Stabilität in Zentralasien – Ein pessimistischer Blick aus Kasachstan

Von Bulat Sultanow (Almaty)

Zusammenfassung
Die Situation in den Staaten Zentralasiens ist derzeit durch wachsende sozioökonomische Probleme gekennzeichnet, die sich aus einem komplexen regionalen Zusammenhang ergeben (niedrige Ölpreise und sinkende Staatseinnahmen, schwächelnde Konjunktur, Russlandkrise). Die Führungen der Länder der Region haben bisher keine adäquaten Lösungen für Probleme wie steigende Lebenshaltungskosten, sinkende Reallöhne und Sozialtransfers sowie ausufernde Korruption anbieten können. Dies stellt nach Ansicht des Autors eine größere Gefahr für die Stabilität der Region dar, als üblicherweise genannte Sicherheitsrisiken wie internationaler Terrorismus oder religiöser Extremismus. Fehlende regionale Kooperation, ganz zu schweigen von Integration, und daraus resultierende ungelöste Wasser- und Grenzkonflikte verschärfen die zunehmend instabile Situation in Zentralasien noch.

Die politische und soziale Stabilität Zentralasiens scheint derzeit zunehmend in Gefahr. Dafür sind Sicherheitsrisiken wie internationaler Terrorismus, religiöser Extremismus, Drogenhandel, organisierte Kriminalität und illegale Migration verantwortlich. Die grundlegende und größere Gefährdung stellen aber innenpolitische und sozioökonomische Probleme dar sowie das Desinteresse der politischen Eliten an der Förderung regionaler Integrationsprozesse. Insbesondere nach der Abwertung der nationalen Währungen im zweiten Halbjahr 2015 ist in den zentralasiatischen Republiken ein sinkender Lebensstandard der großen Masse der Bevölkerung und eine zunehmende soziale Polarisierung zu beobachten. Als Folge droht ein Anwachsen sozialer und politischer Spannungen.

Wachsende sozioökonomische Probleme in Kasachstan …

In Kasachstan liegt die Kluft zwischen den Einkommen der reichsten und ärmsten Schicht der Bevölkerung derzeit bei 30 zu 1. Das heißt, dass riesige nationale Ressourcen in den Händen einer relativ kleinen Gruppe kasachstanischer Oligarchen konzentriert sind. Im Jahre 2012 verfügten die Milliardäre und Millionäre des Landes zusammen über ein Vermögen von 24 Mrd. US-Dollar.

Derzeit lässt sich aufgrund der Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage eine zunehmende Unzufriedenheit der Bevölkerung feststellen. Zum Beispiel nannten die Einwohner der »zweiten Hauptstadt« Almaty, die am ehesten zu Protesten neigen, bei einer Umfrage im Herbst 2015 an vorderster Stelle soziökonomische Themen als wichtigste Probleme. Im Vergleich mit 2009 haben sich einige Nennungen sogar verdreifacht, zum Beispiel die hohen Preise für kommunale Dienstleistungen, die nun von 70,8 % der Befragten genannt wurden, zuvor waren es nur 25,6 %. Auch bei den Themen Korruption (31,7 % gegenüber 13,3 %) und vor allem niedriges Bildungsniveau (24,2 % gegenüber 3,3 %) sind erhebliche Steigerungen zu erkennen. Bedrohungen durch religiösen Extremismus oder Terroranschläge liegen dagegen auf den hinteren Plätzen.

