»Niemand kann bestreiten, dass wir viel geleistet haben, um den Bedürfnissen jedes Einzelnen zu entsprechen, um die menschliche Würde auf die Ebene der großen Politik zu heben«, erklärte der usbekische Präsident Schawkat Mirsijojew am 12. Juni 2023 vor Bürger:innen der karakalpakischen Hauptstadt Nukus, während einer Veranstaltung im Rahmen seiner Wahlkampagne für die Präsidentschaftswahl vom 9. Juli 2023.
Diese Art von Stellungnahmen, in denen Präsident Mirsijojew seine angebliche Entschlossenheit zum Ausdruck bringt, Menschenrechte und Meinungsfreiheit zu achten, sind in den letzten Jahren zunehmend umstritten geworden. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Immer mehr Blogger und Aktivist:innen, die das Recht auf Meinungsfreiheit auch wirklich in Anspruch nehmen wollten, haben sich zuletzt im Gefängnis wiedergefunden oder sahen sich mit heftigen Geldbußen und/oder Einschüchterungsversuchen konfrontiert. Genau deshalb wird der Präsident in den wichtigsten Medien des Landes nach wie vor nicht offen kritisiert. Die Grenzen der Meinungsfreiheit enden in Usbekistan weiterhin am Blauen Palast in Taschkent. Kritik an Beamten der niedrigeren Verwaltungsebenen ist vielleicht noch gestattet, doch der Präsident selbst und seine Familie sind schlichtweg tabu.
Alle usbekischen Journalist:innen sind sich dieser Einschränkung sehr wohl bewusst. Im Vorfeld der kürzlichen Präsidentschaftswahl vom 9. Juli wurden in den usbekischen Medien daher auch keine wichtigen oder kontroversen Fragen diskutiert. So wurde auch nicht öffentlich erwähnt, dass es weiterhin keine politische Opposition im Land gibt, dass das Geschäftsimperium von Mirsijojews Schwiegersöhnen immer weiter expandiert oder dass die alte Verfassung kurzfristig im Müll gelandet ist, da sie Mirsijojews Amtszeit 2026 beendet hätte.
Die Präsidentschaftswahl vom 9. Juli war wieder bar jeden politischen Wettbewerbs und hat sich damit nahtlos in das wohlbekannte Szenario aller bisherigen Wahlen in Usbekistan eingefügt. Zwar wurden wahltechnische Formalitäten überwiegend eingehalten und wie immer durften auch einige der Regierung loyal verbundene Kandidaten antreten, die auch wieder ein paar Stimmen abbekommen haben. Der bereits im Vorfeld feststehende Sieger Mirsijojew hat mit einem Ergebnis von 87,05 % seit der letzten Präsidentschaftswahl 2021 sogar noch einmal 7 % raufgelegt.
Die Präsidentschaftswahl vom 9. Juli folgte auf das am 30. April abgehaltene Referendum über die Annahme einer neuen Verfassung, deren Einführung angeblich notwendig wurde, um »die Grenzen der Menschenrechte und der Meinungsfreiheit auszuweiten«. Eine Woche nach dem Referendum verkündete Mirsijojew, er brauche »ein neues Mandat, um die Reformen fortsetzen zu können«. Prompt kam am 8. Mai der Präsidialerlass zur Ansetzung vorgezogener Neuwahlen. Begründet wurde der Schritt mit vagen Argumenten über »akute« und »komplizierte« »Prozesse«, die in der Welt und in Zentralasien vor sich gingen, und damit, dass »die Menschen von uns wichtige und drängende Änderungen und Reformen in allen Bereichen erwarten.«
Ungeachtet seines weitgehend berechtigten Image eines Reformers war kaum jemand überrascht darüber, dass Präsident Mirsijojew offensichtlich nicht die Absicht hat, nach dem eigentlichen Ende seiner Amtszeit 2026 abzutreten. Was kommt nun also als nächstes? Trotz seines politischen Auftretens als Autokrat scheint Mirsijojew weiter die Vision zu verfolgen, Usbekistan durch die Umsetzung von Reformen voranzubringen. Wie lange wird er jedoch noch als Reformer gelten können, wenn er den repressiven Praktiken der Vergangenheit weiterhin kein Riegel vorschiebt?
