Kein Meilenstein, sondern wieder ein Etappensieg. Parlamentswahlen in Kasachstan

Von Beate Eschment

Am 20. März 2016 wurde in Kasachstan vorzeitig ein neues Unterhaus des Parlamentes (kas. Madschilis) gewählt. Wie von Beobachtern schon länger erwartet, hatten die Mitglieder des 2012 gewählten Unterhauses Mitte Januar den Präsidenten um Auflösung und Neuwahlen ersucht; das Parlament hat kein Recht auf Selbstauflösung. Turnmusmäßig hätte die Wahl erst im Januar 2017 angestanden. Nach Beratung mit dem Vorsitzenden des Verfassungsrates entschied der Präsident, dem Wunsch der Parlamentarier zu entsprechen und setzte die Neuwahl auf den 20. März fest. Für diesen Tag waren bereits die Wahlen für die Gebiets- und Kommunalvertretungen des Landes terminiert. Vorgezogene Wahlen sind inzwischen in Kasachstan nicht mehr eine Ausnahme, sondern eher die Regel. Die letzten drei Parlamentswahlen fanden vorgezogen statt, auch der Präsident wurde bereits mehrfach vorzeitig gewählt, zuletzt im Frühjahr 2015.

Die Vertreter der alten Madschilis hatten ihren Wunsch, von dem kritische Beobachter natürlich annehmen, dass er ihnen von oben nahegelegt wurde, mit der schwierigen Wirtschaftslage begründet, deren Lösung frische Kräfte erfordere. In der staatlich dominierten Presse wurde u. a. auch angeführt, dass man so den ausländischen Investoren mehr Planungssicherheit bieten und damit Kapitalabfluss verhindern wolle. Auch das für westliche Leser noch schwerer zu verstehende Argument, dass das alte Unterhaus den neuen geopolitischen Herausforderungen nicht gewachsen sei, tauchte auf. Tatsächlich kann man, wie schon im Frühjahr 2015 bei der vorgezogenen Präsidentenwahl davon ausgehen, dass die Wahl jetzt stattfand, weil man bei der absehbar immer schwieriger werdenden ökonomischen Lage im Laufe des Jahres 2016 einen Stimmungsumschwung in der Bevölkerung befürchtete. Außerdem will man notwendige einschneidende Maßnahmen mit dem Argument, die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung stehe dahinter, rechtfertigen können. Daraus folgt, dass für die Führung am 20. März eine möglichst hohe Wahlbeteiligung plus natürlich ein möglichst gutes Ergebnis der Präsidentenpartei Nur Otan notwendig war.

Seit der letzten Parlamentswahl 2012 hat sich die Zahl der registrierten Parteien durch Fusionen und den Gerichtsbeschluss über die Auflösung der Kommunistischen Partei im August 2015 von zehn auf sieben verringert. Nur sechs von ihnen traten bei der Wahl an, die Partei Asat hatte sich wegen mangelnder Erfolgsaussichten von vornherein gegen eine Teilnahme entschieden. Unabhängige Kandidaten waren nicht erlaubt. Für jeden Kandidaten musste bei der notwendigen offiziellen Registrierung eine Kaution von einem Mindestlohn (ca. 850 Euro) hinterlegt werden, was für die kleinen und finanzschwachen Parteien beschränkend wirkte.

Nur in den beiden Wochen vor der Wahl war mancherorts so etwas wie ein Wahlkampf zu beobachten. Große programmatische Unterschiede zwischen den Parteien waren schon deshalb schwer möglich, als ja Parteien mit grundsätzlich anderen Ansätzen und Lösungsvorschlägen gar keine offizielle Registrierung bekommen würden. Die Themen glichen sich also und boten keine politische Alternative: Bewahrung sozialer Stabilität, Pläne für eine langfristige Bekämpfung der Wirtschaftskrise, Bewahrung der nationalen Einheit und Berufung auf nationale Werte. Die Präsidentenpartei Nur Otan dominierte das Bild. Sie verließ sich erstaunlicherweise nicht nur auf die überzeugende Wirkung ihres Zugpferdes Nursultan Nasarbajew, sondern setzte neben bekannten Politikern auch prominente und beliebte Sportler und Popstars auf ihre Liste, so den Boxer Gennadij Golowkin und den Popmusiker Kairat Nurtas.

