Am 31. Januar 2011 fand in Warschau eine lang erwartete Pressekonferenz statt, auf der die Ergebnisse der neuen Untersuchung »Barometer Polen-Deutschland« zum Thema polnisch-deutsche Beziehungen vorgestellt wurden. Sie stimmen optimistisch. Zum wiederholten Mal bestätigt sich, dass eine Mehrheit der Polen die Beziehungen zu ihrem Nachbarn als gut oder sehr gut bewertet. Die Geschichte wirkt sich nicht mehr auf die Beurteilung der polnisch-deutschen Beziehungen aus. Über zwei Drittel der Befragten waren der Meinung, dass der Schwerpunkt in den Kontakten mit den Deutschen auf der Gegenwart und Zukunft liegen sollte, nur 20 Prozent gaben historische Fragen an. Die Autoren der Untersuchung interessierte außerdem das Verhältnis der Polen zur Geschichte. Gefragt wurde darüber hinaus nach der Möglichkeit einer gemeinsamen polnisch-deutschen Geschichtsschreibung. Bei ersterem ließ sich feststellen, dass sich eine gewisse Müdigkeit eingestellt hat, ständig zur Vergangenheit zurückzukehren. 45 Prozent der Befragten gaben an, dass die Diskussionen darüber zur Versöhnung beitragen, 46 Prozent fanden, dass dies eher dazu führt, des Leids getrennt zu gedenken.
Im Zusammenhang mit den hier angestellten Überlegungen ist die Antwort auf die zweite Frage sehr interessant: 46 Prozent der Befragten gaben an, dass die Erstellung eines polnisch-deutschen Schulbuchs für den Geschichtsunterricht möglich sei, aber 41 Prozent drückten ihre Zweifel am Erfolg dieser Idee aus. Überraschend scheint, dass sich die jüngsten Befragten am skeptischsten äußerten, das heißt diejenigen, die die Schule unlängst abgeschlossen hatten bzw. die noch zur Schule gehen. Geteilt waren auch die Meinungen über die Möglichkeiten, das gemeinsame Schulbuch in den polnischen Schulen einzusetzen. 51 Prozent der Befragten sahen dies positiv, 32 Prozent waren der Einschätzung, dass es dazu nicht kommen werde. Wie lassen sich diese deutlichen Unterschiede erklären? Auf der einen Seite erfahren wir, dass die Polen die polnisch-deutschen Beziehungen positiv beurteilen, auf der anderen Seite sind sie skeptisch, was die Möglichkeit angeht, ein gemeinsames Geschichtsbuch zu verfassen. Eine Erklärung dafür ist nicht einfach. Die genannten Untersuchungen konzentrierten sich auf die politischen Beziehungen und die gemeinsamen Interessen in Europa, die von Polen und Deutschland verlangen, zusammenzuarbeiten und sinnvolle Lösungen zu finden. Eine ganz andere Frage ist das Problem, die Geschichte gemeinsam darzustellen. Es ist das erste Mal, dass von den Bildungspolitikern beider Länder der Entschluss gefasst wurde, ein Schulbuch vorzubereiten, das sowohl in Polen als auch in Deutschland eingesetzt werden soll. Dies war ein Experiment, ein vollkommenes Novum; es verlangte von beiden Staaten, ihren Platz sowohl in der Geschichte als auch in Europa erneut zu überdenken. Diese Herangehensweise musste eine gewisse Skepsis hervorrufen, in manchen Fällen völlige Ablehnung.
Im Folgenden werde ich die Entstehungsgeschichte des polnisch-deutschen Schulbuchprojekts skizzieren, seine Voraussetzungen und die ersten Ergebnisse. Da das Projekt noch nicht abgeschlossen ist, haben die Ergebnisse vorerst hypothetischen Charakter und müssen noch in der Zukunft überprüft werden. Doch schon jetzt lässt sich feststellen, dass für die Umsetzung dieses Projekts drei Faktoren notwendig sind, die zusammengenommen werden müssen: Vertrauen unter den Historikern, politischer Wille und Interesse seitens der Verlage und der Lehrerschaft.
