Etablierungsformen russischer Herrschaft in den besetzten Gebieten der Ukraine: Wege und Gesichter der Okkupation

Von Yana Lysenko (Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen)

Zusammenfassung
Russlands Besetzung ukrainischer Territorien ab 2014 lief in Wellen und unterschiedlich ab: Durch den Überraschungsmoment und die militärische Überlegenheit wurde die Krim rasch annektiert und integriert. Die selbsternannten »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk wurden jahrelang de facto vom Kreml kontrolliert, jedoch erst im Oktober 2022 de jure angegliedert. Bei den 2022 neu besetzten Gebiete wiederum zeigt sich eine dritte Variante. Der vorliegende Text beleuchtet die unterschiedlichen Etablierungsformen und -stadien der russischen Herrschaft in den besetzten ukrainischen Gebieten und diskutiert, was das für die Akzeptanz der Besatzungsregime bedeutet.

Krim

Die Besatzung der Krim unterscheidet sich von den anderen Okkupationsszenarien durch die Tatsache, dass die Besetzung durch Russland mittels einer Demonstration von militärischer Stärke, aber ohne großräumige Anwendung von Gewalt gelang. Durch die russische Übermacht kam es vielfach zum gewaltlosen Seitenwechsel ukrainischer Militärs. Daher war der komplette Rückzug der verbliebenen ukrainischen Truppen letztlich unvermeidlich. Zum Phänomen eines »Flaggenwechsels« kam es auch in den Strukturen der Verwaltung und des politischen Lebens auf der Krim. Im Unterschied zu den anderen annektierten ukrainischen Oblasten erlebte dieses Gebiet keine Übergangsphase bis zum Anschluss an Russland. Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim wurde im offiziellen russischen Narrativ als »Heimkehr« dargestellt und die Halbinsel wurde unverzüglich integriert.

Die Krim ist nicht nur das am längsten von Russland kontrollierte ukrainische Gebiet, sie weist auch die stärkste personelle Kontinuität unter den führenden Personen der Regierung auf. So ist seit der Besetzung der Region Sergei Aksjonow als »Oberhaupt der Republik Krim« im Amt. Als einer der ersten »Seitenwechsler« erhielt er im März 2014 die russische Staatsbürgerschaft. Aksjonow, dem Verbindungen zur organisierten Kriminalität nachgesagt werden, war vor der Krim-Annexion von 2008–2014 Vorsitzender der politisch marginalen Partei »Russische Einheit« und erhielt bei den ukrainischen Parlamentswahlen 2012 in seinem Wahlbezirk 9 Prozent der Stimmen. Direkt nach dem umstrittenen »Krim-Referendum« wurde er zum »Vorsitzenden des Ministerrates der Republik Krim« (nun als Subjekt der Russischen Föderation) ernannt. Im selben Jahr wurde er auch zum »Oberhaupt der Republik Krim gewählt« und hatte bis 2019 beide Ämter parallel inne, als Jurij Gotsanjuk zum »Vorsitzenden des Ministerrates der Republik Krim« ernannt wurde. Vor der Krim-Annexion war Gotsanjuk Verwaltungsbeamter und Leiter einer kleinen Bezirksverwaltung (Bezirk Nischnegorsk) auf der Krim.

Als Senatorin für die Krim im Föderationsrat, dem Oberhaus der Russischen Föderation, fungiert die in Simferopol geborene Olga Kowitidi. Vor der Krim-Annexion saß sie bereits für die »Partei der Regionen« im »Obersten Rat der Autonomen Republik Krim« und fungierte als Beraterin der Justizministerin der Ukraine. Im Februar 2014 wurde sie zur Stellvertreterin von Sergei Aksjonow ernannt und im April 2014 zur Vertreterin der Republik Krim im Föderationsrat der Russischen Föderation bestimmt. Ähnlich wie Aksjonow trat sie direkt 2014 der Partei »Einiges Russland« bei.