Die 98 zu vergebenden Sitze werden nach einer landesweiten Parteiliste im Verhältniswahlrecht verteilt. Für den Einzug ins Unterhaus ist ein Ergebnis von mehr als – im internationalen Vergleich sehr hohen – 7 % der abgegebenen Stimmen erforderlich. Wie erwartet wurde Nur Otan wieder stärkste Partei und erreichte mit 82,2 % ca. 1 % mehr als 2012. Mit Ak Schol (7,18 %) und Volkskommunisten (7,14 %) konnten auch die beiden bisher im Unterhaus vertretenen Parteien die 7%-Hürde überspringen. Alle anderen landeten weit abgeschlagen bei 2 % und darunter. Damit ist die Verteilung der Parteien im neuen Parlament nahezu identisch mit der bisherigen: Nur Otan hat mit 84 einen Sitz mehr und Ak-Schol mit sieben einen weniger als vorher, die Volkskommunisten sind unverändert mit sieben Abgeordneten vertreten. Die Wahlbeteiligung der insgesamt 9.810.852 Wahlberechtigen lag bei 77,12 % und damit um ca. 2 % höher als bei der letzten Parlamentswahl.

Interessant sind die regionalen Unterschiede. Während landesweit zwischen 70–80 % der Wahlberechtigten teilnahmen, verweigerte sich die große Mehrheit der Bewohner der Stadt Almaty dem Wahlgang, dort gingen nur 34,1 % an die Wahlurne. In der »südlichen Hauptstadt« erreichte die oppositionelle OSDP auch 9,9 % der Stimmen (in den anderen Gebieten lag ihr Anteil zwischen 0,1 und 2 %), während Nur Otan bei im Landesvergleich schwachen 70,1 % lag. In der Hauptstadt Astana erreichte die Präsidentenpartei mit 85,18 % dagegen ihr bisher bestes Ergebnis.

Wie gewohnt bewerteten die Wahlbeobachter von GUS und SCO die Wahl positiv, während die Mission von OSZE/ODIHR, die bislang noch keine Wahl in Kasachstan als frei und fair bewertet hat, eine ganze Reihe von Kritikpunkten anmahnte (u. a. keine wirkliche politische Auswahl, Unregelmäßigkeiten bei Stimmabgabe und Auszählung, Zweifel an der Höhe der Wahlbeteiligung). In den sozialen Netzwerken tauchten diverse Videos auf, in denen Mehrfachstimmabgaben gezeigt wurden. Anders als vor einigen Jahren, als Nasarbajew der westlichen Kritik mit der Drohung, in Zukunft keine Wahlbeobachter mehr einzuladen, begegnete, reagierte man dieses Mal selbstbewusster: Kasachstan sei ein junger, noch in der Entwicklung befindlicher Staat mit anderen (asiatischen) Werten und Traditionen und werde sich zu nichts drängen lassen. Die Anwesenheit der vielen ausländischen Wahlbeobachter wurde noch stärker als früher zur Legitimierung der Wahlen verwendet. Die Staatsmedien waren voll mit Äußerungen auch westlicher Beobachter, die das hohe Niveau der Wahlen priesen (»besser als in einigen europäischen Ländern…«) und vor allem die gute Stimmung und Informiertheit der Bevölkerung bestaunten. Dies wiederum veranlasste den Kommentator der fundamentaloppositionellen Internetzeitung Respublika zu der Äußerung, Wahlbeobachtung sei für Dummköpfe gedacht!

Mit der Verkündung des Wahlergebnisses war keineswegs klar, welche Personen konkret in die neue Madschilis einziehen würden. Anders als in Deutschland ist die Platzierung auf der vor der Wahl erstellten Parteiliste in Kasachstan nicht entscheidend. Erst nachdem bei der Wahl die Zahl der zu vergebenden Mandate feststeht, wird parteiintern hinter verschlossenen Türen bestimmt, wer tatsächlich ins Parlament einzieht. Auf den Listen aller drei Wahlgewinner standen mehr Namen, als sie Sitze errungen hatten – auch und vor allem betraf das Nur Otan, für insgesamt überhaupt nur 98 zu vergebende Sitze hatte man 127 Kandidaten nominiert, bei Ak-Schol waren es 35 und bei den Volkskommunisten 22. Man kann also annehmen, dass nach dem Wahlkampf für die Bevölkerung ein Machtkampf innerhalb der Parteien stattfand.