Die Entstehungsgeschichte des polnisch-deutschen Schulbuchprojekts
Vor 20 Jahren haben Polen und Deutschland den »Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit« unterzeichnet (17. Juni 1991). Er leitete eine neue Phase im Annäherungsprozess zwischen beiden Staaten ein, den die Ereignisse des Jahres 1989 ausgelöst hatten. Im Vertrag über gute Nachbarschaft wird eigens auf die Bildung hingewiesen. Im Artikel 25, Absatz 5, heißt es: »Die Arbeit der unabhängigen deutsch-polnischen Schulbuchkommission wird weiterhin gefördert.« Diese Kommission war 1972 entstanden und hatte Historiker aus Polen und der Bundesrepublik Deutschland versammelt. Im Laufe der Jahre hatte sie trotz politischer Beschränkungen bestimmte Arbeitsformen ausgearbeitet, die sich auch unter den neuen Bedingungen nach 1990 bewährt haben. Erinnert sei an die ersten Empfehlungen der Kommission im Jahr 1976, die eine lebhafte Debatte in der Bundesrepublik hervorgerufen hatten – die erste bekannte Debatte darüber, wie die polnisch-deutschen Beziehungen in Schulbüchern darzustellen seien. Der Veröffentlichung der Empfehlungen waren mehrmonatige bilaterale Diskussionen über die Darstellung unterschiedlicher Aspekte der polnisch-deutschen Beziehungen vom Mittelalter bis in die Gegenwart vorausgegangen. »Wer 1945 vorausgesagt hätte«, so Professor Gotthold Rhode, deutsches Kommissionsmitglied, am 31. Januar 1977 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, »daß polnische und deutsche Historiker der Kriegsgeneration zwar hart, aber sachlich und höflich-kollegial in Warschau in deutscher Sprache über die Möglichkeiten der Versachlichung der Schulbücher und des Geschichtsunterrichts verhandeln würden, wäre für geistesgestört erklärt worden. Derartige Rückblicke zeigen, dass es nicht nötig ist, die Arbeit an einem solchen Werk nur mit Skepsis zu betrachten.« Dabei war nicht Verständigung um jeden Preis gesucht, sondern eine andere Lösung vorgeschlagen worden: Man bemühte sich, das betreffende Problem aufzuzeigen und die Art und Weise zu erläutern, wie es in Polen und in Deutschland betrachtet wird.
Der steigende Bedarf an polnisch-deutschem Lehrmaterial
An diese Erfahrungen konnten Anfang der 1990er Jahre die Historiker und Geographen aus Polen und Deutschland anknüpfen, die unter den neuen politischen Bedingungen die Tätigkeit der Kommission fortsetzten. Jetzt kamen Themen auf, die vorher aus politischen Gründen nicht öffentlich diskutiert werden konnten. In dieser Zeit entstand auch die Idee, Ergänzungsmaterial für den Geschichtsunterricht zu erarbeiten, das in beiden Ländern im Unterricht einsetzbar ist. Im Jahr 2001 wurde den Schulen eine Sammlung von Quellenmaterial zur Geschichte des 20. Jahrhunderts zur Verfügung gestellt, die bis heute genutzt wird. Die Publikation wird mit Beiträgen eingeführt, die sich mit verschiedenen Aspekten der beiderseitigen Beziehungen auseinandersetzen, darunter Fragen, die immer noch Kontroversen auslösen. Mit zunehmender Entkrampfung in den polnisch-deutschen Beziehungen und der Entwicklung des polnisch-deutschen Schüleraustauschs stieg der Bedarf, neues Lehrmaterial zu entwickeln und zu veröffentlichen. An zwei Initiativen soll hier insbesondere erinnert werden: Im Jahr 2007 erschien eine Publikation von Matthias Kneip und Manfred Mack, Mitarbeitern des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt, die von einer Ausstellung begleitet wurde. Beide Initiativen waren ein beträchtlicher Erfolg. Die Autoren stellten auf sehr zugängliche und attraktive Weise die polnisch-deutschen Beziehungen in den letzten 1000 Jahren dar. Da sich die Publikation ausschließlich an deutsche Schüler