Die Motivation für diese Seitenwechsel unter den Spitzenbeamten auf der Krim kann sicher sowohl in der Furcht vor der Ersetzung durch loyale Personen im Falle der Nichtkollaboration aber auch in neuen Karriereperspektiven, die sich durch die Krim-Annexion anboten, gesehen werden. Es fällt auf, dass die erste Reihe der Regierungsbeamten immer noch von lokalen Kadern besetzt ist, die größtenteils schon seit 2014 für die Okkupationsmacht im Amt sind. Die meisten von ihnen, die zuvor bereits in der ukrainischen Politik eine Rolle spielten, waren Mitglieder von Wiktor Janukowytschs »Partei der Regionen«, was wenig überraschend ist.

Vier der sieben Stellvertreter des »Vorsitzenden des Ministerrates der Republik Krim« sind allerdings ehemalige russische Beamten, die vor ihrer Versetzung auf die Krim im Staatsdienst Russlands waren. In ihrem Fall ist eine Zusammensetzung aus Personen mit expliziter Militär- oder Verwaltungserfahrung zu beobachten. Es kann davon ausgegangen werden, dass diese Stellvertreter höchstwahrscheinlich nicht vom Vorsitzenden selbst ausgewählt, sondern vom Kreml entsandt wurden, um die Kontrolle über das politische Geschehen zu behalten. Da diese Stellvertreterpositionen sich außerhalb des öffentlichen Interesses befinden, ermöglicht dies eine nicht offensichtliche, aber effektive Kontrolle des politischen Apparates durch den Kreml.

Von den insgesamt 21 Ministerposten in der besetzten Republik Krim sind aktuell vier von ehemaligen russischen Verwaltungsbeamten besetzt: der Minister für Wohnungspolitik und staatliche Bauaufsicht (seit 2022), der Minister für Bau und Architektur (seit 2021), die Ministerin für Sport (seit 2019) und vorübergehend auch der stellvertretende Minister für Verkehr (seit 2022). Die restlichen 17 Ministerinnen und Minister kommen von der Halbinsel.

Die Besetzung der Ministerposten durch lokale Verwaltungsbeamte hat für die Okkupationsmacht sowohl nach innen, als auch nach außen deutliche Vorteile. So konnte eine kontinuierliche Verwaltungstätigkeit nach der Krim-Annexion gewährleistet werden, da die Beamten nur die Flagge wechselten und die Funktionsweise der Regionalverwaltungen dadurch sicherten, dass sie de facto ihren Berufsalltag fortsetzten. Die Okkupationsmacht vermied dadurch die komplette Neuaufstellung öffentlicher Strukturen, sondern »russifizierte« lediglich die ukrainischen Verwaltungen. In der öffentlichen Darstellung wies diese Strategie ebenso einen positiven Effekt auf. Im Unterschied zu den offensichtlichen Machtkämpfen und dem Verwaltungschaos in den »Volksrepubliken« wurde im Falle der Krim der Anschein von Stabilität und Kontinuität gewahrt, wodurch die Akzeptanz der neuen Machthaber durch die lokale Bevölkerung erhöht wurde. Auch die regionale Symbolik der Krim wurde kaum verändert und außer der nun sichtbaren russischen Flagge und der Umstellung auf die russische Währung blieb das Gesamtbild der Krim weitgehend unberührt.

Ehemalige »Volksrepubliken«

Die Herausbildung neuer Herrschaftsstrukturen in den selbst proklamierten »Volksrepubliken« verlief anders als auf der Krim. Nach der Eskalation des Konflikts im Donbas 2014 standen zunächst Freischärler und Militärkommandanten wie der russische Geheimdienstoberst Igor Girkin alias »Strelkow« im Vordergrund des politischen Geschehens und dominierten gegenüber den selbst ernannten Regierungskadern. Diese erste chaotische Phase war gekennzeichnet durch oftmals gewaltsam ausgetragene Machtkämpfe unter den »Separatisten«.

