Die Lage im annektierten Donbas zwei Jahre nach dem 24. Februar 2022

Von Nikolaus von Twickel (Zentrum Liberale Moderne, Berlin)

Zusammenfassung
Russlands Großinvasion der Ukraine vom 24. Februar 2022 und die Annexion der besetzten Gebiete im darauffolgenden September hat auch für den bereits seit 2014 russisch kontrollierten Donbas tiefgreifende Veränderungen gebracht. Anders als in den neubesetzten Gebieten der Oblaste Cherson und Saporischschja bedeutete die Annexion für die sogenannten Volksrepubliken Donezk (»DNR«) und Luhansk (»LNR«) das Ende der selbsterklärten »Unabhängigkeit«. Nicht nur wurden Symbole staatlicher Unabhängigkeit (»Außenministerien«) aufgelöst – die Besatzungsmacht ließ auch Schlüsselpositionen mit Personen aus Russland besetzen. Dieser »Russifizierung« fiel seit Frühjahr 2022 ein großer Teil der örtlichen Eliten zum Opfer. Die neue
Phase des Krieges hat die bereits schwierige ökonomische Lage in den »Volksrepubliken« weiter verschlechtert. Die brutale Zwangsmobilisierung weiter Teile der männlichen Bevölkerung hat den Arbeitskräftemangel in den von Überalterung geprägten »Volksrepubliken« dramatisch verschärft. Angesichts dessen und der massiven Bevölkerungsverluste in den fast völlig zerstörten Städten Mariupol und Sjewjerodonezk wird Moskau nicht umhinkommen, Menschen aus anderen Landesteilen in den Donbas umzusiedeln.

Politische Neubesetzungen

Auch die »Volksrepubliken« waren im Februar 2022 eher unvorbereitet in den Krieg geschlittert. Zwar waren ihre Anführer Denis Puschilin (Donezk) und Leonid Passetschnik (Luhansk) am 21. Februar nach Moskau geeilt, um mit Wladimir Putin die Verträge über ihre Anerkennung durch Russland zu unterzeichnen. Nach Beginn des Großangriffs am 24. Februar hielten sich aber die »Volksmiliz« genannten lokalen Streitkräfte vornehm zurück und warteten auf das Eintreffen regulärer russischer Truppen – ein Zeichen dafür, dass sie nicht in die Vorbereitungen eingebunden waren.

Der Kreml widmete sich im Folgenden überwiegend dem Angriff auf Kyjiw und wandte sich erst nach dessen Scheitern Ende März wieder den »Volksrepubliken« zu. Im April wurde bekannt, dass Putin seinen Donbas-Beauftragten ausgetauscht hatte: Statt Dmitry Kosak, der den Job des »Kurators« Anfang 2020 von Wladislaw Surkow übernommen hatte, war nun der erste stellvertretende Leiter der Präsidentenverwaltung Sergei Kirijenko zuständig für die Eingliederung der besetzten ukrainischen Gebiete in das russische politische System (»Machtvertikale«).

Kirijenko gilt als gut vernetzter Technokrat, der bereits 1998 kurz Premierminister unter Boris Jelzin war. Er sorgte für zahlreiche Wechsel in den Führungsetagen der »Volksrepubliken« – praktisch immer zugunsten von Kandidaten aus Russland, oft mit Beziehung zu Kirijenko. Im Juni gab es die ersten fünf Neubesetzungen, allen voran Witaly Chozenko, einem Abteilungsleiter im russischen Industrieministerium, der zum neuen »DNR«-Premierminister ernannt wurde. Mit Chozenko kam als dessen Stellvertreter Jewgeny Solnzew, ein hoher Beamter im russischen Bauministerium, der lange beim Eisenbahnkonzern RZhD gearbeitet hatte. Als Chozenko im März 2023 zum Gouverneur von Omsk ernannt wurde, rückte Solnzew zum Premier auf.