Im Ergebnis zogen bei Nur Otan (natürlich) die gelisteten prominenten Sportler und Künstler nicht ins Parlament ein, genauso wenig kandidierende bekannte ehemalige Minister oder Gouverneure, auch Präsidententochter und Vize-Premierministerin Dariga Nasarbajewa erhielt kein Mandat. Insgesamt sind ca. 60 % der Abgeordneten Neulinge, ehemalige Staatsbedienstete und Wirtschaftsvertreter überwiegen, ihr Durchschnittsalter liegt bei 55 Jahren. (Zum Vergleich: Das Durchschnittsalter des derzeitigen Bundestages gilt mit 49,6 Jahren als hoch.) Die Versammlung des Volkes Kasachstans (ANK) wählte die ihr verfassungsmäßig zustehenden neun nicht parteigebundenen Vertreter am 21. März.

Inzwischen ist das Unterhaus am 25. März zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen getreten und hat erwartungsgemäß Premier Karim Masimow und seine Regierung nahezu unverändert bestätigt. Einzig Energieminister Wladimir Schkolnik wurde durch den bisherigen Gouverneur von Pawlodar, Kanat Bosumbajew, ersetzt.

Ist die Wahl also, wie Präsident Nasarbajew am Wahltag erklärt hat, ein »Meilenstein« in der Geschichte Kasach­stans? Hat sich etwas Entscheidendes geändert? Die Antwort ist vom Standpunkt des Urteilenden abhängig, für westliche Beobachter wie kasachstanische Oppositionelle gibt es solange keine Veränderung, wie das autokratische System unter Nasarbajew fortbesteht. Die Führung des Landes kann ihr Ziel einer möglichst hohen Bestätigung durch die Bevölkerung als erreicht betrachten. Natürlich hat keine politische Veränderung und auch keine Verjüngung, aber doch ein starker Austausch der Abgeordneten stattgefunden, die wunschgemäß aus Administration und Wirtschaft kommen. Ein Meilenstein war diese Wahl aber gewiss nicht, angesichts der schwierigen ökonomischen Lage eher wieder ein Etappensieg, wie schon die Präsidentenwahl im Vorjahr. Das öffentliche Interesse hat sich auch inzwischen, sicher u. a. von Nasarbajews Bemerkung am Wahltag angestoßen, dass es politische Veränderungen in der Verteilung der Macht geben könnte, verstärkt einem unausweichlich näher rückenden wirklichen Meilenstein zugewandt, der Frage des Machtübergangs und des möglichen Nachfolgers.

Beate Eschment

Zum Weiterlesen

Analyse

Der politische Islam in Zentralasien – Gegner oder demokratischer Partner?

Von Arne C. Seifert
Der politische Islam ist im heutigen Zentralasien eine feste Größe, deren Bedeutung unter den gegenwärtigen politischen und sozioökonomischen Bedingungen eher wachsen als verschwinden wird. Darauf müssen sich nicht nur die herrschenden Eliten einstellen, sondern auch westliche Politik. Politischer Islam ist keine uniforme, westlichen Vorstellungen grundsätzlich ablehnend gegenüberstehende Erscheinung. Es gibt auch moderate Kräfte, die islamische Werte und nationale Interessen verbinden, sie treten aber bislang wenig in Erscheinung. Noch hat westliche Politik die Chance, mit ihnen zusammenzuarbeiten und so auf eine moderate Ausrichtung des politischen Islam in den zentralasiatischen Staaten hinzuwirken. (…)
Zum Artikel
Analyse

Helden, Väter und Beschützer der Nation. Überlegungen zur Selbstinszenierung zentralasiatischer Präsidenten

Von Anja Franke-Schwenk
Die Präsidenten der zentralasiatischen Staaten (mit Ausnahme Kirgistans) üben nicht nur seit vielen Jahren ein zentrales politisches Amt aus, sondern versuchen auch, ihre autoritäre Herrschaft mit Hilfe von Neuinterpretationen von Geschichte und Gegenwart zu legitimieren und sich zu unentbehrlichen Vätern und Beschützern ihrer Nationen zu stilisieren. Unter ihrem Namen publizierte Bücher, Denkmäler oder spezielle Feiertage sind Merkmale eines neuen Personenkultes, der zwar in jeder Republik seine eigene Ausprägung hat, in der Gesamtschau aber verblüffende Ähnlichkeiten aufweist.
Zum Artikel

Logo FSO
Logo DGO
Logo ZOIS
Logo DPI
Logo IAMO
Logo IOS