Nach der Durchführung von »Wahlen« in der »DNR« und der »LNR« am 2.11.2014 stabilisierte sich die Lage in den »Volksrepubliken«. Mit Alexandr Sachartschenko in der »DNR« und Igor Plotnizki in der »LNR« kamen unterschiedlich geprägte Akteure an die Macht. Der aus Luhansk stammende Plotnizki war zuvor in der Ukraine als Beamter in der Regionalen Aufsichtsbehörde für Verbraucherschutz tätig gewesen. Der gebürtige Donezker Sachartschenko war ausgebildeter Elektriker im Bergbau und soll u. a. mit illegal geförderter Kohle gehandelt haben. Er starb 2018 nach einem ungeklärten Attentat. Russland, die Ukraine und auch Kreise aus der »DNR« selbst verfügten über nachvollziehbare Motive: für den Kreml war Sachartschenko zu selbständig und unbequem, für die Ukraine war er der Anführer der »Separatisten« und Kollaborateur mit Russland und in der »DNR« hatte seine Ermordung politische wie geschäftliche Nutznießer. Sein Nachfolger wurde Denis Puschilin aus der Region Donezk, der als Finanzspekulant mithilfe eines betrügerischen »Schneeball-System« zahllose Kleinanleger um ihre Ersparnisse gebracht hatte und 2014 eine Schlüsselfigur bei der Selbstproklamierung der »Volksrepublik Donezk« war. Die Politik Puschilins zeichnet sich durch einen stärkeren Einfluss aus Moskau aus und er gilt als gut nach Russland vernetzt.

Auch auf Igor Plotnizki wurde ein Attentat verübt (2016), das dieser jedoch überlebte. Nach internen Machtkämpfen im Apparat der »LNR« floh er nach Russland und wurde durch den ehemaligen SBU-Offizier Leonid Passetschnik aus Luhansk ersetzt. Passetschnik war bereits seit seinem »Seitenwechsel« von 2014 bis 2017 als »Minister für Staatssicherheit der Volksrepublik Luhansk« tätig.

Puschilin und Passetschnik agierten bis zum 4. Oktober 2022 als Oberhäupter der »Volksrepubliken« und standen für einen klaren politischen Kurs, der eine Integration in die russische Föderation zum Ziel hatte. Ihr politischer Kurs gipfelte im »Antrag« auf Aufnahme ins russische Staatsgebiet. Beide waren bereits 2021 der Partei »Einiges Russland« beigetreten und führten die von ihnen kontrollierten Gebiete bis zur vollständigen Angliederung an Russland am 5.10.2022. Seitdem firmieren sie in ihren Amtsbezeichnungen als »vorläufige Oberhäupter« ihrer Regionen, bis im September 2023 auf deren Territorien Wahlen durchgeführt werden sollen. Bereits seit Dezember 2022 fungiert der ehemalige Premierminister der »Volksrepublik Donezk« Alexandr Anantschenko als neu ernannter Senator für das Donezker Gebiet im Föderationsrat Russlands.

Ab Sommer 2022 kam es in beiden Territorien zu einem umfangreichen Personalwechsel in der »zweiten Reihe« des Machtapparats. An dieser Stelle lässt sich die bereits bewährte Strategie des Kremls beobachten, nach der gut bekannte »Gesichter« nominell im Amt bleiben, um ein Gefühl der Stabilität nach außen zu suggerieren, während die zweite Reihe mit Gewährsleuten Russlands besetzt wird.

Dies lässt sich etwa an der Zusammensetzung der neuen Regierung der »Volksrepublik Donezk« zeigen, deren Ministerpräsident seit dem 8. Juni 2022 Witali Chozenko ist. Der in Dnipropetrowsk geborene und in Donezk bis dahin völlig unbekannte Chozenko wuchs in Russland auf und studierte auch dort. Seine Biografie weist eine solide Karriere in der öffentlichen Verwaltung Russlands auf, er wurde 2013 zum Verantwortlichen für Energie, Industrie und Kommunikation im Gebiet Stawropol ernannt. Zugleich ist er Absolvent der Kaderschmiede »Schule der Gouverneure« und war Finalist des Elite-Wettbewerbes »Führer Russlands«. Als erster stellvertretender Ministerpräsident seiner Regierung amtiert Rustam Mingazow – ein enger Vertrauter Chozenkos aus seiner Zeit im russischen Energiesektor.

Seit Sommer 2022 wurden in der »DNR« unter den stellvertretenden Ministerpräsidenten, den Ministern und ihren Stellvertretern 22 Positionen neu besetzt. Ihre Ämter behielten lediglich eine der stellvertretenden Ministerpräsidentinnen (Tatjana Perewersewa) und drei Minister, die ihre Ämter bereits 2014–2015 übernahmen: der Minister für Inneres Aleksej Dikij, der Minister für Staatssicherheit Wladimir Pawlenko und der Minister für Zivilschutz, Notfälle und Katastrophenmanagement Aleksej Kostrubizkij. Die Biographien der neu ernannten Regierungsmitglieder sind weitgehend unbekannt, vielfach existiert nicht einmal Bildmaterial von ihnen.