Nach weiteren Ernennungswellen russischer Beamter waren Anfang 2023 bereits 11 der 27 Top-Posten in der »DNR«, sowie immerhin neun Führungspositionen in der »LNR« in russischer Hand. Anfang 2024 waren mindestens 13 von 26 »DNR«-Kabinettsmitgliedern aus Russland, in der »LNR« waren es 8 von 21. Hinzu kommen zahlreiche Stellvertreter und Stellvertreterinnen aus Russland, die traditionell großen Einfluss ausüben, ohne im Vordergrund zu stehen. Ein typisches Beispiel ist Alexander Kostomarow, der im Juni 2022 zum Ersten Stellvertreter von Puschilins Verwaltungsstab ernannt wurde. Der Funktionär der Putin-Partei Einiges Russland hatte sich einen Namen als »Killer« gemacht, der in russischen Provinzen unliebsame politische Konkurrenz ausschaltet.

Die im September 2022 orchestrierte Annexion der besetzten Gebiete wirkte sich nicht unmittelbar auf lokale Machtstrukturen aus. Vielmehr stellt sich die »Russifizierung« bzw. Säuberung der Regionalregierungen von einheimischen Kadern als Prozess dar, der im Juni 2022 begann und noch nicht abgeschlossen ist.

Posten mit Verantwortung gehen nach Russland

Aus den Ernennungen lassen sich relativ klar die Prioritäten des Kremls herauslesen: Die Ressorts Bau- und Wohnen sowie Erziehung und Bildung werden ausschließlich von aus Russland entsandten Ministern bzw. Ministerinnen geführt. Beim Bausektor liegt die Vermutung nahe, dass Moskau angesichts zu erwartender Geldströme für den Wiederaufbau wenig Vertrauen in die bisher Verantwortlichen vor Ort hatte. Und im Bildungsbereich, wo die Zeichen auf ideologische Indoktrination stehen, legt der Kreml offenbar auch Wert auf Leute ohne ukrainische Vergangenheit. So wurden im »LNR« Bildungsministerium 2022 gleich drei Russen an die Spitze gesetzt: Der aus Moskau stammende Minister Iwan Kussow sowie zwei seiner Stellvertreter.

Neben Ideologie spielen aber auch persönliche Beziehungen eine große Rolle. Die Leitung des Energieministeriums von Luhansk wurde 2022 von drei Russen übernommen, die allesamt zuvor beim staatlichen Kraftwerkskonstrukteur Atomstroyexport arbeiteten – ein deutliches Indiz für Kirijenko, der viele Jahre die Mutterfirma Rosatom leitete.

Zu »Opfern« der Annexion wurden die »Außenminister«, deren Ressorts durch Niederlassungen des russischen Außenministeriums ersetzt wurden. Interessanterweise wurde für »DNR« Außenministerin Natalia Nikonorowa eine attraktive Stelle als Senatorin im russischen Oberhaus gefunden, während ihr »LNR«-Kollege Wladislaw Deinego offenbar leer ausging.

Auch das Militär der »Volksrepubliken« wurde aufgelöst. Die beiden »Volksmiliz«-Verbände (ein Erstes Korps in Donezk und Zweites Korps in Luhansk) wurden nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Moskau zum 31. Dezember 2022 in die russischen Streitkräfte eingegliedert. Die »Volksmilizen« waren bis zu den Generalmobilmachungen am 19. Februar 2022 aus einheimischen und russischen Freiwilligen zusammengesetzt, die von russischen Offizieren kommandiert wurden, welche allerdings nicht öffentlich auftraten.

Mächtige Sicherheitschefs abgesetzt, Repressionen bleiben

Zudem wurden die Leiter der wichtigsten Sicherheitsbehörden – Geheimdienst und Polizei – ausgetauscht. Die berüchtigten Staatssicherheitsministerien, die in den vergangenen Jahren systematisch Regimegegner verfolgt, gefoltert und erniedrigt hatten, wurden sang- und klanglos in regionale Niederlassungen des Inlandgeheimdienstes FSB umgewandelt. An deren Spitze wurden jeweils Karriereoffiziere aus Russland eingesetzt – in Donezk der aus Saratow versetzte Oleg Bolomoschnow sowie in Luhansk Juri Plodowski aus Karatschai-Tscherkessien.

Ebenfalls abgesetzt wurden die mächtigen langjährigen »Innenminister« – Alexei Diky in Donezk und Igor Kornet in Luhansk. Diky, der sich noch im Dezember 2023 in einem Propagandavideo als Feldkommandeur feiern ließ, wurde laut Homepage des russischen Innenministeriums (nur über VPN erreichbar!) durch den aus Wolgograd stammenden Pavel Gischtschenko ersetzt. Kornet, der seit dem Putsch 2017 gegen den damaligen Machthaber Igor Plotnizki als starker Mann im Hintergrund galt, wurde bei einem Bombenattentat im Mai 2023 verletzt und seitdem nicht mehr öffentlich gesehen. Sein Nachfolger ist seit mindestens Juli der aus Sibirien stammende Polizeigeneral Alexei Kampf.