Eine wichtige Errungenschaft des »neuen Usbekistan« besteht darin, dass die Redefreiheit tatsächlich ausgeweitet wurde und vor allem im Internet – das bislang frei geblieben ist – Meinungen ausgetauscht und Informationen verbreitet werden können. Doch kann dieser neue Geist der Freiheit auch wieder zurück in seine Flasche gezwungen werden, wenn die beunruhigende Tendenz zur Repression von kritischen Bloggern und Journalist:innen weiter anhält.
Jüngste Menschenrechtsverletzungen in Usbekistan zeigen, dass der Staat ohne unabhängige Medien und eine starke Zivilgesellschaft nicht in der Lage ist, wichtige gesellschaftliche Anliegen wie Korruption, Folter und Straflosigkeit lokaler Behördenvertreter:innen anzugehen. Mirsijojews Erklärungen über die Bedeutung von Meinungsfreiheit werden leere Worte bleiben, solange es keine Garantien oder Mechanismen zum Schutz der Zivilgesellschaft vor der Willkür von Regierungsbehörden gibt.
Am 27. Mai 2023 wurde Elmurod Odil, ein Aktivist der Menschenrechtsorganisation »Ezgulik«, zuerst vom Hokim des Bezirkes Yakkabog (Gebiet Kaschkadarja) und dann von Polizeikräften geschlagen, die daraufhin ein Verfahren wegen Landfriedensbruch und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte gegen ihn fabrizierten. Am folgenden Tag hat ein Gericht 15 Tage Administrativhaft für Odil angeordnet, wobei weder ihm selbst noch seinem Anwalt der Gerichtsbeschluss vorgelegt wurde. In einer unmittelbar nach seiner Freilassung aufgenommenen Videobotschaft erklärte Odil, dass es keinen Sinn gemacht hätte, nach der Wahrheit oder Gerechtigkeit zu suchen, »beides werde man nicht finden. Ich habe versucht, Probleme aufzuzeigen, aber in dieser Gesellschaft gelten Opfer als Täter.« Er befürchte wieder verhaftet zu werden.
Innerhalb von nur einer Woche gab es Anfang Juni zwei tragische Todesfälle in Polizeistationen. In einem Fall hat die Polizei einen 36-Jährigen, der zuvor festgenommen wurde, im Gebiet Taschkent zu Tode gefoltert. In einem zweiten Fall stürzte sich ein 21-Jähriger aus dem Fenster im dritten Stock einer Taschkenter Polizeistation in den Tod.
Um Täter im Staatsdienst zur Rechenschaft ziehen zu können, braucht es Beobachtung und Kontrolle durch die Öffentlichkeit. Die Regierung stemmt sich jedoch weiterhin gegen die Bemühungen von zivilgesellschaftlichen Gruppen, sich als Nichtregierungsorganisationen registrieren zu lassen, und belegt sie stattdessen mit unnötigen Auflagen, um ihre Arbeit und Finanzierungsmöglichkeiten zu behindern.
In Usbekistan ist es nahezu unmöglich, eine unabhängige Menschenrechtsorganisation registrieren zu lassen, da weiterhin gewollt komplizierte Hürden bürokratischer Natur errichtet werden. Im Gegenzug weist das Justizministerium zivilgesellschaftliche Gruppen permanent darauf hin, dass Aktivitäten nicht registrierter Organisationen illegal sind. Selbst für die wenigen Gruppen, denen es gelingt sich registrieren zu lassen, bleibt die Menschenrechtsarbeit schwierig. Über die Verfahren zur Genehmigung von Projekten und Aktivitäten übt das Justizministerium exzessiv Kontrolle aus und behindert durch die Verhängung künstlicher Auflagen die Einwerbung von ausländischen Fördermitteln.