Signifikant stellte sich der Personalwechsel auch in der »LNR« da. Hier wurde im Juni 2022 mit dem russischen Manager und bisherigen Vizegouverneur der russischen Region Kurgan Wladislaw Kusnezow ein neuer Stellvertreter für den seit 2015 amtierenden Ministerpräsidenten Sergej Koslow installiert. Auf der Ebene der stellvertretenden Ministerpräsidenten, der Minister und ihrer Stellvertreter wurden seit Sommer 2022 weitere sieben Positionen mit russischen Kadern neu besetzt, deren Biographien weitgehend unbekannt sind. So weiß man über den neuen Minister für Bau, Wohnungsbau und kommunale Dienste Igor Scharkow lediglich, dass er von 1992–1996 in den russischen Streitkräften diente. Zum Minister für Landwirtschaft wurde Jewgenij Sorokin ernannt, der zuvor die Abteilung für Landwirtschaft und Verbraucherschutz der Region Jaroslawl in Russland leitete. Der aus Perm stammende und langjährig als Manager in russischen Staatskonzernen tätige Konstantin Sawisenow wurde zum Minister für Brennstoff-, Energie- und Kohleindustrie ernannt.

Diese Veränderungen deuten auf eine angestrebte Professionalisierung im Regierungsapparat der bisherigen »Volksrepubliken« hin sowie auf eine stärkere Kontrolle der Machtstrukturen durch russische Führungskräfte.

Besetzte Oblaste Cherson und Saporischschja

Die Etablierung russischer Herrschaft in den seit 2022 besetzten Teilen der Oblaste Cherson und Saporischschja, die Russland nach den Scheinreferenden im September und der anschließenden Annexion am 5.10.2022 als eigenes Staatsgebiet ansieht, folgt in ihren Etablierungsformen eher dem Muster der »Volksrepubliken« als dem der Krim.

Auffallend ist vor allem der Versuch, nach außen eine funktionierende und legitimierte Staatlichkeit zu suggerieren. Ein Blick auf die »offiziellen« russischen Internetseiten beider Regionen erweckt den Eindruck, dass sich beide Oblaste in vollem Umfang unter der Kontrolle Russlands befinden. Dabei wurden im Falle der Oblast Cherson zwei der fünf Bezirke (Berislaw und Cherson, inklusive der Gebietshauptstadt Cherson) von der ukrainischen Armee befreit und befinden sich seit dem 11.11.2022 wieder unter ukrainischer Kontrolle. Und was die Region Saporischschja anbelangt, kontrolliert Russland auch dort nur den Süden ohne die Hauptstadt Saporischschja, die größte und wirtschaftlich wichtigste Stadt der Region.

Im Zuge der Okkupation wurden in allen 2022 von Russland neu besetzten Gebieten militärisch-zivile Verwaltungen errichtet, die die vorübergehende Verwaltung dieser Gebiete bis zu den Wahlen im September 2023 gewährleisten sollen. So entstand am 12. März 2022 die militärzivile Verwaltung der Oblast Saporoschje (Anm. d. Red.: in diesem Beitrag wird für das ukrainische Gebiert die Schreibweise »Saporischschja« und für den russisch kontrollierten Bereich die Schreibweise »Saporoschje« benutzt) und am 26. April 2022 analog dazu die militärzivile Verwaltung der Oblast Cherson.

Am 27.04.2022 wurde Wladimir Saldo (von 2002 bis 2012 Bürgermeister der Stadt Cherson) zum Verwaltungschef der Okkupationsverwaltung ernannt. Im Gebäude des Stadtrats Cherson, das im März von russischen Truppen besetzt wurde, rief er das »Rettungskomitee für Frieden und Ordnung« aus und wurde zum Verwaltungschef bestimmt, obwohl er einige Tage davor noch öffentlich gegen die Abspaltung der Oblast von der Ukraine auftrat. In der Folge unterstützte er die Durchführung der so genannten »Referenden über den Beitritt zu Russland«. Nachdem Russland die Oblast Cherson zum eigenen Staatsgebiet erklärt hatte, wurde Wladimir Saldo – wie die Oberhäupter der beiden »Volksrepubliken« – zum »vorläufigen Oberhaupt« der Oblast Cherson ernannt und agiert seit dem 5. Oktober 2022 in dieser Funktion.