Bei Befragungen in ganz Kasachstan im Sommer 2015, noch vor der Tenge-Abwertung vom 20. August 2015, wurden vor allem soziale Motive – Arbeitslosigkeit, niedrige Löhne, Renten, Sozialleistungen und Stipendien sowie steigende Preise, Inflation und Währungsabwertung (ca. 50 %) – als denkbare Gründe für Proteste genannt. Auf dem zweiten Platz finden wir eine Reihe humanitärer Aspekte – Verletzung der Menschenrechte, Korruption und Machtmissbrauch der Regierenden (31 %), aber auch die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft (30 %). Religiöse und zwischenethnische Konflikte oder Probleme bei der Rückzahlung von Krediten wurden dagegen seltener angeführt. 18,8 % der Befragten bekundeten ihre Bereitschaft, sich aus den aufgezählten Gründen an Protestaktionen zu beteiligen. Besonders verbreitet war diese Stimmung unter denjenigen, die über eine geringe Kaufkraft verfügten, auf staatliche Unterstützung angewiesen waren oder Kreditschulden hatten. Somit war das Protestpotential in der Gesellschaft Kasachstans vor der Abwertung des Tenge niedrig und Aktionen kaum zu erwarten. Aber diese Situation könnte sich rasch ändern, wenn die kasachstanische Regierung keine effektiven Maßnahmen zur Verbesserung der materiellen Lage der Masse der Bevölkerung ergreift.

Nach Angaben des Komitees für Statistik des Ministeriums für Volkswirtschaft betrug das monatliche Durchschnittseinkommen 124.137 Tenge (Schätzung im November 2014). Das Existenzminimum lag im Dezember 2015 bei 19.816 Tenge. Dabei machte die durchschnittliche Rente im Jahr 2014 monatlich 36.068 Tenge aus und die Mindestrente lag im selben Jahr bei 31.736 Tenge im Monat. Diese nicht gerade üppigen Geldbeträge wurden durch den bodenlosen Fall des Kurses des Tenge fast um die Hälfte entwertet: Ende Januar 2015 lag der Kurs des Tenge zum US-Dollar noch bei 181,6:1, am 11. Januar 2016 waren es nur noch 369:1. Das heißt, dass in Kasachstan die Durchschnittsrente gegenwärtig nur 97,75 US-Dollar entspricht, und die Mindestrente noch weniger, nämlich 86,07 Dollar – und dies mit weiter sinkender Tendenz. Die Lage der niedrigen Einkommensgruppen der Gesellschaft wird noch verschärft durch den kontinuierlichen Anstieg der Lebensmittelpreise. Der Preis für Zucker stieg um fast 20 %, Öle und Fette wurden um 18,5 % teurer, und Brot um 14,4 %.

Immer mehr Bürger beginnen darüber nachzudenken, warum in Kasachstan, das über gewaltige Vorkommen an Öl, seltenen Erden und anderen wertvollen Bodenschätzen verfügt und sich weit weg von den Konflikten im Irak, in der Ukraine und in Syrien befindet, ein so erschreckender Verfall der Währung stattfindet.

Natürlich ergriff und ergreift die Regierung praktische Maßnahmen zur Abschwächung der Folgen der Wirtschaftskrise. Ende Dezember 2015 wurde eine Vereinbarung mit der ADB über ein Darlehen in Höhe von 1 Mrd. US-Dollar ratifiziert, das zur Finanzierung des Budgetdefizits und zur Stimulierung der Wirtschaft verwendet werden soll. Eine umfassende Privatisierung bisher noch staatlicher Unternehmen ist bereits angelaufen. Am 20. Januar hat Präsident Nursultan Nasarbajew auf die Notwendigkeit der Realisierung der Strategie 2050 und der Antikrisenprogramme sowie von Budgetkürzungen für Ministerien und eine Optimierung, d. h. Verkleinerung, des Staatsapparates hingewiesen. Im Zusammenhang mit den Budgetkürzungen hat die Regierung beschlossen, auf neue Projekte zu verzichten und den Akzent auf die Durchführung der bereits begonnenen zu legen. In den Gebieten werden praktische Maßnahmen in Angriff genommen. So wird die Stadtverwaltung von Almaty 2016 bedürftige Bewohner als Kompensation für ihre höheren Lebenshaltungskosten, beispielsweise im Zusammenhang mit der Abschaffung der staatlichen Subventionierung für Brot, gezielt mit insgesamt 60 Mio. Tenge (ca. 156.800 US-Dollar) unterstützen.

