Kriegsoptimismus im Russland-Ukraine-Konflikt: Grund zum Pessimismus?

Von Olena Lennon (Universität New Haven)

Russlands militärischer Aufmarsch in Richtung Ukraine, der die heftigsten Spannungen zwischen Russland und dem Westen seit dem Ende des Kalten Krieges ausgelöst hat, ist in den letzten Tagen in eine kritische Phase getreten. Das Weiße Haus hat mit Verweis auf neue nachrichtendienstliche Erkenntnisse (https://thehill.com/homenews/administration/593903-white-house-says-russian-invasion-could-begin-any-day-urges-us) eine Warnung veröffentlicht, dass der Kreml in der Lage sei, »jederzeit eine großangelegte militärische Operation zu unternehmen«. Die ukrainische Führung hat zwar endlich anerkannt, dass eine massive Offensive droht, doch wird weiterhin heruntergespielt, (https://www.pravda.com.ua/news/2022/02/12/7323742/) dass eine unmittelbare Gefahr droht. Ebenso wird ungeachtet des Umstands, dass die US-Regierung (https://www.politico.com/news/2022/02/11/white-house-warns-russian-invasion-threat-is-immediate-00008299)und andere Länder den Großteil ihres Personals aufgefordert haben, die Ukraine umgehend zu verlassen, dazu aufgerufen, die Ruhe zu bewahren.

Seit Beginn dieser Eskalation ist die ukrainische Führung für ihre ruhige Art sowohl gelobt als auch kritisiert worden: Gelobt wurde sie dafür, dass eine (kostspielige) voreilige Mobilisierung unterblieb und versucht wurde, die ukrainische Währung sowie die Märkte zu schützen. Kritisiert wurde sie dafür, dass wertvolle Zeit zur Vorbereitung auf einen Krieg und auf eine Evakuierung von Zivilisten vergeudet wurde. Obwohl er sich einem außerordentlichen Aggressor gegenübersteht, schien der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj unbeirrt von den unheilvollen Anzeichen für ein mögliches Blutvergießen. Auch der russische Präsident Wladimir Putin – als Aggressor wahrgenommen – scheint angesichts des drohenden Blutvergießens unbeirrt zu sein. Beide Präsidenten scheinen – jeder auf seine Weise – an Kriegsoptimismus zu leiden, einer Form von Selbsttäuschung, die einen dazu bringt, allzu optimistisch zu beurteilen, wie die Chancen stehen, ihre Ziele zu erreichen. Dabei wird das zu Gewinnende aufgebläht und werden die Risiken kleingeredet. Selenskyjs Kriegsoptimismus mag zwar aus Verzweiflung und einem Überlebenswillen erfolgen – in Verbindung mit Putins kampfeslustigem und neoimperialen Kriegsoptimismus jedoch ist er brandgefährlich.

Selenskyjs Optimismus könnte zweifellos berechtigt sein, da er für die psychologische und physische Stärkung einer kämpfenden Nation förderlich sein kann. Wenn der Optimismus jedoch auf Irrglauben beruht, kann das besonders dann, wenn es um Leben und Tod geht, verheerende Folgen haben. Man schaue sich nur Armeniens jüngste Niederlage (https://www.themoscowtimes.com/2020/12/21/a-look-at-the-military-lessons-of-the-nagorno-karabakh-conflict-a72424) im zweiten Krieg um Bergkarabach an, die in nicht geringem Maße darauf zurückzuführen ist, dass die armenische Führung die eigene Stärke überschätzte und die des Gegners unterschätzte.

Selenskyjs Optimismus speist sich aus drei Quellen: die verbesserten militärischen Fähigkeiten, die internationale Unterstützung und das hohe Niveau des Patriotismus und der Mobilisierung in der Ukraine.

Die Kampfbereitschaft (https://www.reuters.com/business/aerospace-defense/how-ukraines-armed-forces-shape-up-against-russias-2022-02-01/) und militärische Effektivität der Ukraine haben sich in der Tat nach 2014 verbessert. Die modernisierte militärische Ausrüstung, die aus eigener wie ausländischer Produktion stammt, hat in Kombination mit besser ausgebildeten Truppen (https://www.defenseone.com/threats/2021/11/ukraine-wants-more-exercises-training-us/187018/) – was sowohl auf Kampferfahrung wie auch auf taktische Ausbildung unter Führung der NATO zurückzuführen ist – dazu geführt, dass das ukrainische Militär mittlerweile zu den besten Streitkräften in Europa zählt. Die fortgesetzte diplomatische, wirtschaftliche und militärische Unterstützung durch den Westen hat die Regierung Selenskyj ebenfalls bestärkt und ihr Auftrieb gegeben. Die USA und die NATO haben ihre Unterstützung für die Souveränität und die territoriale Integrität der Ukraine bekräftigt und die Lieferung von Waffen und Ausrüstung zur Verteidigung drastisch aufgestockt (https://www.wsj.com/articles/u-s-led-air-bridge-of-weapons-to-ukraine-seeks-to-shore-up-kyivs-ability-to-resist-russia-11644140852).

