hat die Ukraine laut Bloomberg’s-Impfportal Vereinbarungen über Impfdosen für 2,1 Millionen Menschen oder fünf Prozent der Bevölkerung getroffen, später folgten noch Vereinbarungen über den Kauf von 1,9 Millionen Dosen des chinesischen Impfstoffs, dessen Testung noch nicht abgeschlossen ist. Es wird erwartet, dass die Impfungen im Januar 2021 starten und bis März 2022 fortgesetzt werden.

Wirtschaftliche Auswirkungen

Die Covid-19-Pandemie wirkte sich negativ auf die ukrainische Wirtschaft aus. Im dritten Quartal 2020 sank das ukrainische BIP um 3,5 Prozent (im Vergleich zum Vorjahr). Laut Nationalbank der Ukraine war ein wichtiger Grund dafür ein Investitionsrückgang und das ungelöste Problem der Verschuldung von Produzenten erneuerbarer Energien. Auch der Umfang der ausländischen Direktinvestitionen ist drastisch zurückgegangen: In den ersten neun Monaten 2020 beliefen sie sich auf nur 22 Prozent der ausländischen Direktinvestitionen im gleichen Zeitraum 2019.

Gutachten des UN-Entwicklungsprogramms zeigen (https://www.ua.undp.org/content/ukraine/en/home/presscenter/pressreleases/2020/assessment-confirms-devastating-impact-of-COVID-19-in-Ukraine.html), dass die Covid-19-Pandemie die schwerste Rezession in der Ukraine seit Jahrzehnten oder sogar eine Depression bewirken könnte: Über acht Prozent der kleinen und mittleren Unternehmen laufen Gefahr, zahlungsunfähig zu werden oder schließen zu müssen, und die Zahl der in Armut lebenden Menschen könnte von 6,3 Millionen auf neun Millionen Menschen steigen. Die Weltbank prognostizierte (https://www.worldbank.org/en/news/press-release/2020/12/11/world-bank-scales-up-support-to-ukraine-to-help-protect-low-income-families) ein durch die Covid-19-Epidemie verursachtes Wachstum der Armut in der Ukraine um vier Prozent. Ende 2020 wären laut der Prognose von Anfang Dezember rund 23 Prozent der Bevölkerung von Armut betroffen. Die Weltbank hat einen Kredit über mehr als 300 Millionen US-Dollar zur Unterstützung von durch die Epidemie getroffenen Familien mit geringem Einkommen genehmigt.

Öffentliche Stimmung

Angesichts der sich ausbreitenden Pandemie und einer wirtschaftlichen Rezession ist die Beliebtheit von Präsident Selenskyj und seiner Partei weiter gesunken. In Umfragen (http://ratinggroup.ua/research/ukraine/obschestvenno-politicheskie_nastroeniya_naseleniya_16-20_dekabrya.html) von Mitte Dezember waren nur 18 Prozent der Befragten der Ansicht, das Land bewege sich in die richtige Richtung; 70 Prozent gingen davon aus, dass sich die wirtschaftliche Situation im letzten halben Jahr verschlechtert hat. Nur 32 Prozent waren mit Präsident Selenskyj zufrieden, wobei ihn nur 26,4 Prozent derjenigen unterstützen, die voraussichtlich ihre Stimme bei der Wahl abgeben werden.

Neue Runde der Regierungsumbildung

Am 17. Dezember wählte das Parlament Serhiy Schkarlet mit dem Minimum der erforderlichen Stimmen zum Bildungsminister. Schkarlet, der zuvor stellvertretender Minister war, hatte große Bekanntheit durch Plagiate in seiner Doktorarbeit und seine frühere Unterstützung von Präsident Wiktor Janukowytsch erlangt.

Dem Parlament gelang es zwar nicht, Juriy Witrenko (ein ehemaliger Naftogaz-Spitzenfunktionär, der viel zum Naftogaz-Sieg beim Stockholmer Schiedsgericht beigetragen hat) zum ersten stellvertretenden Ministerpräsidenten und Energieminister zu wählen, das Kabinett machte ihn allerdings zum stellvertretenden Energieminister. Er gilt als frei von jeglichen politischen Ambitionen und seine Ernennung wird als radikaler Schritt zur Lösung der schweren und seit langem bestehenden Krise im Energiesektor der Ukraine angesehen – Schuldenzahlungen stehen aus und den Bürgern drohen Versorgungsausfälle.

Ebenfalls am 17. Dezember ernannte das Parlament einen Agrarminister. Nach Selenskyjs Amtsantritt 2019 wurde dieses Ministerium mit dem Ministerium für Wirtschaft und Handel zusammengelegt; nun wurden die Ministerien wieder getrennt.

Die Zusammenlegung und Teilung von staatlichen Instanzen wie Ministerien, begleitet von der schnellen Auswechslung hoher Funktionäre, ist in der Ukraine ziemlich alltäglich geworden. Wie in einem Kennan-Focus-Ukraine-Artikel dargestellt (https://www.wilsoncenter.org/blog-post/president-zelenskys-personnel-problem), hält diese Situation erfahrene Regierungsfunktionäre weiter davon ab, sich formell auf Präsident Selenskyj zuzubewegen und ihn zu unterstützen, da sie nicht glauben, dass sie lange genug im Amt bleiben würden, um positive Veränderungen bewirken zu können. Deshalb verlässt sich der Präsident, selbst ein politischer Neuling, tendenziell auf andere politische Neulinge, Personen aus Medienkreisen und dem Show Business, die er kennt und denen er vertraut.