Am 13. Januar 2016 wandten sich die Abgeordneten der unteren Kammer des Parlaments, der Madschilis, mit der Bitte um vorzeitige Auflösung des Unterhauses an den Präsidenten. Obwohl die Wahlperiode der Madschilis erst im Herbst des Jahres geendet hätte, bekundeten die Abgeordneten einstimmig die Notwendigkeit eines neu gewählten Parlamentes, um »die fünf Reformprojekte des Präsidenten und die Antikrisenstrategie (…) entschlossen umzusetzen«. Der 76jährige Präsident, der seit 1989 an der Macht ist, kam diesem Wunsch rasch nach, löste das Parlament auf und setzte Neuwahlen für den 20. März 2016 fest. Die Frage, ob genügend Zeit für die Durchführung eines echten Wahlkampfs bleibt und dafür, die Wähler mit den Wahlprogrammen der Kandidaten für das Abgeordnetenamt bekannt zu machen, ist eine rhetorische.

Die Präsidentenadministration erklärt die Notwendigkeit der vorzeitigen Auflösung der Madschilis und vorgezogener Neuwahlen erstens damit, dass sie am 20. März mit den turnusmäßigen Lokalwahlen zusammenfallen und man daher Zeit und Geld spare. Zweitens werde es zu einer Erneuerung des Parlaments kommen, wenn sachkundige, wirtschaftlich erfahrene Bürger und Patrioten gewählt werden. Drittens könne die neu zusammengesetzte Madschilis tatkräftig die notwendigen Antikrisengesetze verabschieden. Für die Erläuterung dieser Gründe wurde der gesamte staatliche Propagandaapparat in Bewegung gesetzt.

Die Bürger des Landes haben die Nachricht von der vorzeitigen Auflösung des Parlaments ziemlich gleichgültig aufgenommen, denn faktisch ist es zu einem Anhängsel der Exekutive geworden. Davon zeugt auch, dass die Abgeordneten die Entscheidung über die vorzeitige Auflösung einstimmig gefällt haben, und damit, wie in vergangenen sowjetischen Zeiten, ihre »hohe historische Verantwortung« bekundet haben. Es hat auch nicht zu ihrer Popularität beigetragen, dass sie für das frühere Ende ihres Mandats eine Kompensation in Höhe eines Drei-Monats-Gehaltes, also 1,5 Mio. Tenge pro Person (ca. 3.920 US-Dollar), bekommen sollen.

… und seinen Nachbarstaaten

Zeichen einer tiefgreifenden sozioökonomischen Krise gibt es auch in den anderen Staaten Zentralasiens. In Usbekistan verkündete der Präsident in seiner Neujahrsansprache feierlich die Erhöhung der Gehälter der Staatsangestellten, der Renten, Stipendien und Sozialleistungen um 15 %. Die freudige Anteilnahme für die usbekischen Bürger schwindet jedoch, wenn man die konkreten Zahlen betrachtet. In Usbekistan beträgt der Mindestlohn gegenwärtig 130.200 Som (47,29 US-Dollar, Kurs vom 1.1.2016), die Renten und der Leistungsanspruch für seit der Geburt Behinderte liegen bei 254.700 Som (92,51 US-Dollar); die Sozialleistungen für alte sowie arbeitsunfähige Personen, die nicht über den nötigen Rentenanspruch verfügen, betragen 56.300 Som (56,77 US-Dollar). Gegenwärtig sind ungefähr 3 Mio. Bürger Usbekistans Gastarbeiter (dt. im Original, Anm. der Übers.). Armut, fehlende Jobs und niedrige Einkommen haben sie nach ihren eigenen Angaben veranlasst, Arbeit im Ausland zu suchen. Nach inoffiziellen Schätzungen liegt die Arbeitslosigkeit im Lande bei ca. 30 %. Dennoch wurde am 29. März 2015 der 77jährige Islam Karimow routinemäßig zum Präsidenten Usbekistans gewählt. Er ist de facto seit 1989 ohne Unterbrechung Staatsoberhaupt, obwohl gemäß der Verfassung Usbekistans ein und dieselbe Person nur für zwei Wahlperioden in Folge Präsident des Landes sein kann.