Natürlich darf nicht erwartet werden, dass damit die Repressionen in den »Volksrepubliken« in Zukunft weniger werden. Zum einen waren für die Gewaltexzesse der vergangenen Jahre hinter den Kulissen agierende bzw. unter Pseudonym auftretende FSB-Beamte verantwortlich. Zum anderen hat sich das Ausmaß der Repressionen und Menschenrechtsverletzungen seit 2022 in ganz Russland an die bis dahin in Donezk und Luhansk praktizierten Methoden angeglichen.

Die zahlreichen politischen Gefangenen bleiben in Haft und nach dem erzwungenen Abzug internationaler Missionen wie der OSZE ist Kontaktaufnahme mit ihnen praktisch unmöglich. Darunter sind so unterschiedliche Personen wie Juri Schapowalow, ein Mitarbeiter des Botanischen Gartens Donezk, der 2018 wegen pro-ukrainischen Twitter-Posts festgenommen wurde, sowie der prorussische Publizist Roman Manekin, der im Dezember 2020 nach Kritik an Puschilin festgenommen wurde. Auch drei Mitarbeiter der OSZE-Beobachtermission – alles ukrainische Staatsbürger – sind seit April 2022 in Gefangenschaft, nachdem die lokalen Machthaber sie der Spionage bezichtigten.

Anführer bleiben mit neuem Parteibuch im Amt

Bemerkenswert ist, dass die Republikchefs Denis Puschilin und Leonid Passetschnik im Amt gelassen wurden. Dass beide keine besonders starken politischen Persönlichkeiten sind – der hölzern wirkende Geheimdienstoffizier Passetschnik macht öffentlich wenig Eindruck, Puschilin arbeitete bis 2014 als Verkäufer von Finanzpyramiden des verurteilten Betrügers Sergei Mawrodi – könnte für sie von Vorteil sein. So kann Moskau einen Anschein von Stabilität wahren, während es in den regionalen Verwaltungen mit eisernem Besen kehrt.

Eine im Dezember 2022 verabschiedete Verfassungsänderung ersetzt die Direktwahl der Republikchefs durch Parlamentsabstimmungen. Puschilin und Passetschnik ließen sich so am 23. September 2023 von den zwei Wochen zuvor trotz Kriegsrechts neu »gewählten« Parlamenten einstimmig für weitere fünf Jahre im Amt bestätigen. Beide Abstimmungen wurden von Kreml-Funktionär Kirijenko persönlich überwacht.

Zuvor waren die russischen Systemparteien in Donezk und Luhansk eingeführt worden. Seit 2021 wurden die als »Bewegungen« firmierenden Regierungsparteien Donzekaja Respublika und Mir Luganschtschine von der Putin-Partei Einiges Russland verdrängt, der Puschilin und Passetschnik folgerichtig beitraten. Die bisherigen »Oppositionsparteien« – Freier Donbas und Wirtschaftsunion Luhansk – verschwanden von der Bildfläche.

Bei den »Wahlen« am 10. September 2023 waren nur die in der russischen Duma vertretenen fünf Parteien zugelassen – die sich aber kaum Mühe machten, vor Ort Wahlkampf zu machen. Die Ergebnisse wirken entsprechend dubios – neben klaren Siegen für Einiges Russland (78 Prozent in der »DNR«, 74,6 Prozent in der »LNR«) erhielten die übrigen vier Parteien zwischen fünf und zehn Prozent. Allerdings kamen nur je vier Parteien in beide Parlamente: In Luhansk scheiterte die pseudoliberale Partei Neue Leute (1,46 Prozent) an der fünf-Prozent-Hürde, in Donezk die Partei Gerechtes Russland (3,27 Prozent). Ko-Chef von Gerechtes Russland ist der Schriftsteller und ehemalige »DNR«-Feldkommandeur Sachar Prilepin, dem ein schlechtes Verhältnis zu Puschilin nachgesagt wird. Das könnte der Grund für das Ergebnis sein.