Das neue Gefühl des Patriotismus und der Widerstandsfähigkeit in der ukrainischen Bevölkerung ist nicht weniger ermutigend. In einer Umfrage vom Februar 2022 (https://www.kiis.com.ua/?lang=eng&cat=reports&id=1099&page=1) meinten rund 57 Prozent der Ukrainer:innen, dass sie im Falle einer neuen russischen Invasion bewaffneten Widerstand leisten würden (Bemerkenswert sind hier die regionalen Unterschiede: Die Bereitschaft zum Widerstand liegt im Westen der Ukraine bei 72 Prozent und im Osten bei 30 Prozent). Die Ukraine hat ihre für die Territorialverteidigung bestimmten Streitkräfte, die ursprünglich eine eigene Truppengattung darstellten, so umstrukturiert, dass zwei Millionen Ukrainer:innen für den Schutz ihrer Häuser und der wichtigsten zivilen Infrastruktur rekrutiert werden können. In einer Umfrage vom Januar 2022 sagten 56 Prozent der Ukrainer:innen (https://uifuture.org/publications/chy-gotovi-ukrayinczi-do-velykoyi-vijny-rezultaty-socziologichnogo-doslidzhennya/), sie würden sich der neuen Truppe anschließen.

Diese Entwicklungen können gewiss die Moral stärken und für Optimismus sorgen. Bei näherer Betrachtung könnte das jetzt aber nicht ausreichen, um sich der russischen Aggression entgegenzustellen. Erstens ist das Verteidigungspotenzial zwar verbessert, hat aber gegen Russland wenig Chancen, nicht zuletzt wegen der Lücken in der ukrainischen Luftabwehr und bei den Fähigkeiten zur elektronischen Kampfführung. Zweitens haben die Streitkräfte der Ukraine (https://www.ukrmilitary.com/2021/02/utrymannya.html) gegenwärtig eine Personalstärke von ungefähr 250.000, was nur rund ein Viertel der im aktiven Dienst stehenden russischen Truppen ist, die Reservisten nicht mitgerechnet. Die ukrainischen Streitkräfte dürften es schwer haben, einer Invasion auf dem Boden standzuhalten. Die ukrainische Widerstandsbewegung mag zwar inspirierend sein, könnte aber gegen wohlbewaffnete konventionelle russische Kräfte, die für eine schnelle Invasion und eine längere Besetzung bereitstehen, weniger hilfreich sein.

Hinzu kommt, wie Dara Massicot, eine leitende Politikwissenschaftlerin von der RAND Corporation anmerkte, dass die russische Strategie (https://www.defenseone.com/ideas/2022/01/ukraine-needs-help-surviving-airstrikes-not-just-killing-tanks/360898/) eine »kurze und intensive ›Initialphase des Kampfes‹ [betont], die entscheidende Wirkungen erzielen könnte, bevor die Bodenstreitkräfte voll im Einsatz sind«. Und schließlich bedeutete der Umstand, dass es zwar eine Unterstützung durch den Westen gibt, aber auch Risse zwischen den europäischen Nationen zur Frage der Waffenlieferungen in die Ukraine und der Sanktionen gegen Russland bestehen, dass die Erwartungen hinsichtlich einer geschlossenen Front des Westens gedämpft wurden.

Selenskyjs Kriegsoptimismus könnte zwar teuer zu stehen kommen, das ist aber weit von den verheerenden Folgen entfernt, die Putins Kriegsoptimismus haben kann. Traditionell speist sich ein Großteil des übersteigerten Selbstbewusstseins der russischen Führung aus der militärischen Stärke des Landes, insbesondere seit der jüngsten Modernisierung (https://www.iiss.org/blogs/analysis/2020/09/rmm-introduction) der Streitkräfte. Russland ist zudem in der Lage gewesen, seine Wirtschaft gegen Sanktionen zu wappnen (https://www.wsj.com/articles/russias-attempts-to-sanction-proof-its-economy-have-exposed-a-weak-spot-11643193911), nämlich durch eine konservative Haushaltspolitik, zu der eine Loslösung vom US-Dollar gehört wie auch eine Reduzierung des Anteils seiner Schulden, der von ausländischen Investoren gehalten wird. Darüber hinaus glaubt der Kreml optimistischer weise, dass die Europäer eine rationale Entscheidung zugunsten stabiler und erschwinglicher Energielieferungen aus Russland treffen und dabei einigen geopolitischen Forderungen entgegenkommen würden (etwa durch eine Blockierung einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine).