wendet, haben die Autoren auch Probleme angesprochen, die in den deutschen Lehrplänen sonst nicht vorkamen bzw. nur selten thematisiert wurden. Das zweite Projekt war eine Initiative von Kinga Hartmann, Angestellte der Schulbehörde in der grenznahen sächsischen Stadt Bautzen (Niederlausitz). Bei ihrer Arbeit mit deutschen und polnischen Lehrern stellte sie fest, wie wenig Hilfsmaterial diesen zur Verfügung stand, um die neueste polnisch-deutsche Geschichte zu vermitteln. Daraufhin rief sie ein Projekt ins Leben, das erste Projekt an der deutsch-polnischen Grenze im Rahmen des EU-Programms INTERREG, an dessen Umsetzung Wissenschaftler, Lehrer und Schüler aus den grenznahen Gebieten Sachsens und aus Niederschlesien beteiligt waren. Für die Zeitspanne von 1933 bis 1949 wurden ergänzende Unterrichtsmaterialien für das Fach Geschichte zusammengestellt, die die komplexen Probleme der polnisch-deutschen Beziehungen vermitteln. Für die polnischen und deutschen Lehrer und Schüler war dies eine enorme Herausforderung. Zum ersten Mal erfuhren die deutschen Projektteilnehmer beispielsweise vom Schicksal der Polen, die nach 1939 in die Sowjetunion deportiert worden waren, und die polnischen Teilnehmer von den deutschen Vertriebenen in der Sowjetischen Besatzungszone (später DDR). Die Notwendigkeit dieser Initiative bestätigte auch die lebendige Diskussion, die das Projekt begleitete. Nach Erscheinen der ersten Ausgabe des Ergänzungsmaterials erschienen in der polnischen und der deutschen Presse mehr als 100 Rezensionen.
Die EU-Erweiterung und die Erweiterung des historischen Gedächtnisses
Der Beitritt Polens zur EU (2004) stellte das polnische Bildungswesen vor neue Herausforderungen. Schon Ende der 1990er Jahre war damit begonnen worden, sich darauf vorzubereiten. Es wurden Schulreformen durchgeführt, neue Lehrbücher kamen auf den Markt. Immer häufiger wurde über die Notwendigkeit diskutiert, gemeinsame europäische Schulprojekte durchzuführen. Eine wichtige Rolle sollten dabei die Schulbücher spielen. Schon Anfang der 1990er Jahre erschien ein von einem Franzosen initiiertes Schulbuch zur europäischen Geschichte, das allerdings enttäuschte. Immerhin veranschaulichte seine Veröffentlichung und der Versuch, es in anderen europäischen Ländern zu verbreiten, die Schwierigkeiten, auf die solcherlei Initiativen stoßen können. Es zeigte sich, dass in den europäischen Staaten vor allem die national orientierten Lehrprogramme umgesetzt wurden. In ihnen war kein Platz für eine europäische Bildung. Trennend wirkte auch das jeweilige historische Gedächtnis – die Teilung der Nachkriegszeit in einen östlichen und einen westlichen Teil hatte nicht nur eine politische und wirtschaftliche Teilung zur Folge gehabt. Im Laufe der Jahrzehnte haben sich auch unterschiedliche Gedächtnisse entwickelt, insbesondere der neuesten Geschichte. Für manche Staaten, zum Beispiel die Bundesrepublik, wurde die Erinnerung an die Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs im Osten verdrängt, es gab keine Notwendigkeit, das eigene Verhältnis dazu zu revidieren. Ähnliche Probleme hatten auch andere Staaten, ob im westlichen oder im östlichen Europa. Die EU-Erweiterung Anfang des neuen Jahrhunderts um Länder, die noch vor kurzem hinter dem sogenannten Eisernen Vorhang gelegen hatten, stellte die Frage nach der gemeinsamen Geschichte, der geteilten Erinnerung und den Herausforderungen für das Bildungswesen aufs Neue. Auf besondere Weise trat dieses Problem in den polnisch-deutschen Beziehungen zutage. Die positive Entwicklung dieses Verhältnisses in den 1990er Jahren begann zu stagnieren. In der Mitte der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts konnte geradezu eine Krise festgestellt werden. Die Jahre 2005 bis 2007, als eine rechts-nationale Regierung an der Spitze Polens stand, waren das Apogäum dieser Krise.