Die neuen »Parlamente« sind eher als Propagandainstrumente denn als Ort für politische Debatten anzusehen. Der neue »DNR«-Parlamentspräsident und ehemalige Feldkommandeur Artjem Schoga wurde im Dezember 2023 als Herold des Volkes inszeniert, der Putin im Kreml zu einer neuerlichen Kandidatur bewegte.

Wirtschaftliche Entwicklungen

In den mittlerweile zehn Jahren russischer Kontrolle bzw. Besatzung war die Wirtschaft des Donbas von Deindustrialisierung und Abwanderung geprägt. Die noch 2014 dominierende Kohle- und Stahlindustrie ist massiv geschrumpft – begleitet von rosigen, aber wenig überzeugenden Versprechungen der Machthaber.

Viele Betriebe wurden schon 2017 schwer getroffen, als ihre de-facto-Enteignung durch die lokalen Machthaber dazu führte, dass die ukrainischen Eigentümer das komplette Führungspersonal abzogen. Die Aussetzung von Lohnzahlungen wegen des Nachfrage-Zusammenbruchs während der Corona-Pandemie führte zu massiven Protesten der Belegschaften, in deren Folge unrentable Betriebe geschlossen wurden. Der russische Großangriff verursachte eine neue Krise, weil die Zwangsmobilisierung großer Teile der männlichen Bevölkerung den grassierenden Arbeitskräftemangel nochmal deutlich verschärfte.

Die aus Moskau geleitete Wirtschaftspolitik der »Volksrepubliken« lässt sich in vier Phasen gliedern: Zunächst (2014 bis 2017) ließ man die großen Privatbetriebe unter ukrainischer Kontrolle weiterarbeiten und nahm sogar Steuerzahlungen an Kyjiw in Kauf. Nach einer von ukrainischer Seite initiierten Handelsblockade Anfang 2017 wurden diese Betriebe unter Zwangsverwaltung gestellt und in eine obskure Industrie-Holding überführt. Diese »Wneschtorgservis« genannte Holding wurde übereinstimmenden Berichten zufolge von Serhij Kurtschenko kontrolliert – einem nach Russland geflohenen ukrainischen Geschäftsmann und engen Vertrauten des 2014 gestürzten ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch.

Während der bis 2021 dauernden zweiten Phase entwickelte sich Wneschtorgservis zu einem politischen Machtfaktor und stellte mit Alexander Anantschenko und Wladimir Paschkow sogar den »DNR«-Premierminister und dessen Stellvertreter. Kurtschenko wurde in dieser Zeit offenbar ein Monopol im Kohle- und Metallhandel zwischen den »Volksrepubliken« und (von ihm kontrollierten) Betrieben in Russland zugestanden.

Pandemiebedingter Wechsel zu einem russischen »Investor«

Die dritte Phase begann, als Kurtschenko im Zuge der von der Corona-Pandemie ausgelösten Wirtschaftskrise in finanzielle Nöte geriet. Nach Monaten ausbleibender Lohnzahlungen und offener Proteste der Belegschaften, wurde im Juni 2021 auf einmal Jewgeni Jurtschenko als neuer »Investor« und Großaktionär präsentiert – ein bis dahin wenig bekannter russischer Geschäftsmann aus der Telekommunikationsbranche.

Jurtschenko, der vielen als Strohmann des Kremls galt, weil er kaum selbst über das nötige Kapital verfügte, erklärte, dass er die von Wneschtorgservis angehäuften Schulden bezahlt habe und ließ die Holding in Südlicher Bergwerks- und Metall-Komplex (russisches Akronym JuGMK) umbenennen und sogar eine Website veröffentlichen. Im November 2021 wurde der ehemalige Wneschtorgservis-Chef Paschkow aus der Regierung entlassen, im Juni darauf musste Anantschenko den Chefsessel räumen.

Jurtschenko behauptete im November 2022, dass er mehr als 40 Milliarden Rubel (etwa 500 Millionen Euro) in JuGMK investiert habe, fügte aber hinzu, dass die Produktion um rund 60 Prozent zurückgefahren worden sei, weil mehr als 20 Prozent der Arbeitskräfte mobilisiert worden seien. Seitdem ist Jurtschenko aber von der Bildfläche verschwunden. Sein Name wurde nicht erwähnt, als »DNR«-Premierminister Solnzew nach einer Sitzung der JuGMK-Geschäftsführung im Februar 2024 ankündigte, dass man Dank »kolossaler« Investitionen die Produktion verdoppeln wolle. Zahlen nannte Solnzew nicht.