Von Tadschikistans 8 Mio. Einwohnern befindet sich 1 Mio. als Gastarbeiter in Russland. In den Jahren 2011–2014 haben sie mehr als 10 Mrd. US-Dollar in ihre Heimat zurücküberwiesen und damit das Wachstum der Geschäftstätigkeit und der Kaufkraft der Bevölkerung abgesichert. Aber infolge der Stagnation der russischen Wirtschaft 2015 haben sich die Rücküberweisungen der Arbeitsmigranten um den Faktor 3 verringert. Die Preise für lebensnotwendige Güter für die Masse der Bevölkerung sind derweil stark gestiegen. In dieser schwierigen wirtschaftlichen Situation hat man in Duschanbe beschlossen, ein Referendum über Änderungen in der Verfassung durchzuführen. U. a. soll dabei nach Beschluss des Parlaments der derzeitige Präsident Emomali Rachmon, der seit 1992 an der Spitze des Landes steht, faktisch zum Führer auf Lebenszeit gemacht werden.

Durch Turkmenistan ist 2015 eine Welle von Massenentlassungen aus den staatlichen Unternehmen gerollt, in den staatlichen Instituten für Öl und Gas sowie Geologie waren bis zu 85 % der Mitarbeiter vom Stellenabbau betroffen. In einer Reihe von Fällen kam es zu verspäteten Lohnzahlungen. Bereits mehrfach wurden Begrenzungen für den Umtausch des Manat in US-Dollar bzw. ausländische Währungen eingeführt. In Aschchabad begannen die Banken im Dezember 2015 wegen des starken Andrangs von Dollar-Käufern mit der Ausgabe von Coupons, und in der Provinz Lebap muss man für den Umtausch eine Bescheinigung des Arbeitgebers vorzeigen.

In Kirgistan gelten mehr als 1,8 Mio. Menschen (30,6 % der Bevölkerung des Landes) als arm. Die wirtschaftliche Situation wurde bisher durch die Geldüberweisungen der Arbeitsmigranten in Russland abgefedert. Aber 2015 ist das Volumen der Transfers um 33 % gefallen. Deshalb sind die Bürger Kirgistans gezwungen, sich ihren Lebensunterhalt in der Schattenwirtschaft zu suchen, die nach Schätzungen mehr als 50 % der Wirtschaft des Landes ausmacht.

Somit ist für alle zentralasiatischen Staaten eine Polarisierung der Gesellschaft und eine Zunahme der Zahl der Armen charakteristisch, ohne dass klare Gegenmaßnahmen ihrer Führungen erkennbar wären. Dies birgt die Gefahr, dass Verfechter eines radikalen Islam, darunter des sog. Islamischen Staats (IS), wie schon im Irak, in Tunesien, Libyen, Ägypten und Syrien die Situation ausnutzen. Unter den Bedingungen einer schwach entwickelten zivilgesellschaftlichen und politischen Öffentlichkeit und des Fehlens einer weltlichen Opposition auf der einen und der Zunahme von Armut, fehlenden Aufstiegsmöglichkeiten, des Clanwesens und der Korruption auf der anderen Seite nimmt in Zentralasien die Zahl der Anhänger radikaler islamischer Organisationen zu. Die Teilnahme von aus Zentralasien stammenden Personen an den Kampfhandlungen in Syrien ist besonders besorgniserregend. Nach Angaben des Komitees für Religionsangelegenheiten kämpften 2015 allein ca. 500 Bürger Kasachstans in den terroristischen Gruppierungen des IS.