Zwei der drei Stellvertreter von Saldo sind ehemalige ukrainische Abgeordnete und Beamte mit nachvollziehbaren Biografien, die dritte Personalie ist weitgehend unbekannt. Witalij Buljuk (ehemaliger Abgeordneter und Vorsitzender des Regionalrats von Cherson von 2015 bis zur russischen Invasion 2022) galt als überraschende Besetzung, da er sich bis zu seiner Ernennung öffentlich proukrainisch zeigte. Der zweite Stellvertreter, Sergej Tscherewko, kommt ursprünglich aus Cherson, wo er von 1998 bis 2017 in der Stadtverwaltung arbeitete und bereits Stellvertreter von Saldo war, als dieser Bürgermeister von Cherson war. 2019 kandidierte er erfolglos für die prorussische Oppositionspartei »Oppositionsplattform – Für das Leben« für die Werchowna Rada. 2020 versuchte er über die Liste »Block Wladimir Saldo« in den Stadtrat von Cherson zu gelangen, wurde aber auch hier nicht gewählt.

Aslan Arsanukajew, der als einziger Stellvertreter ohne Foto auf der Webseite erscheint, kommt angeblich aus Tschetschenien. Seine Biografie wird nicht kommuniziert. Vor der russischen Invasion spielte er keinerlei Rolle im politischen Leben der Ukraine oder Russlands und war laut Recherchen russischer Investigativjournalisten »Stellvertreter für Sicherheit und Interaktion mit Strafverfolgungsbehörden« am »Russischen Zentralforschungsinstitut für Maschinenbau« (Teil von »Roskosmos«) und in ähnlicher Position bei »Kubanelectro«.

In Saporoschje wurde Jewgenij Balizkij zum Verwaltungschef der Okkupationsverwaltung ernannt. Er war von 2010–2014 Abgeordneter des Regionalrats von Saporischschja für die »Partei der Regionen« und später Abgeordneter der Werchowna Rada (2014–2019) und des Regionalrats von Saporischschja (2020–2022) für die »Oppositionsplattform – Für das Leben«. Neben mehreren Unternehmen und Fabriken in der Region gehört seiner Familie auch der größte TV-Sender der besetzten Stadt Melitopol. Seit Juli 2022 besitzt Balizkij einen russischen Pass und firmiert seit September 2022 als Mitglied der Partei »Einiges Russland«. Er unterstützte die Durchführung der Scheinreferenden und die Annexion der Oblast Saporischschja durch Russland. Wie die anderen Statthalter Russlands wurde er für die Zeit bis zum September 2023 als »vorläufiges Oberhaupt« der Region bestimmt.

Zu den beiden Stellvertretern von Balizkij sind auf der offiziellen Internetseite außer ihren Namen keine weiteren Angaben oder Fotos zu finden. Einer von ihnen ist Dmitrij Ryschkow, dessen Herkunft und Identität im Unklaren bleibt. Ähnlich ist der Fall des zweiten Stellvertreters Michail Grizaj gelagert, zu dem man ebenfalls keine öffentlichen biografischen Angaben findet. In beiden Fällen lassen sich Verbindungen zu den russischen Geheimdiensten nicht ausschließen.

In den besetzten Teilen der Oblaste Cherson und Saporischschja lässt sich die Tendenz beobachten, dass als Bürgermeister der Städte und Orte hauptsächlich einheimische Ukrainer bestimmt wurden. Bekannt wurden mehrere Versuche, ukrainische Regierungs- und Verwaltungsbeamte zur Kollaboration zu bringen. Diese Versuche scheiterten aber in den meisten Fällen. Aktuell sind in den seit 2022 besetzten Gebieten nur vereinzelte Seitenwechsel von Bürgermeistern bekannt (Wolodymyr Antonenko – Bürgermeister von Kamenka-Dniprowske, Wolodymyr Bandura – Bürgermeister von Swjatohirsk und Sergej Hortiw – Bürgermeister von Rubeschnoje).

