Die Lage entlang der Demarkationslinie
Im Konfliktgebiet lässt sich seit Februar 2021 ein moderater Anstieg der Gewalt im Vergleich zum zweiten Halbjahr 2020 beobachten. Allerdings war es im Herbst 2020 entlang der Demarkationslinie im Donezbecken (Donbas) infolge eines im Juli vereinbarten Waffenstillstands auch so ruhig wie noch nie. Die Intensität der Kämpfe ist somit jüngst zwar gestiegen, bleibt aber verglichen mit der Situation vor dem Sommer 2020 relativ niedrig.
Der aussagekräftigste Indikator für die Intensität der Kämpfe in der Region ist die Zahl der Gefallenen auf ukrainischer Seite. Sie reflektiert das Ausmaß der Gewalt besser als zum Beispiel Angaben zur Zahl der Waffenstillstandsverletzungen, bei denen es schwer ist, den angerichteten Schaden zu quantifizieren. Todesfälle auf ukrainischer Seite werden zudem in der Regel gut dokumentiert – nicht nur von offizieller Seite, sondern auch von der vielfältigen ukrainischen Medienlandschaft sowie von den Kameraden und Familien der Gefallenen in sozialen Netzwerken. Diese Vielzahl an Informationsquellen, kombiniert mit der großen politischen, medialen und gesellschaftlichen Aufmerksamkeit für das Thema, macht es relativ schwierig, Todesfälle auf ukrainischer Seite der Front zu erfinden oder zu vertuschen. Auf Seite der zwei selbsterklärten »Volksrepubliken« gibt es hingegen keine verlässlichen Zahlen.
Die aktuell beste Quelle für einen Rückblick auf die letzten Jahre ist die von Mitarbeitern des militärhistorischen Museums der Ukraine ins Leben gerufene Online-Datenbank »Gedenkbuch der Gefallenen.« Sie bietet umfassende und gut aufbereitete Zahlen für den Zeitraum 2014–2020. Laut dieser Zahlen tobten die heftigsten Kämpfe in der Region im Juli und August 2014. Nach dem ersten Minsker Abkommen Anfang September 2014 beruhigte sich die Situation etwas. Im Januar und Februar 2015 flammten die Kämpfe dann erneut auf. Seit dem zweiten Minsker Abkommen im Februar 2015 ist die Gewalt generell rückläufig. Sie kam jedoch nie ganz zum Erliegen. Daran änderte auch das jüngste Waffenstillstandsabkommen vom Juli 2020 nichts. Allerdings sank die Zahl der gefallenen ukrainischen Soldaten entlang der Demarkationslinie im zweiten Halbjahr 2020 mit 38 auf den niedrigsten Stand seit Beginn des Konflikts.
Für 2021 sind die Zahlen des »Gedenkbuchs der Gefallenen« noch nicht auf dem neuesten Stand. Jedoch publiziert die Webseite des ukrainischen Nachrichtensenders »24 Kanal« tagesaktuelle Daten. Sie sammelt Informationen zu gefallenen ukrainischen Soldaten in sozialen Netzwerken in Echtzeit, vor allem auf den Profilseiten verschiedener Einheiten des ukrainischen Militärs. Laut der Datenbank des Senders starben zwischen Anfang 2021 und Ende April insgesamt 37 ukrainische Soldaten an der Demarkationslinie. Verglichen mit den Daten des »Gedenkbuchs der Gefallenen« ist das die geringste Zahl für den Zeitraum Januar bis April jedes Jahres seit Beginn des Krieges. Im Vergleich zum Herbst 2020 ist die Zahl aber klar gestiegen und ist bereits fast genauso hoch wie im gesamten zweiten Halbjahr 2020.
Invasionsszenarien
Für sich genommen deutete der moderate Anstieg der Gewalt entlang der Demarkationslinie seit Februar 2021 also kaum auf eine dramatische Eskalation des Konfliktes hin. Im Kontext massiver russischer Truppenbewegungen im Umfeld der Konfliktregion bot er jedoch Anlass zu ernsthafter Sorge, die von der ukrainischen Regierung und Zivilgesellschaft auch mit Nachdruck geäußert wurde. Russland begann Ende März 2021 massiv Truppen und Kriegsgerät in Richtung ukrainische Grenze und auf die annektierte Halbinsel Krim zu verlegen. Der Kreml selbst machte keine Angaben zur Anzahl der verlegten Truppen. Der Europäische Auswärtige Dienst sprach am 20. April von mehr als 100.000 Soldaten. Eine Woche vorher sprachen die ukrainischen Behörden von 40.000 Soldaten nahe der Stadt Woronesch (ca. 450 Kilometer nördlich der Konfliktregion) und von weiteren 40.000 Soldaten auf der Krim. Es blieb unklar, auf welchen Quellen und Methoden diese Schätzungen beruhten. Dass ein massiver Truppenaufmarsch stattgefunden hatte, stand jedoch außer Frage und wurde durch zahlreiche öffentlich zugängliche Quellen belegt. Zum Beispiel verifizierten die Analysten des russischen Recherchekollektivs »Conflict Intelligence Team« zahlreiche Internetvideos langer Militärkonvois und konnten diese eindeutig Orten nahe der ukrainischen Grenze zuordnen. Außerdem zeigten öffentlich zugängliche Satellitenbilder große neu entstandene Militärlager nahe der Stadt Woronesch und auf der annektierten Krim.