Sicherheitsrisiken von außen

Die Staaten Zentralasiens haben eine Reihe gemeinsamer sozioökonomischer Probleme. Kasachstan hat in den vergangenen Jahrzehnten mehrere Initiativen ergriffen, um die regionale Integration in Zentralasien voran zu bringen (Zentralasiatische Union, 1994; Zentralasiatisches Wirtschaftsforum, 2001; Organisation für Zusammenarbeit in Zentralasien, 2002; Union der zentralasiatischen Staaten, 2007). Doch haben diese »auf dem Papier« geschaffenen regionalen Organisationen nicht die nötige praktische Unterstützung von Seiten der Führer der Staaten Zentralasiens erfahren, ungeachtet wechselseitiger Beteuerungen hinsichtlich historischer, kultureller, sprachlicher und ethnisch-religiöser Gemeinsamkeiten. Deshalb sollte man gegenwärtig, so wichtig sie auch wäre, keine gemeinsame Lösung der Probleme Zentralasiens erwarten, jedenfalls nicht, solange sich kein Wechsel in der Führung der politischen Eliten der Länder der Region vollzieht.

Zwischen den Ländern der Region bestehen neben vielen Gemeinsamkeiten auch diverse Gegensätze. Einer der wichtigsten subjektiven Gründe für die stagnierende ökonomische Integration Zentralasiens ist die fehlende Bereitschaft der politischen Eliten der Staaten der Region zu wirtschaftlicher Kooperation. Die Ursache liegt in den unterschiedlichen Investitionsmöglichkeiten in den Ländern und auch am fehlenden Bemühen, Lösungen zum wechselseitigen Nutzen in den Bereichen Energie, Nutzung der Wasserressourcen, Transport von Gütern, Entwicklung der Transportinfrastruktur und landwirtschaftliche Produktion zu erzielen. Der Handel zwischen den zentralasiatischen Staaten macht nur 5 % ihres gesamten Außenhandels aus.

Der bekannte ungelöste Konflikt um Wasser und Energie zwischen den energiereichen Staaten an den Unterläufen der Flüsse Amu Darja und Syr Darja – Kasachstan, Usbekistan und Turkmenistan – auf der einen und den energiearmen, wasserreichen Oberliegern Kirgistan und Tadschikistan auf der anderen Seite ist ein besonders deutlicher Indikator für die schwierigen Beziehungen zwischen den zentralasiatischen Staaten.

Nach wie vor nicht geklärte Grenzprobleme sind ein weiteres ernstes Problem zwischen den Staaten der Region. Bis jetzt wurden zum Beispiel zwischen Kirgistan und Usbekistan von den 1.378 km der gemeinsamen Staatsgrenze erst 75 % endgültig festgelegt, zwischen Tadschikistan und Usbekistan lediglich 80 % der 1.400 km langen Grenze. Folge der unklaren Grenzen sind ständige Zwischenfälle. Nach Angaben der kirgisischen Behörden wurden allein im Jahr 2010 mehr als 20 Zusammenstöße zwischen kirgisischen Bürgern und usbekischen Grenzschützern registriert. An der kirgisisch-tadschikischen Grenze gab es im Zeitraum 2012–2015 insgesamt 78 Zusammenstöße und Konflikte, bei denen es u. a. zu Straßenblockaden, Brandstiftungen und Massenschlägereien zwischen Kirgisen und Tadschiken kam. Die aus dem Jahr 1999 stammende Verminung von Abschnitten der usbekisch-tadschikischen Grenze schafft zusätzliches Konfliktpotential zwischen beiden Staaten. Von Usbekistan verlegte Anti-Personenminen verletzen und töten nach Angaben aus Duschanbe immer wieder friedliche tadschikische Bürger – Hirten und Holzsammler. In den letzten 20 Jahren waren mehr als 800 tadschikische Staatsangehörige betroffen, 90 % der Opfer waren Zivilisten, 30 % davon Kinder. Diese Grenzzwischenfälle können sich jederzeit zu zwischenstaatlichen Konflikten mit unvorhersehbaren Konsequenzen auswachsen. Eine Lösung dieser territorialen Streitigkeiten und Grenzfragen, wie übrigens auch vieler anderer komplizierter Fragen, wird nur im Rahmen einer Kooperation oder Integration Zentralasiens möglich sein. Da man von einer Integration gegenwärtig weit entfernt ist, werden die Konflikte an den Grenzen der zentralasiatischen Republiken jedenfalls mittelfristig fortbestehen.