Ein weiteres ernsthaftes Problem für die Entwicklung der Zivilgesellschaft ist das Wiedererstarken des Staatssicherheitsdienstes (SSS), der praktisch alle Lebensbereiche von Aktivist:innen zu kontrollieren versucht. In der Regel haben Menschenrechtsaktivist:innen innerhalb der Abteilungen für Extremismus- und Terrorbekämpfung von Polizei und SSS eigene »Betreuer:innen«, die sich um sie »kümmern«. Diese beobachten alles, was Aktivist:innen tun, von ihren alltäglichen Wegen, ihren Kommentaren in sozialen Netzwerken bis hin zu Ansprachen bei internationalen Foren. Eine Menschenrechtsaktivistin aus Taschkent, die im Mai am Jahrestreffen der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) in Samarkand teilgenommen hat, hat geschildert, wie sie danach auf Arbeit von SSS-Mitarbeitern aufgesucht und ausgefragt wurde, welche Gespräche es dort zwischen zivilgesellschaftlichen Gruppen und internationalen Organisationen gegeben hat. Zum Schluss wurde ihr geraten, »patriotisch« zu sein. Mindestens zwei weiteren usbekischen Aktivist:innen, die am EBWE-Treffen teilgenommen haben, ist es ähnlich ergangen.
Kürzlich haben fünf Blogger aus dem Gebiet Kaschkadarja bekanntgegeben, aufgrund anhaltender Schikane und Einschüchterungen ihre Tätigkeit einzustellen und ihre Kanäle in den sozialen Medien zu löschen. Ihr größtes Problem sei der mangelnde Schutz gewesen. Kurz zuvor wurden drei Blogger aufgrund der »Nichtbeachtung einer rechtmäßigen Anordnung eines Behördenvertreters« festgenommen, was sich auf jenen Artikel des Verwaltungsrechts bezieht, auf dessen Grundlage standardmäßig Haftbescheide gegen Aktivist:innen erlassen werden. Der Blogger Asisbek Jasdurdijew aus der Stadt Karschi hat seine Entscheidung zum Aufhören damit begündet, dass »die jüngsten Menschenrechtsfälle zu einem ernsten Signal für uns alle geworden sind.«
Bereits in den frühen 2000er Jahren hat Usbekistan eine Art Tauwetter erlebt, als die Zensur gelockert und die Tätigkeit von Menschenrechtsorganisationen im Land erlaubt wurde. Dieser Prozess war jedoch nicht von politischen Reformen zur Stärkung ziviler demokratischer Institutionen begleitet, weshalb sich die damaligen Errungenschaften mit der Zeit wieder in Luft aufgelöst haben. In den letzten Jahren der Herrschaft von Islam Karimow war die Zivilgesellschaft so schwach geworden, dass sie den staatlichen Angriffen gegen sie nichts mehr entgegenzusetzen hatte.
Das aktuelle autoritäre Regierungssystem in Usbekistan ist nicht in der Lage, die zentrale Rolle der Zivilgesellschaft für die Entwicklung des Landes anzuerkennen. Das Scheitern der usbekischen Führung, flächendeckende Rechtsstaatlichkeit herzustellen und zu gewährleisten, zeigt sich besonders offensichtlich in den einzelnen Regionen. Lokale Verwaltungschefs werden weiterhin vom Präsidenten ernannt und nicht von der Bevölkerung gewählt. Diese Beamten üben weiterhin umfassende Kontrolle über Gerichte, Polizei und Abgeordnete lokaler Parlamente aus. Und natürlich über Aktivist:innen oder jeden der es wagt, Kritik zu äußern oder ihre Legitimität als lokale Verwaltungschefs in Frage zu stellen. Dieser gesamtstaatliche Regierungsapparat, in dem politische, wirtschaftliche und persönliche Interessen verschmelzen und in dem von oben bis unten Korruption und Rechtlosigkeit herrscht, bleibt das zentrale Hindernis für die usbekische Gesellschaft, sich aus ihrer Ohnmacht zu befreien.
Aus dem Englischen von Hartmut Schröder