Der parallele Truppenaufmarsch in Woronesch und auf der Krim weckte Ängste vor einer großen russischen Offensive. Einige Beobachter befürchteten, die russischen Streitkräfte könnten gleichzeitig das ukrainische Festland nördlich der Krim sowie den Norden der Provinz Luhansk angreifen. Theoretisch könnte Russland dann in einer Zangenbewegung einen Landkorridor zwischen der Krim und den zwei »Volksrepubliken« im Donbas schaffen und deren Gebiet zugleich auf die gesamten Provinzen Donezk und Luhansk erweitern. Der Kreml könnte versuchen, eine solche Offensive damit zu rechtfertigen, die russischen Staatsbürger auf der Krim und im Donbas vor angeblich bevorstehenden ukrainischen Angriffen schützen zu müssen. Auf der annektierten Krim haben so gut wie alle Bewohner die russische Staatsbürgerschaft erhalten, und auch in den beiden »Volksrepubliken« erhielten nach übereinstimmenden Angaben beider Seiten bereits mehr als 500.000 Bewohner russische Pässe. In sozialen Netzwerken kursierten sogar noch weiterreichende Szenarien, bis hin zu einer kompletten Besetzung der Ukraine östlich des Dnipro, was Kyjiw zum Kriegsschauplatz machen würde.
Von einer neuen Offensive gegen die Ukraine könnte Russland potenziell in zweierlei Hinsicht profitieren. Zum einen würde die Kontrolle über den Nord-Krim-Kanal, durch den Wasser vom Dnipro auf die Krim geleitet werden kann, Russland dabei helfen, die Wasserknappheit auf der Halbinsel zu bekämpfen. Bis 2014 erfolgte bis zu 85 Prozent der Wasserversorgung der Krim über diesen Kanal. Nach der russischen Annexion verringerte die ukrainische Regierung die Wasserzufuhr durch den Kanal zunächst drastisch und stoppte sie schließlich ganz. Seitdem trocknet die Halbinsel zunehmend aus; in großen Städten gibt es oft nur für wenige Stunden am Tag fließendes Wasser. Da Russland bisher nicht im großen Maßstab in Meerwasserentsalzung investiert hat, ist anzunehmen, dass sich das Problem in den kommenden Jahren weiter verschärfen wird.
Zum anderen könnte Russland versuchen, eine militärische Offensive zur innenpolitischen Konsolidierung zu nutzen. Angesichts zahlreicher innenpolitischer und wirtschaftlicher Probleme und im Hinblick auf die anstehenden Parlamentswahlen im September könnte sich der Kreml von einer neuen Offensive einen ähnlichen Popularitätsschub erhoffen, wie er nach der Krim-Annexion zu beobachten war.
Jedoch wäre eine militärische Eskalation der Lage für Russland auch mit beträchtlichen Risiken verbunden. Zwar bleiben die ukrainischen Streitkräfte den russischen in Bezug auf Truppenstärke und Ausrüstung weit unterlegen, sie sind aber mittlerweile deutlich besser in der Lage, auf eine russische Offensive zu reagieren als noch 2014. Sie könnten also die materiellen und personellen Kosten eines russischen Angriffs deutlich in die Höhe treiben. Hinzu kämen noch die Kosten für die dauerhafte Besatzung eroberter Gebiete. Es ist außerdem zu bezweifeln, dass ein sich in die Länge ziehender Krieg mit zahlreichen gefallenen russischen Soldaten eine ähnlich konsolidierende Wirkung auf die russische Gesellschaft hätte, wie die schnelle und unblutige Annexion der Krim im Jahr 2014. Trotz der Zurückhaltung des Westens in der Vergangenheit wären härtere internationale Sanktionen gegen Russland im Falle einer neuen Offensive in einem solchen Szenario ebenfalls kaum zu vermeiden.