In Phase vier – nach der Annexion und unter dem andauernden Angriffskrieg – setzt man in Moskau offenbar auf noch direktere Kontrolle: Im November 2023 wurde »DNR« Industrieminister und Vize-Premier Wladimir Ruschtschak entlassen. Der ehemalige ukrainische Beamte Ruschtschak wurde als stellvertretender Regierungschef durch Wladislaw Wassiljew ersetzt, ein langjähriger Manager des russischen Severstal-Konzerns, der zuletzt die Metallurgie-Abteilung im russischen Industrieministerium geleitet hatte – ein deutliches Zeichen dafür, dass die Moskauer Zentralregierung direkt durchgreifen will.

Schlechte Aussichten für die Kohle

Klar ist wohl, dass Moskau keine Chance mehr für die lokale Kohleindustrie sieht. In einer Art Zehnjahresplan erklärte Wassiljew Ende 2023, dass im Donbas künftig der IT-Sektor und der Bau von Drohnen gefördert werden solle. Im März 2024 sagte der russische Industrieminister Denis Manturow, dass die wirtschaftliche Integration der »neuen Regionen« (sprich: besetzte Gebiete) durch Kooperationen im Bereich Maschinenbau, Metall- und Chemieindustrie gleistet werden müsse. Den Kohlesektor erwähnte Manturow ausdrücklich nicht.

Dabei hatte »LNR«-Chef Passetschnik noch im Dezember 2022 bei seinem ersten Treffen mit Putin nach der Annexion um Subventionen für den Kohlesektor gebeten und geklagt, dass der staatlichen Holding Wostokugol wegen der Zwangsmobilisierung knapp 60 Prozent der Belegschaft fehlten, und in einer der Minen seien es gerade mal drei von eigentlich 300 Bergleuten. »LNR«-Energieminister Denis Jarosch, ein ex-Manager der russischen Stromnetzgesellschaft UPS, hatte im August 2023 angekündigt, Arbeiter aus unrentablen Minen in die wenigen profitablen zu versetzen. Defizitäre Minen sollten geschlossen werden, für die übrigen suche man private Investoren, die in deren Modernisierung investieren, sagte er – ein Hinweis darauf, dass dem russischen Staat schlicht das Geld fehlt, um die marode Industrie im Donbas zu sanieren.

Wiederaufbau als Wachstumsmotor?

Dessen ungeachtet malt der Donezker Republikchef Denis Puschilin paradiesische Visionen an die Wand. Im kriegszerstörten Mariupol erklärte er im August 2023, dass man dort einen IT-Park errichten werde – was das offizielle Portal DAN News zu einem »Silicon Valley« stilisierte.

Tatsächlich könnte der Wiederaufbau der Infrastruktur ein Wachstumsmotor sein. Um den anzukurbeln, hat Moskau im Sommer eine Sonderwirtschaftszone eingerichtet, die mehr private Investoren locken soll. Allerdings werden die höchstens einen kleinen Teil der nötigen Investitionen aufbringen. Allein für den Wiederaufbau in der »DNR« müssen laut ex-Premier Chozenko in den Jahren 2023 und 2024 mehr als 2 Trillionen Rubel (knapp 20 Milliarden Euro) aufgewendet werden. Für die »LNR« seien es 1,5 Trillionen Rubel (15 Milliarden Euro). Statt diesen zusammengerechnet 1,75 Trillionen Rubel pro Jahr sieht der russische Haushalt für 2024 aber lediglich rund 233 Milliarden Rubel (2,31 Milliarden Euro) für den Wiederaufbau vor – und zwar in allen vier besetzten Regionen zusammen.