3. Reformfortschritte und Erfolgsgeschichten

Als im Oktober die erste Anlage zur Alkoholherstellung privatisiert wurde, lief das staatliche Monopol auf die Produktion von Alkohol aus; bis zum Jahresende wurden einige weitere Anlagen zur Alkoholherstellung privatisiert. Zur Gewährleistung der Transparenz fand die Privatisierungsauktion über die Plattform Pro-Zorro statt. Insgesamt stehen knapp 80 Anlagen zur Privatisierung bereit. Die Herstellung von Alkohol zählt zu den Kernbereichen der ukrainischen Wirtschaft; außer für Spirituosen zum Konsum wird Alkohol auch zur Produktion von Brennstoffen im Energiesektor verwendet. Die Privatisierung des Bereichs soll die Produktion optimieren, Profite erhöhen und so mehr Geld in die Staatskasse bringen.

4. Die Situation im Donbas

Trotz eines Ende Juli 2020 in Kraft getretenen offiziellen Waffenstillstands finden weiterhin Schusswechsel statt. In den letzten drei Monaten kamen dabei vier Menschen ums Leben – Zivilisten und Militärangehörige (von Januar bis Juli 2020 starben laut Berichten der OSZE-Sonderbeobachtermission über 40 Menschen bei militärischen Auseinandersetzungen). In der zweiten Jahreshälfte 2020 ist die Zahl der Opfer im Donbas zwar stark zurückgegangen, in den letzten Wochen verschlechterte sich die Situation allerdings langsam wieder. Der Waffenstillstand scheint in der Tat sehr brüchig.

Ende November entsandte die russische Regierung ihren hundertsten »Humanitärkonvoi« in den Donbas. Wie üblich geschah dies unter Missachtung ukrainischer Gesetze und internationaler Regeln; die ukrainische Grenzpolizei durfte den Inhalt der Laster nicht kontrollieren.

Die Arbeit der Trilateralen Kontaktgruppe, deren Ziel die Lösung des Donbas-Konflikts ist, wird immer ineffektiver. Momentan wird sie hauptsächlich durch den Versuch Russlands behindert, die Teilnahme von Vertretern aus Luhansk und Donezk an einer vorgeschlagenen Beratergruppe für die Kommission zu erreichen. Kyjiw akzeptiert die selbst ernannten und nicht anerkannten Republiken nicht als Verhandlungspartner. Gleichzeitig erklärte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba, das Minsk- und das Normandie-Format hätten das Potential, den Konflikt zu lösen. Dmitrij Peskow, Sprecher des russischen Präsidenten Wladimir Putin, sagte unterdessen, die Beilegung des Konflikts werde mit der Zeit immer schwieriger, vor allem weil die ukrainische Lösungsvorstellung – seiner Meinung nach – »dem Minsker Abkommen zuwiderlaufe«.

Im Dezember teilte die ukrainische Menschenrechtsbeauftragte Ljudmila Denisowa mit, dass von Russland unterstützte Militärs im Donbas 251 ukrainische Bürger gefangen halten und die Bedingungen, unter denen die Geiseln gehalten werden, nicht kontrolliert werden könnten. Seit dem Beginn des Kriegs im Osten der Ukraine im Sommer 2014 praktizieren die russisch kontrollierten Militärs in illegal betriebenen Gefängnissen ein ausgefeiltes System von Folter, Gefangenenvergewaltigung, routinemäßiger Demütigung, Zwangsarbeit und sogar Mord. (Ein älterer Kennan-Focus-Ukraine-Artikel thematisiert ein von Militärs im Donbas betriebenes Geheimgefängnis: https://www.wilsoncenter.org/blog-post/present-day-concentration-camp-eastern-europe)

Am 15. Dezember verlängerte die Werchowna Rada ein weiteres Mal das Gesetz über den Sonderstatus und spezielle Bedingungen für die Lokalregierung und die nicht ukrainisch kontrollierten Teile der Oblaste Donezk und Luhansk für 2021. Dieses Gesetz basiert auf dem Minsker Abkommen, ist seit 2014 in Kraft und wird von der Rada jährlich verlängert. Das Originalgesetz von 2014 setzt Folgendes fest: (1) Die Ukraine garantiert, dass Teilnehmer des Konflikts im Donbas nicht strafrechtlich verfolgt werden; (2) für die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten in den nicht ukrainisch kontrollierten Gebieten werden spezielle Verfahren festgelegt; und (3) das Gesetz etabliert Bürgerwehren, die im Rahmen der ukrainischen Gesetze die Kontrolle über Gesetz und Ordnung aufrechterhalten sollen. In einem Zusatz ist allerdings festgelegt, dass das Gesetz von 2014 erst dann vollständig in Kraft tritt, wenn die illegalen militärischen Einsatzkräfte und Truppen komplett aus der Region abgezogen wurden.

Stand: 07. Januar 2021

Übersetzung aus dem Englischen: Sophie Hellgardt


Das Kennan Institute des Wilson Center bringt unter dem Titel „Ukraine Quarterly Digest“ jährlich vier Quartalsberichte heraus, die kurz und prägnant zentrale innen- und außenpolitische Entwicklungen der vergangenen Monate in der Ukraine zusammenfassen. Der jüngste Bericht für das vierte Quartal des Jahres 2020 ist am 7. Januar 2021 erschienen unter zugänglich unter:

https://www.wilsoncenter.org/blog-post/ukraine-quarterly-digest-october-december-2020.

Die Redaktion der Ukraine-Analysen bedankt sich beim Kennan Institute des Wilson Center für die Kooperation und die Erlaubnis, den Quartalsbericht in deutscher Übersetzung abdrucken zu dürfen.

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