Diese Risiken für den Kreml wachsen mit dem Ausmaß einer hypothetischen Offensive. Das am wenigsten unwahrscheinliche Szenario ist daher ein schneller Überraschungsangriff von der Krim aus auf die Oblast Cherson und die Besetzung des südlichen Teils dieser Oblast östlich des Dnipro. So könnte sich Russland die Kontrolle über den Nord-Krim-Kanal sowie über einen weiteren Teil der ukrainischen Schwarzmeerküste sichern und gleichzeitig versuchen, seine Offensive als humanitäre Aktion zum Schutz der von Wasserknappheit bedrohten Krim-Bevölkerung zu präsentieren. Natürlich würde selbst eine begrenzte Offensive dieser Art bereits beträchtliche Kosten mit sich bringen. Allerdings kennt niemand außer den unmittelbar Beteiligten im Kreml die genaue Kosten-Nutzen-Einschätzung sowie den intransparenten Entscheidungsprozess der russischen Staatsführung. Es ist deshalb in jedem Fall ratsam, dass die Ukraine und ihre internationalen Partner auf dieses und andere Krisenszenarien vorbereitet sind. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt mögen solche Szenarien nach dem am 22. April angekündigten teilweisen russischen Truppenabzug wieder etwas an Wahrscheinlichkeit verloren haben. Am Umfang dieses Abzugs gibt es jedoch Zweifel. Laut dem russischen Abzugsbefehl wird das nach Woronesch verlegte schwere Kriegsgerät dort stationiert bleiben – angeblich zur Vorbereitung auf das für den Spätsommer geplante Großmanöver »Sapad 2021.« Außerdem bleibt unklar, wie viele Truppen tatsächlich die Grenzregion verlassen. Anfang Mai schätzte die US-Regierung die Zahl der entlang der ukrainischen Grenze stationierten russischen Truppen immer noch auf fast 80.000 Soldaten. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj behauptete nach einem Treffen mit US-Außenminister Blinken am 6. Mai, dass Russland bisher lediglich 3.500 Soldaten von der Krim abgezogen habe.
Die Handlungsoptionen des Westens
Im Zuge des jüngsten russischen Truppenaufmarschs haben sich Präsident Selenskyj und sein Außenminister Dmytro Kuleba sehr aktiv um internationale Unterstützung bemüht. Im Hinblick auf diplomatische Statements waren diese Bemühungen auch erfolgreich. In EU und NATO bekräftigte man einhellig die Solidarität mit der Ukraine und forderte Russland zur Deeskalation und zum Truppenrückzug auf. Es bleibt jedoch offen, inwieweit der Westen tatsächlich bereit ist, diesen Worten auch Taten folgen zu lassen.
Was militärische Abschreckungsmaßnahmen angeht, zeigte sich der Westen zurückhaltend. Medienberichten zufolge sah die US-Regierung von der ursprünglich geplanten Entsendung zweier Zerstörer ins Schwarze Meer ab, um die Situation nicht weiter zu eskalieren. Auf die erneut mit Nachdruck geäußerten NATO-Mitgliedschaftsambitionen der ukrainischen Regierung reagierte man im Bündnis höflich, aber reserviert (siehe dazu die Analyse von Susan Stewart in dieser Ausgabe). Auch wenn diese Zurückhaltung von einigen Experten kritisch gesehen wird, ist sie aus strategischer Sicht nachvollziehbar. Militärische Abschreckungsmaßnahmen sind nur dann potenziell wirksam, wenn sie glaubhaft sind. Zerstörer im Schwarzen Meer können den Kreml nur dann beeinflussen, wenn die Entscheidungsträger dort befürchten, dass diese Zerstörer im Ernstfall ukrainische Schiffe durch eine russische Seeblockade eskortieren oder die ukrainische Küste bei einer russischen Invasion verteidigen würden. Genauso sind Schritte in Richtung einer ukrainischen NATO-Mitgliedschaft nur dann ein potenzielles Druckmittel, wenn Moskau tatsächlich glaubt, die NATO sei bereit, die Ukraine trotz ihrer territorialen Konflikte mit Russland aufzunehmen und auch im Falle eines Angriffs zu verteidigen. Beides ist in der aktuellen Situation mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht der Fall. Zwar ist die angebliche Einkesselung und direkte Bedrohung Russlands durch die NATO ein Dauerthema in den russischen Staatsmedien, aber es darf bezweifelt werden, dass die Entscheidungsträger im Kreml in dieser Hinsicht tatsächlich ihrer eigenen Propaganda glauben. Wahrscheinlicher ist, dass man in Moskau versteht, dass die NATO nicht bereit ist, zur Verteidigung der Ukraine direkte militärische Zusammenstöße mit Russland zu riskieren. Der Versuch militärischer Abschreckung von Seiten des Westens wäre in der aktuellen Situation also ein Bluff, den Russland mit hoher Wahrscheinlichkeit durchschauen würde.
