Ansprache des Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, im Deutschen Bundestag

Zusammenfassung
Abschrift der Rede des Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, am 17.03.2022 im Deutschen Bundestag.

Sehr geehrte Frau Vorsitzende Göring-Eckardt,

sehr geehrter Herr Bundeskanzler Scholz,

sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

liebe Gäste, Anwesende, Journalistinnen und Journalisten,

sehr geehrtes deutsches Volk!

Ich wende mich an Sie nach drei Wochen der groß angelegten Invasion der russischen Truppen in die Ukraine. Nach acht Jahren des Krieges im Osten meines Landes, im Donbass.

Ich wende mich an Sie, während Russland unsere Städte bombardiert und dabei alles zerstört, was in der Ukraine existiert. Alles. Wohnhäuser, Krankenhäuser, Schulen, Kirchen. Alles. Mit Raketen, Fliegerbomben, Raketenartillerie.

In diesen drei Wochen sind sehr viele Ukrainer gestorben, Tausende. Die Besatzer haben 108 Kinder getötet. Mitten in Europa, bei uns, im Jahre 2022.

Ich wende mich an Sie nach zahlreichen Treffen, Verhandlungen, Erklärungen und Bitten, nach Schritten zur Unterstützung, welche… [Pause] zum Teil verspätet kamen. Nach Sanktionen, die offensichtlich nicht ausreichen, um diesen Krieg zu stoppen. Und nachdem wir gesehen haben, wie viele Verbindungen Ihre Unternehmen weiterhin mit Russland unterhalten – mit einem Staat, welcher Sie und noch manche anderen Staaten einfach benutzt, um den Krieg zu finanzieren.

In den drei Wochen des Krieges um unser Leben, um unsere Freiheit, konnten wir uns von dem überzeugen, was wir bereits früher spürten und was Sie sicherlich bislang noch nicht alle bemerken.

Aber Sie scheinen sich wieder hinter einer Mauer zu befinden. Ja, es ist nicht die Berliner Mauer, aber eine Mauer mitten in Europa, zwischen Freiheit und Unfreiheit. Und diese Mauer wird immer stärker, mit jeder Bombe, die auf unseren Boden, auf die Ukraine, fällt. Mit jeder Entscheidung, die nicht getroffen wird für den Frieden. Die nicht getroffen wird, obwohl sie helfen könnte.

Wann ist dies geschehen?

Sehr geehrte Politikerinnen und Politiker,

sehr geehrtes deutsches Volk!

Wie ist das möglich? Als wir Ihnen sagten, dass die Nord Stream-Leitungen Waffen sind und der Vorbereitung auf einen großen Krieg dienen, hörten wir die Antwort: »Es geht hier aber um die Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft«. Doch das war der Zement für eine neue Mauer.

Als wir Sie fragten, was die Ukraine tun muss, um NATO-Mitglied zu werden, in Sicherheit zu sein, Sicherheitsgarantien zu erhalten, hörten wir die Antwort: »Eine derartige Entscheidung liegt bislang nicht auf dem Tisch und es wird sie in nächster Zeit auch nicht geben.« Und es gibt auch keinen Platz für uns an diesem Tisch.

Genauso zögern Sie nun bei der Frage nach dem Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union. Offen gesagt: Für manche ist es Politik. Doch in Wahrheit sind es Steine. Steine für eine neue Mauer.

Als wir um präventive Sanktionen baten, wandten wir uns an Europa, wandten wir uns an viele Staaten, wandten wir uns an Sie. Sanktionen, die so ausgestaltet sind, dass der Aggressor spürt, dass Sie eine Kraft darstellen. Und wir sahen ein Hinauszögern. Wir verspürten einen Widerstand. Wir haben verstanden, dass Sie die »Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft« fortführen wollen.

Derzeit sind die Handelsbeziehungen zwischen Ihnen und dem Staat, welcher erneut einen brutalen Krieg nach Europa brachte, der Stacheldraht über der Mauer. Über der neuen Mauer, die Europa spaltet.

Und Sie sehen nicht, was sich hinter dieser Mauer befindet. Doch sie steht zwischen uns, zwischen den Menschen in Europa. Und dadurch verspüren nicht alle in vollem Maße, was gerade wir heute durchleben.

Ich wende mich an Sie im Namen aller Ukrainer. Sie sprachen gerade von Mariupol. Also wende ich mich an Sie im Namen der Bewohner von Mariupol, im Namen der friedlichen Bewohner der Stadt, welche die russischen Truppen eingekesselt haben und einfach dem Erdboden gleich machen. Einfach alles vernichten, was sich dort befindet. Alles und alle, die sich dort befinden. Hunderttausende Menschen befinden sich rund um die Uhr unter Beschuss. Ohne Nahrung, den ganzen Tag ohne Wasser, den ganzen Tag ohne Strom, den ganzen Tag ohne Telekommunikation. Wochenlang.

Die russischen Truppen unterscheiden nicht, wo Zivilpersonen sind und wo Soldaten sind, wo zivile Objekte sind. Sie halten alles für eine Zielscheibe.

Das Theater, in dem Hunderte Menschen Zuflucht fanden und das gestern zerstört wurde, eine Geburtsklinik, ein Kinderkrankenhaus, Wohnviertel ohne jegliche militärische Objekte – sie zerstören alles. Rund um die Uhr. Und sie lassen keine einzige humanitäre Lieferung in unsere blockierte Stadt durch. Seit fünf Tagen stellen die russischen Truppen den Beschuss nicht ein, absichtlich, um die Rettung unserer Menschen nicht zuzulassen.

Sie könnten all das sehen, wenn Sie sich über diese Mauer erheben würden.