Zudem gibt es Anzeichen dafür, dass Gelder aus Moskau schon in falsche Taschen fließen. So ließ der FSB in Donezk im Dezember 2023 den lokalen Eisenbahnchef festnehmen, weil er Staatseigentum an Unbefugte weitergegeben haben soll. In offiziellen Medien wird derweil über den Wiederaufbau vor allem im Rahmen des »Chefstwo«-Systems berichtet. Dafür werden russische Föderationssubjekte als zuständig für kommunale Kreise der besetzten Gebiete ernannt. Dieses System suggeriert, dass die Regionen aktiv am Wiederaufbau teilnehmen – obwohl sich nur weniger als die Hälfte der mehr als 80 Föderationssubjekte beteiligen, und das bestimmt auch nicht freiwillig. Insgesamt investierten die Regionen laut Bauminister Irek Faisullin im Jahr 2023 so 115,6 Milliarden Rubel (1,15 Milliarden Euro) in den Wiederaufbau besetzter Gebiete.

Dezimierung der Bevölkerung durch Krieg

Mit der fünf Tage vor der Invasion am 19. Februar 2022 begonnenen Zwangsmobilisierung hat Putin möglichst viele Soldaten aus beiden »Volksrepubliken« rekrutiert, um die Mobilisierung der eigenen Bevölkerung möglichst lange hinauszuzögern. Offiziellen Zahlen zufolge wurden 2022 insgesamt 4.133 »DNR«-Soldaten getötet (und weitere 17.379 verwundet). Bei einer geschätzten Einwohnerzahl von 1 Million heißt das, dass binnen zehn Monaten aktiver Kampfhandlungen 4 Promille der Bevölkerung ums Leben gekommen sind. Zum Vergleich, die von Präsident Wolodymyr Selenskyj am 25. Februar 2024 genannte Zahl von 31.000 getöteten ukrainischen Soldaten entspricht einer Opferzahl von knapp 1 Promille – in einem Zeitraum von 24 Monaten.

Die Dezimierung der Bevölkerung durch den russischen Angriffskrieg verschlimmert den 2014 begonnenen Einwohnerrückgang. So betrug die Geburtenzahl in der »DNR« 2023 gerade mal 7.175 – deutlich weniger als 2021, als noch 7.982 Kinder geboren wurden – obwohl das Territorium der »Republik« damals – noch ohne Mariupol – deutlich kleiner war. Zum Vergleich: 2017 hatte die »DNR« noch 11.895 Geburten gemeldet.

Für einen wie auch immer gearteten Wirtschaftsaufschwung wird der Donbas aber dringend Menschen im arbeitsfähigen Alter benötigen. Ob und wie dies unter russischer Herrschaft passieren wird, ist unklar. Russland selbst leidet unter Arbeitskräftemangel und regionalen Bevölkerungsrückgängen.

Fazit

Zwei Jahre nach Beginn der russischen Vollinvasion in die Ukraine ist die Lage in den »Volksrepubliken« verzweifelter als je zuvor seit 2014. Für die Integration in das russische Staatswesen hat Moskau einen umfassenden politischen Umbau verfügt – den zweiten nach den von Putsch und Attentat erzwungenen Machtwechseln in der »LNR« 2017 und »DNR« 2018.

Solange der Donbas russisch besetzt bleibt, ist eine Rückkehr weiter Bevölkerungsteile unwahrscheinlich. Aber auch nach einer militärischen Befreiung wäre eine Wiedereingliederung in die Ukraine eine Mammutaufgabe. Unter russischer Herrschaft wurden die ukrainischen politischen und zivilgesellschaftlichen Strukturen zerschlagen und durch polizeistaatliche ersetzt. Viele der gebliebenen Eliten haben sich mit den Besatzern arrangiert und müssten in der Ukraine strafrechtliche Konsequenzen fürchten. Die von Bergbau und Schwerindustrie geprägte Wirtschaft liegt am Boden. So bleiben die Aussichten auf absehbare Zeit düster.

Wie schon zwischen 2014 und 2022 geht es dem Kreml nicht um den Donbas (geschweige denn um die »russischsprachigen« Menschen dort, die man angeblich schützen wollte), sondern um die Herrschaft möglichst über die ganze Ukraine: Dafür zahlt diese Region einen horrenden Preis.


Anmerkung des Autors:

Der Großteil der Informationen in diesem Bericht stammt aus offenen Quellen im Internet. Es ist aber ab 2022 deutlich schwerer geworden, verlässliche Daten aus den russisch besetzten Gebieten zu finden: Zum einen haben die »Volksrepubliken« ihre Geheimhaltungspolitik deutlich verschärft, zum anderen sind viele russische Internetadressen aus dem Ausland nicht mehr bzw. nur mit VPN erreichbar.

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