Vor diesem Hintergrund wäre die ukrainische Außenpolitik besser beraten, ihre diplomatischen Bemühungen auf die Ausrüstung des eigenen Militärs auf der einen Seite und die Drohung des Westens mit Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland auf der anderen zu konzentrieren. Diese beiden Dimensionen sind der realistischere Weg, die Kosten und Risiken einer erneuten russischen Offensive zu erhöhen. Auch hier sind die Erfolgsaussichten jedoch ungewiss. Vor allem in der EU bleibt die Skepsis gegenüber Waffenlieferungen an die Ukraine groß. Die USA sind in dieser Hinsicht aber aufgeschlossener und haben bereits über 300 Panzerabwehrraketen vom Typ Javelin an die Ukraine geliefert. Ein Gesetz, das jährliche Militärhilfen für die Ukraine von bis zu 300 Millionen US-Dollar im Zeitraum 2022–2026 vorsieht, wurde im März von Vertretern beider Parteien in den US-Senat eingebracht. Allerdings befindet es sich noch in einer frühen Phase des Gesetzgebungsprozesses. Öffentliche westliche Sanktionsdrohungen für den Fall einer russischen Offensive hielten sich ebenfalls in Grenzen. Die am 15. April verkündeten neuen US-Sanktionen sendeten zwar ein gewisses Signal, allerdings wurden diese Sanktionen primär als Reaktion auf die russische Einmischung in US-Wahlen und russische Hackerangriffe auf US-Institutionen präsentiert. Ein weiteres Signal war eine Resolution des Europaparlaments, die am 29. April verabschiedet wurde. Im Falle einer russischen Offensive gegen die Ukraine fordert diese Resolution eine Einstellung der Erdöl- und Erdgaseinfuhren aus Russland, die Abkopplung Russlands vom Zahlungssystem SWIFT und das Blockieren von Vermögenswerten und Visa russischer Oligarchen und ihrer Familien. Jedoch ist diese Resolution nicht bindend und die Rhetorik im Europaparlament ist traditionell schärfer als in den Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten. In Deutschland laufen große wirtschaftliche Kooperationsprojekte – allen voran die Gaspipeline Nord Stream II – derweil relativ ungestört weiter, und Bundesaußenminister Heiko Maas lehnte in einem Fernsehinterview am 25. April weitere Sanktionen gegenüber Russland ab.
Dennoch ist der Handlungsspielraum des Westens und vor allem der EU im wirtschaftlichen Bereich am größten. Drohungen mit Einreisesperren für Russlands Politik- und Wirtschaftselite, mit dem Einfrieren von Vermögenswerten, mit der Abkopplung Russlands vom SWIFT-Zahlungssystem und mit einer allgemeinen Reduktion wirtschaftlicher Kooperationen, inklusive Rohstoffimporte, hätten am ehesten das Potenzial, die Wahrscheinlichkeit einer neuen russischen Offensive gegen die Ukraine gering zu halten. Diese Drohungen müssten nicht zwingend öffentlich erfolgen. Aber es ist wichtig, dass sie in einer Weise kommuniziert werden, die der Kreml versteht und ernst nimmt.
Fazit: Gibt es Aussichten auf einen befriedeten Donbas?
Natürlich kann die Verhinderung einer neuen Eskalation des Konflikts immer nur das absolute Minimalziel sein. Denn auch ohne eine neue russische Offensive bleibt die Lage entlang der Demarkationslinie angespannt. Gleichzeitig sind die innenpolitischen Hürden für eine Reintegration der »Volksrepubliken« in die Ukraine weniger hoch als die außenpolitische Hürde, die Russland durch seine militärische und politische Kontrolle über diese Gebiete geschaffen hat. Die andauernd hohe Unterstützung für die als pro-russisch geltende »Oppositionsplattform – für das Leben« im ukrainisch kontrollierten Teil des Donbas bei Präsidentschafts-, Parlaments- und Kommunalwahlen zeugt davon, dass sich die politischen Einstellungen auf ukrainischer Seite der Demarkationslinie nicht grundlegend verändert haben. Von einer ukrainisch-nationalistischen Indoktrinierung und Radikalisierung der lokalen Bevölkerung und von weitverbreitetem Hass gegenüber den Bewohnern der »Volksrepubliken« kann keine Rede sein. Vielmehr zeugt die Popularität der Oppositionsplattform von einer weitverbreiteten Sehnsucht nach Frieden und Stabilität sowie von Nostalgie für die Vorkriegszeit. Separatistische Ideen scheinen aber ebenfalls wenig populär zu sein. Laut einer Umfrage des Kyjiwer Instituts für Soziologie im Auftrag des Berliner Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS), lag die Unterstützung einer Unabhängigkeit des Donbas oder eines Beitritts zu Russland im ukrainisch kontrollierten Teil des Gebiets zusammengenommen bei unter 10 Prozent.