Das aus den »Volksrepubliken« bekannte Muster, jenseits der »Oberhäupter« der Oblaste die Leitungspositionen durch russische Beamte zu besetzten, zeigt sich auch hier. So wurde der russische Staatsbürger Sergej Jelessejew, ein ehemaliger FSB-Offizier mit Erfahrung im öffentlichen Dienst in Wologda und in Kaliningrad, 2022 zum »Regierungsvorsitzenden« der besetzten Oblast Cherson ernannt. Identisch wurde auch in Saporoschje vorgegangen, in welcher als »Regierungsvorsitzende« der russische Staatsbürger Anton Kolzow bestimmt wurde, der davor genau wie Jelessejew im öffentlichen Dienst in Wologda tätig war und 2017 dort sogar zum Regierungsvorsitzenden wurde.

Die Struktur und Außendarstellung der »Verwaltungsapparate« in den beiden besetzen Gebieten zeichnet sich durch höchste Intransparenz und einen offensichtlichen Mangel an Organisation aus. Während die »offizielle« russische Internetseite der Oblast Saporoschje neben den Namen ihres Oberhauptes und denen seiner Stellvertreter auch einen Überblick über die Ministerien und ihre Zuständigkeiten bietet, fehlen diese Informationen im Falle von Cherson komplett. Doch selbst im Fall von Saporoschje verfügt jedes der angegebenen Ministerien zwar über eine eigene Webseite, doch werden bei nur 6 von 13 Ministerien überhaupt die Namen der zuständigen Minister genannt. Was die restlichen Ministerien anbelangt finden sich lediglich allgemeine Verwaltungsorganigramme oder gar keine Informationen.

Die Regierungsstrukturen der russischen Okkupationsmacht in den beiden besetzten Oblasten simulieren lediglich eine stabile staatliche Ordnung, die tatsächliche Situation ist alles andere als stabil. Es ist nicht davon auszugehen, dass angesichts der militärisch angespannten Lage in den Gebieten außer den nominellen Oberhäuptern (Saldo und Balizkij) andere Mitglieder des »Regierungsapparats« von der lokalen Bevölkerung überhaupt wahrgenommen, geschweige denn erkannt werden. Daher wurden die beiden »Oberhäupter« zunächst nicht durch Verwaltungspersonal aus Russland ersetzt, um ein Gefühl des Vertrauens und der politischen Stabilität unter der Bevölkerung zu erzeugen. Der Einsatz »vertrauter Gesichter« eignet sich gut als Strategie, in deren Rahmen die installierten lokalen Führungskader tatsächlich nicht unbedingt die Entscheidungsfreiheit besitzen müssen, die ihnen laut ihren Ämtern eigentlich zusteht. Es steht vielmehr zu vermuten, dass sich die faktische Macht auch in der nominellen »zweiten Reihe« konzentrieren kann.

Resümee

Seit 2014 lassen sich verschiedene Modelle der Etablierung russischer Herrschaft in besetzten ukrainischen Gebieten beobachten.

Das »Krim-Modell« zeigt die gewaltfreie und widerstandslose Übernahme eines Gebiets mit seinen funktionierenden Verwaltungsstrukturen, in denen lediglich die Flagge ausgetauscht wird und das Russland gegenüber loyale Personal des öffentlichen Dienstes die vollständige Integration ins russische Staatswesen anhand klarer Anweisungen aus dem Kreml durchführt.

Das »Volksrepubliken-Modell« beruht auf einer Umstimmung der lokalen Bevölkerung und auf einer verdeckten Kontrolle und Machtausübung durch »unbekannte Gesichter« aus der zweiten Reihe, die direkt vom Kreml entsandt werden, während die repräsentativen Funktionen von »vertrauten Gesichtern« ausgeübt werden. Die aktuellen Veränderungen in den Regierungsstrukturen ab Sommer 2022 zeugen davon, dass der Kreml sowohl die Kontrolle über das Geschehen auszubauen versucht, als auch eine Professionalisierung des Apparates anstrebt.