Folge von Armut, mangelnder Rechtsstaatlichkeit, nicht demokratisch kontrollierten Eliten und fehlender zwischenstaatlicher Zusammenarbeit ist ein florierender illegaler Handel vor allem mit Drogen, aber auch Waffen und Menschen. In Kirgistan soll sich der Drogenhandel in einzelnen Gebieten des Landes nicht nur zur Haupteinkommensquelle der Bevölkerung entwickelt haben, sondern nach Meinung von Experten sind auch Mitarbeiter der Sicherheitskräfte und der Rechtsschutzorgane des Landes darin verwickelt. Da fast 10 % der nach Kirgistan eingeführten Drogen auch dort abgesetzt werden (ca. 7 t pro Jahr) sterben in diesem Land jedes Jahr 1.500 Menschen an einer Überdosis, mehrheitlich Kinder und Jugendliche.

Nicht zuletzt muss hier noch angeführt werden, dass sich seit Herbst 2015 mit dem Auftauchen von IS-Kämpfern auch die Situation im Norden Afghanistans einschneidend verschlechtert hat. Nach Ansicht tadschikischer Experten kann der Konflikt in Nordafghanistan zur direkten Bedrohung nicht nur für die Staaten Zentralasiens, sondern auch für Russland und China werden.

Fazit

Die wachsende Verarmung der Bevölkerung, die soziale Polarisierung der Gesellschaft und der fehlende politische Wille der Führer der Region zur Durchführung tiefgreifender politischer und sozioökonomischer Reformen in ihren Staaten erweisen sich als die wichtigsten Faktoren für eine mögliche Destabilisierung Zentralasiens. Die Situation in Zentralasien erinnert an ein Moor, in dem unter der Erdoberfläche der Torf brennt. Auf den ersten Blick gibt es keinerlei Grund für Beunruhigung, der unterirdische Brand ist nicht zu sehen. Aber mit zunehmender Ausdehnung des unterirdischen Feuers dringt eine Rauchsäule nach oben, die sich über hunderte von Kilometern erstrecken kann und die eigentliche Gefahr darstellt.

Eine weitere Verschleppung der Lösung der oben genannten Probleme kann nicht vorhersehbare negative Folgen haben. Denkbar sind etwa offen ausbrechende soziale Konflikte in einem Land mit einem darauf folgenden Dominoeffekt in der gesamten Region. So etwas beobachten wir gerade in den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens. Die sich verschärfenden Gegensätze in der angrenzenden islamischen Welt und die wachsende Opposition zwischen dem Westen auf der einen und Russland und China auf der anderen Seite wirken sich auch wenig beruhigend auf diese Lage aus.

Aus dem Russischen von Brigitte Heuer

Lesetipps / Bibliographie

  • Alexander Kim, Cheaper Oil Price Pushes Kazakhstan Toward Limited Economic and Political Reforms, The Jamestown Foundation Eurasia Daily Monitor, 13.1.2016, = http://www.jamestown.org/programs/edm/single/?tx_ttnews[tt_news]=44981&tx_ttnews[backPid]=827&no_cache=1#.VqEFolL0VeQ
  • George Voloshin, President Nazarbayev Announces Early Parliamentary Elections Amid Crisis, The Jamestown Foundation Eurasia Daily Monitor, 25.1.2016, = http://www.jamestown.org/programs/edm/single/?tx_ttnews[tt_news]=45023&tx_ttnews[backPid]=27&cHash=b9c627380e03fafbcb1cb04ae58d79de#.Vqdlw1L0VeQ
  • Joanna Lillis, Kazakhstan: Nazarbayev Issues Rallying Cry To Fight Crisis, Eurasianet, 1.12.2015, = http://www.eurasianet.org/node/76341
  • Anna Dyner, Arkadiusz Legieć, Kacper Rękawek, Ready to Go? ISIS and Its Presumed Expansion into Central Asia, PISM Policy Paper, 19(121), June 2015, = https://www.pism.pl/files/?id_plik=20020

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