Auf Seiten der »Volksrepubliken« hingegen zeigte eine Umfrage des Moskauer Lewada-Zentrums, ebenfalls im Auftrag des ZOiS, dass mehr als die Hälfte der Bewohner einen Beitritt zu Russland befürworten und sich nur knapp mehr als 10 Prozent für eine Reintegration in die Ukraine aussprachen. Da die politische Führung der »Volksrepubliken« jedoch ausgesprochen repressiv gegen jeglichen Dissens vorgeht, sollte den Ergebnissen dieser Meinungsumfrage eine gewisse Skepsis entgegengebracht werden. Angesichts der schlechten wirtschaftlichen und sozialen Lage in den »Volksrepubliken« kann man auch dort von einer gewissen Kriegsmüdigkeit und Desillusionierung gegenüber Russland ausgehen. Auch wurden die sozialen Kontakte über die Demarkationslinie hinweg nie völlig gekappt. Zahlreiche Bewohner der »Volksrepubliken« reisten regelmäßig auf die ukrainische Seite, um dort zum Beispiel ihre ukrainische Rente entgegenzunehmen oder ihre Familien zu besuchen. Durch Maßnahmen im Zuge der Coronavirus-Pandemie wurden solche Reisen erheblich erschwert, da die »Volksrepubliken« die meisten ihrer Kontrollpunkte geschlossen haben. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass sie wieder an Popularität gewinnen, wenn geschlossene Kontrollpunkte wieder öffnen und der Übergang über die Demarkationslinie erleichtert wird. Von einer völligen Abkopplung der »Volksrepubliken« vom Rest der Region kann also keine Rede sein. Es besteht vielmehr Grund zur Hoffnung, dass ein groß angelegtes international finanziertes Wiederaufbauprogramm lokale Aversionen gegen eine Wiedereingliederung der »Volksrepubliken« in die Ukraine effektiv abbauen könnte. Ein solches Wiederaufbauprogramm müsste allerdings erst noch entwickelt und finanziert werden und würde vermutlich vor allem aufseiten des Westens eine beträchtliche Zahlungsbereitschaft voraussetzen.
Die entscheidende Grundvoraussetzung für eine solche Wiedereingliederung wäre jedoch die Bereitschaft Russlands, vor allem seine militärische und politische Kontrolle über die »Volksrepubliken« aufzugeben. Dies wiederum wird ohne internationalen Druck kaum zu erreichen sein. Hauptziel der Friedensbemühungen Deutschlands, der EU und der USA im Donbas muss also sein, die Kosten-Nutzen-Analyse Moskaus in Richtung einer Aufgabe der »Volksrepubliken« zu bewegen. Hier legt die Erfahrung der letzten Jahre leider nahe, dass die Aussicht auf Aufhebung der bisher verhängten Sanktionen nicht ausreichend ist. Es muss daher vermehrt darüber nachgedacht werden, ob es nicht auch in Abwesenheit einer neuen Eskalation erforderlich sein könnte, den Druck auf Russland weiter zu erhöhen, um so wieder Bewegung in den festgefahrenen Friedensprozess zu bringen. Von deutscher Seite würde zum Beispiel ein Moratorium für die Nord Stream II Pipeline in diesem Zusammenhang ein klares Zeichen setzen.
Natürlich muss eine Erhöhung des internationalen Drucks auf Russland mit Augenmaß erfolgen. Es muss eine Situation geschaffen werden, in der Moskau versteht, dass es von einer Aufgabe des Donbas profitieren würde, während eine weitere Eskalation der Situation mit dramatischen zusätzlichen Kosten verbunden wäre. Dieser schwierige diplomatische Balanceakt ist aktuell die zentrale Herausforderung der Russlandpolitik von Deutschland, EU und USA. Der jüngste russische Truppenaufmarsch hat diese Herausforderung wieder ins Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit gerückt. Es bleibt zu hoffen, dass er auch die Aufmerksamkeit politischer Entscheidungsträger wieder verstärkt und nachhaltig auf die Situation in der Ostukraine gelenkt hat. Wenn dem so ist, wäre den Ereignissen des letzten Monats zumindest etwas Positives abzugewinnen.