Das Vorgehen in den besetzten Oblasten Cherson und Saporoschje weist Ähnlichkeiten mit dem »Volksrepubliken-Modell« auf, da es sich ebenfalls auf die Strategie der Kombination aus »vertrauten und unbekannten Gesichtern« stützt. Die Tatsache, dass die Okkupationsverwaltungen beschränkten Zugriff auf die Verwaltungsakte und -gebäude und auf den größten Teil des Verwaltungspersonals in den regionalen Zentren Cherson und Saporischschja (beide unter ukrainischer Kontrolle) haben, führt zu einer Simulation von staatlicher Herrschaftsausübung. Die militärisch angespannte Lage in diesen Regionen bedingt zudem die Kommandogewalt der ausschließlich russischen Militärkommandanten, die de facto die Kontrolle über diese Gebiete ausüben. Die Einbindung von Kadern der russischen Geheimdienste liegt auf der Hand, lässt sich aber nur schwer verifizieren.

Die drei dargestellten Wege zur Etablierung russischer Herrschaft erzeugen unterschiedliche Akzeptanzgrade bei der lokalen Bevölkerung. Der höchste Akzeptanzgrad ist von der Okkupation nach dem »Krim«-Modell zu erwarten, da diese keine militärische Gewalterfahrung der lokalen Bevölkerung beinhaltet und eine scheinbare Kontinuität und Stabilität der lokalen Regierungsstrukturen suggeriert. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Okkupationsmacht die höchste Loyalität dann erreicht, wenn der Alltag der Bevölkerung möglichst keine spürbaren Veränderungen erlebt und ihre physische Sicherheit nicht bedroht wird.

Anders stellt sich die Lage in den Gebieten dar, in denen die Bevölkerung einer militärischen Bedrohung ausgesetzt war und ist. Trotz vieler Überschneidungen in den Entwicklungsmustern der seit 2022 besetzten Oblaste Cherson und Saporoschje mit den seit 2014 besetzten »Volksrepubliken« kann aber nicht von der gleichen Akzeptanz der Regierungsstrukturen durch die Bevölkerung ausgegangen werden.

Der entscheidende Unterschied ist der Blick der Bevölkerung auf die Opfer- und Aggressor-Rolle. Im Falle der »Volksrepubliken« änderte sich die negative Wahrnehmung der »Separatisten« als »Unruhestifter« zu einer eher positiven Sichtweise, als die Ukraine versuchte, mittels militärischer Gewalt das Gebiet zurück unter staatliche Kontrolle zu bringen. Es kam zu einer Umkehr der Opfer-Aggressor-Rolle und zu einer Solidarisierung mit den »angegriffenen« »Separatisten«, die als eine Art »Stockholm-Syndrom« bezeichnet werden kann.

In den Oblasten Cherson und Saporischschja ist das Aggressor-Opfer-Verhältnis durch den direkten militärischen Überfall Russlands hingegen klar definiert. Die Gräueltaten in den von der Ukraine befreiten Gebieten (z. B. Butscha, Isjum) machen zudem klar, dass eine Besatzung durch Russland nicht gewaltfrei abläuft. Das direkte Erleben einer kriegerischen Auseinandersetzung und des russischen Repressionsapparats lassen nicht erwarten, dass die Bevölkerung mehr als eine unter Gewaltandrohung vorgetäuschte Loyalität zu den russischen Besatzern entwickelt. Einzig eine jahrelang andauernde kriegerische Auseinandersetzung mit starker Kriegsmüdigkeit könnte zu einer Resignation führen, in der es als Ausweg erscheint, sich der russischen Herrschaft zu unterwerfen, um den Krieg zu beenden.

Lesetipps / Bibliographie

Zum Weiterlesen

Dokumentation

War and Annexation. The “People’s Republics” of eastern Ukraine in 2022. Annual Report (Ausschnitt)

Die Website civicmonitoring.org beobachtet seit Jahren die Entwicklungen in den von Russland kontrollierten und 2022 annektierten »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk und bringt neben kürzeren Newslettern auch umfangreiche Jahresberichte heraus. Im Folgenden der Ausschnitt über die Lage der Menschenrechte in den »Volksrepubliken« aus dem im März 2023 erschienenen Jahresbericht 2022.
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