Das überzogene Selbstbewusstsein des Kreml weist aber auch einige blinde Flecken auf. Die größeren und technologisch fortschrittlicheren russischen Streitkräfte können zwar die Armee der Ukraine bezwingen und relativ schnell große Teile des ukrainischen Territoriums erobern, wobei möglicherweise ein Regimewechsel in Kijiw das Ziel wäre. Doch schätzen Experten (https://www.wsj.com/articles/russian-buildup-near-ukraine-features-potent-weapons-systems-well-trained-troops-11644789065), dass mit der Zeit ein personalintensiver Kampf in den Städten für den Kreml eine echte Herausforderung bedeuten würde. Hinzu kommt, dass die Russen zwar die Kapazitäten haben, um die ukrainischen Widerstandsbewegungen zu besiegen, doch könnten sie unterschätzen, wie stark der unumkehrbare Wandel ist, den die ukrainische Gesellschaft aufgrund ihrer prowestlichen Bestrebungen durchlaufen hat. Bei einer Umfrage vom Februar 2022 (https://ratinggroup.ua/ru/research/ukraine/dinamika_vneshnepoliticheskih_orientaciy_16-17_fevralya_2022.html) sagte eine Mehrheit der Ukrainer:innen, dass sie für einen Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union und zur NATO sind (68 bzw. 62 Prozent). Mehrere Studien (https://www.laender-analysen.de/ukraine-analysen/260/einstellungen-junger-ukrainer-innen-zur-sowjetischen-vergangenheit/) haben darüber hinaus gezeigt, dass die meisten Ukrainer:innen ihre sowjetische Vergangenheit und deren Erbe eher kritisch betrachten – im Unterschied zur Haltung in Russland. (https://www.kiis.com.ua/?lang=ukr&cat=reports&id=872&page=6) Anders gesagt: Präsident Putin dürfte nicht das Publikum vorfinden, von dem er glaubt, es im Sturm erobern zu können und auf das er im Sinne eines nachhaltigen prorussischen Regimes zählt. Zusätzlich würde ein Wiederaufbau nach einem Krieg eine enorme Belastung für den russischen Haushalt bedeuten, insbesondere mit Blick auf die angekündigten heftigen Sanktionen.

Es stimmt zwar, dass die westlichen Sanktionen bislang keinen Erfolg hatten, den Kreml zu einer Beendigung der Aggression gegen die Ukraine zu bewegen und eine weitere Eskalation abzuwenden, doch die zusätzlichen Strafsanktionen (https://www.nytimes.com/2022/01/29/us/politics/russia-sanctions-economy.html) gegen Russland, die die USA und ihre europäischen Partner angedroht haben, könnten die russische Wirtschaft lähmen und für die Milliardäre und Regierungsbeamten wie auch für die gewöhnlichen Bürger:innen des Landes schmerzhaft werden.

Angesichts der vielen blinden Flecken im Kriegsoptimismus wäre es hilfreich, dass Selenskyj und Putin, wie auch andere politische Führer zumindest eine Pause einlegen, dass sie die eigenen Illusionen sowie die der anderen Akteure erkennen und dass sie versuchen, die Wirkungen dieser Illusionen dadurch abzumildern, dass alternative Informationsquellen und Interpretationen zu Rate gezogen werden. Die Führungen sollten zudem gewährleisten, dass die Menschen in ihrer Umgebung nicht nur kein Problem damit haben, schlechte Nachrichten zu vermelden, sondern auch, dass die Anreize für eine korrekte tatsachenbasierte Berichterstattung stärker sind als die für eine strukturelle »Schweigekultur« (https://warontherocks.com/2019/01/self-deception-and-the-conspiracy-of-optimism/) in der Organisation.

Während die hektischen diplomatischen Bemühungen zwischen westlichen Führern, Moskau und Kijiw weitergehen, sollten alle beteiligten Seiten sehr ernsthaft die Gründe für ihren Optimismus hinterfragen, nämlich den Optimismus, dass weitere Gewalt tatsächlich etwas daran ändern wird, dass politische Verhandlungen und Zugeständnisse unausweichlich sind.

Stand: 16. Februar 2022

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

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