Wenn Sie sich daran erinnern, was für Sie die Berliner Luftbrücke bedeutete, die umgesetzt werden konnte, weil der Himmel sicher war. Sie wurden nicht vom Himmel aus getötet, so wie es jetzt in unserem Land geschieht, wo wir nicht einmal eine Luftbrücke umsetzen können! Wenn vom Himmel nur russische Raketen und Fliegerbomben kommen.

Ich wende mich an Sie im Namen der älteren Ukrainer, der vielen, die den Zweiten Weltkrieg überlebt haben, die sich während der Besatzung vor 80 Jahren retten konnten. Derjenigen, die Babyn Jar überlebt haben.

Babyn Jar, wohin Präsident Steinmeier im vergangenen Jahr reiste. Ich war ihm sehr dankbar. Er kam zum 80. Jahrestag der Tragödie. Dort schlugen nun russische Raketen ein. Gerade an diesem Ort. Sie töteten eine Familie, die auf dem Weg nach Babyn Jar war, um das Denkmal zu besuchen. Sie töteten erneut – nach 80 Jahren.

Ich wende mich an Sie im Namen aller, die hörten, wie Politiker jedes Jahr beteuern: »Nie wieder!« Und die gesehen haben, dass diese Worte nichts wert sind. Denn erneut versucht man in Europa, ein ganzes Volk zu vernichten. Alles zu vernichten, dank dem wir leben. Und wofür wir leben.

Ich wende mich an Sie im Namen unserer Soldaten, derjenigen, die unser Land verteidigen, und dementsprechend auch die Werte, von denen häufig gesprochen wird – überall in Europa, auch bei Ihnen.

Freiheit und Gleichheit. Die Möglichkeit, frei zu leben. Ohne sich einem fremden Staat zu unterwerfen, welcher fremden Boden für seinen eigenen »Lebensraum« hält. Warum verteidigen sie all das ohne Ihre Führungsstärke? Ohne Ihre Kraft? Warum stellte sich heraus, dass Staaten in Übersee uns näher sind als Sie?

Weil es eine Mauer gibt. Eine Mauer, die manche nicht bemerken. Doch es ist eine Mauer, gegen die wir rennen. Während wir kämpfen, um unser Volk zu erhalten.

Sehr geehrte Damen und Herren!

Sehr geehrtes deutsches Volk!

Mein Dank gilt allen, die uns unterstützen. Ich danke Ihnen. Den einfachen Deutschen, die von ganzem Herzen Ukrainern in Ihrem Land helfen. Journalistinnen und Journalisten, die ehrlich ihre Arbeit verrichten und all das Böse zeigen, das Russland über uns gebracht hat. Ich danke denjenigen deutschen Unternehmen, die Moral und Menschlichkeit über die Buchhaltung stellten. Über die »Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft«.

Und ich danke den Politikern, die sich dennoch bemühen. Die sich bemühen, diese Mauer zu durchbrechen. Die sich zwischen russischem Geld und dem Tod ukrainischer Kinder für das Leben entscheiden. Die eine Verschärfung der Sanktionen gegen Russland unterstützen. Eine Verschärfung, die uns Frieden garantierten könnte. Frieden für die Ukraine. Frieden für Europa. Die nicht zögern bei der Frage, ob Russland aus SWIFT ausgeschlossen werden soll.

Die wissen, dass ein Handelsembargo gegen Russland nötig ist. Gegen die Einfuhr von dort von allem, was diesen Krieg finanziert. Die wissen, dass die Ukraine Teil der EU sein wird. Denn die Ukraine ist bereits europäischer als viele andere.

Ich danke allen, die sich über jegliche Mauern erheben. Und denjenigen, die wissen, dass auf den Stärkeren auch mehr Verantwortung lastet, wenn es um die Rettung von Menschen geht.

Es ist schwer für uns, ohne die Hilfe der Welt zu bestehen. Ohne Ihre Hilfe. Es ist schwer, die Ukraine zu verteidigen, Europa zu verteidigen. Ohne das, was Sie tun können. Was Sie tun können, um nicht auch nach diesem Krieg beschämt zurückzublicken … Nachdem Charkiw zerstört wurde. Zum zweiten Mal, nach 80 Jahren. Nachdem Tschernihiw, Sumy und der Donbass zerbombt wurden. Zum zweiten Mal, nach 80 Jahren. Nachdem Tausende von Menschen gefoltert und getötet wurden. Zum zweiten Mal, nach 80 Jahren. Denn was bedeutet sonst die historische Verantwortung für das, was vor 80 Jahren geschah, was bis heute gegenüber dem ukrainischen Volk nicht gesühnt wurde?

Und jetzt, damit keine neue entsteht – hinter einer neuen Mauer – und die wieder gesühnt werden müsste.

Ich wende mich an Sie und erinnere daran, was nötig ist und ohne was Europa nicht überleben und seine Werte nicht bewahren kann.

Der ehemalige Schauspieler und Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Ronald Reagan, sagte einmal in Berlin: »Tear down this wall!« [»Reißen Sie diese Mauer nieder!«]

Nun möchte ich Ihnen sagen:

Herr Bundeskanzler Scholz! Reißen Sie diese Mauer nieder!

Geben Sie Deutschland die Führung, die es verdient, und auf die Ihre Nachfahren nur stolz sein können.

Unterstützen Sie uns.

Unterstützen Sie den Frieden.

Unterstützen Sie jeden Ukrainer.

Stoppen Sie den Krieg!

Helfen Sie uns, ihn zu stoppen!

Slawa Ukrajini! [Es lebe die Ukraine!]


Quelle: Website des Deutschen Bundestags, 17.03.2022, https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw11-de-selenskyj-rede-deutsch-884872.

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