Die politikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Ukraine war eine Herausforderung, da rechtfertigt werden musste, warum die Ukraine als Fallbeispiel bei der Überprüfung etablierter theoretischer Paradigmen geeignet war und das Potenzial besaß – entweder als Einzelfall oder im Vergleich mit anderen Fallbeispielen – das allgemeine theoretische Wissen zu bereichern. Die größte Sorge der Sozialwissenschaftler:innen, die sich mit der Ukraine auseinandersetzen wollten, bestand darin, der Kritik zu begegnen, die üblicherweise an den Regionalstudien geäußert wird: sie produzierten zu spezifisches und weniger verallgemeinerbares (sprich: weniger wertvolles) Wissen und seien deskriptiv und nicht methodologisch. Ihre Hauptgegner waren die so genannten Westsplainer, die Kenntnisse über den regionalen, nationalen und lokalen Kontext als nebensächlich und vernachlässigbar erachteten, um die Funktionsweise von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, einschließlich der der Ukraine, zu verstehen. Als Reaktion darauf lernten die Ukraine-Expert:innen, ihre profunden Landeskenntnisse mit theoretischer und methodischer Exzellenz in der Forschungspraxis zu kombinieren. So entwickelte sich die Länderexpertise zur Grundlage für eine hohe Forschungsqualität, die eine nuancierte Untersuchung politischer, wirtschaftlicher und sozialer (Un-)Gesetzmäßigkeiten ermöglicht. Im Unterschied zur »traditionellen« Ukrainistik, die in der Regel die Besonderheiten der ukrainischen Sprache, Kultur und Geschichte herausstellten, bemühte sich die politikwissenschaftliche Ukraine-Forschung darum, den »typischen« Charakter der Ukraine und seine Vergleichbarkeit mit anderen Staaten hervorzuheben.
Jetzt, wo die Ukraine von Russland angegriffen wird, hat sie nun die Chance, von einem Fall für die Theorieprüfung zu einem Fall für die Theoriebildung zu werden. Vor der russischen Invasion war die politikwissenschaftliche Erforschung der Ukraine hauptsächlich in die theoretischen Paradigmen der Transformations- und Demokratisierungsforschung eingebettet. Gelegentlich wurde das Land auch aus der Perspektive der (kompetitiven) Autokratieforschung betrachtet. Die Forschungsfragen konzentrierten sich auf die transformative Wirkung externer Akteure (z. B. Europäische Union, NATO) und deren Einfluss auf die demokratischen Prozesse in der Ukraine. Lokale Akteur:innen hingegen wurden aus kausalen Zusammenhängen ausgeklammert und lediglich als kontextuelle Bedingungen dargestellt. Der Mehrwert des Fallbeispiels Ukraine für die beiden theoretischen Paradigmen der Demokratisierungs- und Autokratieforschung war umstritten. Die transformative Kraft der westlichen Demokratieförderer war begrenzt und so landete das Land in der Grauzone hybrider Regime zwischen Demokratie und Autokratie. Auch die Aussagekraft autokratischer Ansätze griff zu kurz, da die Versuche zur autokratischen Machtkonsolidierung in der Ukraine scheiterten und ihr politisches Regime den »defekten« Demokratien zugeordnet wurde, in denen der politische Pluralismus nicht durch funktionierende demokratische Institutionen gewährleistet wurde, sondern durch den Wettbewerb rivalisierender Elitengruppen. Nach diesen theoretischen Paradigmen wären die politischen und staatlichen Institutionen der Ukraine zu schwach gewesen, um der russischen Aggression zu begegnen. Die ukrainische Realität zeigt jedoch: Sie lagen beide falsch.
Die Widerstandsfähigkeit der Ukraine ist das Ergebnis kollaborativer und (selbst-)koordinierter Bemühungen von Gesellschaft, Wirtschaft und staatlichen Akteuren auf nationaler und lokaler Ebene (vgl. dazu die kommende Ausgabe der Ukraine-Analysen 287, Anm. d. Red.). Die Erklärung dieses Rätsels hat das Potenzial, eine neue Theorie der demokratischen und kollaborativen Resilienz zu entwickeln, die sowohl für sich demokratisierende Regime als auch für fortgeschrittene Demokratien relevant wäre. Darüber hinaus versprechen die Migrationsströme und damit verbunden der Aufbau neuer Gemeinschaften in der Ukraine und im Ausland, der moderne zwischenstaatliche Krieg mit seiner hybriden Kriegsführung und andere Themen neue Impulse für die gegenwärtigen theoretischen und konzeptionellen Diskussionen in den Politikwissenschaften zu liefern und darüber hinaus den Boden für interdisziplinäre akademische Zusammenarbeit zu bereiten. Um dem vergleichenden Charakter der Politikwissenschaft gerecht zu werden, wird die Ukraine schließlich nach einer neuen »Familie« von Fällen suchen, mit denen sie verglichen werden kann. Geflüchtete ukrainische Wissenschaftler:innen, die an westlichen Universitäten untergebracht sind, können die Erweiterung ihrer akademischen Netzwerke vorantreiben und neue Forschungskooperationen mit der traditionellen »Ukrainistik« sowie mit Forschenden aus anderen Teilbereichen/Disziplinen und mit unterschiedlicher regionaler Expertise initiieren. Auf diese Weise würden sie eine echte »De-Kolonialisierung« der politikwissenschaftlichen Ukraine-Forschung einleiten, weg von den bisherigen theoretischen Paradigmen und der engen thematischen und regionalen Fokussierung auf die »postsowjetische« Ukraine.
Russlands Krieg gegen die Ukraine bringt zwar methodische Herausforderungen für die Forschung mit sich: Die Feldarbeit in der Ukraine ist nicht sicher. Die Untersuchung einiger Themen (z. B. Korruption, Menschenrechtsverbrechen) ist heikel und führte zu neuen ethischen Überlegungen. Aber digitale Ethnographie, Fernbeobachtung, Online-Interviews sowie andere qualitative und quantitative Methoden, die in der Politikwissenschaft seit der Covid-19-Pandemie einen Aufschwung erlebt haben, bieten dennoch Möglichkeiten zur soliden Datenerhebung in dem vom Krieg betroffenen Forschungsgebiet. Die Initiativen zur Einrichtung von Datensammlungen mit ukrainebezogenen Daten (z. B. auf Discuss Data, https://discuss-data.net/) werden nicht nur die Bemühungen zur Datenerfassung und -generierung konsolidieren, sondern auch das Interesse an der Ukraine und ihrer Erforschung in den internationalen akademischen Gemeinschaften ermöglichen und aufrechterhalten. Auf die Ukraine bezogene Datensammlungen können als Katalysatoren für eine wachsende empirisch und methodisch fundierte politikwissenschaftliche Ukraine-Forschung dienen.
Zusammengefasst eröffnet Russlands Krieg gegen die Ukraine Sozialwissenschaftler:innen mit Ukraine-Expertise die Möglichkeit, sich sinnvoll in die disziplinäre Suche nach neuen theoretischen Paradigmen einzubringen, zeitgenössische methodische Trends aufzugreifen, die Trennung zur traditionellen Ukrainistik zu überwinden und neue interdisziplinäre und überregionale Forschungskooperationen zu entwickeln. Die Ukraine-Studien sollten diese Chancen nutzen, um aus der Peripherie in den Mainstream der politikwissenschaftlichen Debatte(n) zu gelangen.
Übersetzung aus dem Englischen: Dr. Eduard Klein