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass die vom damaligen deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier vorgestellte Idee, ein gemeinsames deutsch-polnisches Lehrbuch zu verfassen, auf keinerlei Echo in Warschau stieß und sich keiner der polnischen Politiker für dieses Projekt interessierte. Steinmeier bezog sich auf die Arbeit an einem ähnlichen Projekt für ein deutsch-französisches Geschichtsbuch, das nach kurzer Zeit bereits erste Ergebnisse zeitigte. Im Fall des polnisch-deutschen Vorhabens mussten mehrere Jahre vergehen, bis darauf zurückgekommen werden konnte. Dies geschah auf Initiative der polnisch-deutschen Schulbuchkommission. Auf ihrer Vorstandssitzung im Mai 2007 diskutierte sie über die Bedingungen und Möglichkeiten, dieses Projekt in die Wege zu leiten. Zur Vorbereitung der Sitzung hatte das Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig eine Machbarkeitsstudie angefertigt, in der die Lehrpläne in Polen und Deutschland verglichen wurden. Dabei stellte sich heraus, dass die meisten Überschneidungen in den Lehrplänen des polnischen Gymnasiums und der deutschen Sekundarstufe I zu finden sind. Nachdem die Parlamentswahlen in Polen im Herbst 2007 zu einer überraschenden Wende geführt und eine liberale proeuropäische Partei in die Regierungsverantwortung gebracht hatten, brachte Außenminister Steinmeier seinen Vorschlag eines gemeinsamen Schulbuchs erneut ein, und dieses Mal reagierte sein – neuer – polnischer Amtskollege, Radosław Sikorski, positiv. Im Ergebnis gab die große Politik dem Vorhaben grünes Licht. Innerhalb kurzer Zeit wurde ein entsprechendes Gremium gebildet.
Empfehlungen für das polnisch-deutsche Geschichtsbuch
Von Anfang an liefen dabei die Bemühungen dahin, die Politik und die wissenschaftlichen Fragen voneinander zu trennen. Auf oberster Ebene zeichnete der sogenannte Steuerungsrat verantwortlich, darunter der wissenschaftliche Expertenrat. Der Steuerungsrat wurde unter anderen mit Vertretern polnischer und deutscher Ministerien besetzt sowie den Ko-Vorsitzenden des Expertenrats und wissenschaftlichen Koordinatoren. Den Vorsitz des Expertenrats übernahmen die Ko-Vorsitzenden der Polnisch-Deutschen Schulbuchkommission; seine Mitglieder waren Historiker, Geschichtsdidaktiker und Geschichtslehrer. Außerdem wurden wissenschaftliche Koordinatoren für das Projekt gewählt. Sie hatten ihre Büros in Braunschweig und in Breslau. Im Mai 2008 wurde der offizielle Beginn der Arbeiten am polnisch-deutschen Geschichtslehrbuch in Berlin bekanntgegeben. Die Arbeiten wurden in zwei Phasen eingeteilt; in der ersten sollten Empfehlungen für das Schulbuch erarbeitet werden und in der zweiten sollte ein polnisch-deutsches Verleger-Tandem gefunden werden, das es übernehmen sollte, die ersten Bände von Geschichtsdidaktikern entwickeln zu lassen und herauszugeben. Im Dezember 2010 wurden in Warschau die Empfehlungen vorgestellt, denen Monate intensiver Arbeit vorangegangen waren. Dazu waren sechs Arbeitsgruppen gebildet worden: Die erste befasste sich mit dem Rahmenkonzept aller Bände, die übrigen fünf diskutierten über die Struktur der Abschnitte zu den unterschiedlichen Epochen wie Urgeschichte und Altertum, Mittelalter, Neuzeit, 19. und 20. Jahrhundert. Insgesamt nahmen 30 Personen teil, je 15 aus beiden Ländern. Auf mehreren begleitenden Konferenzen wurden die Teilergebnisse vorgestellt. Außerdem fanden häufig Treffen einzelner Arbeitsgruppen statt. Insbesondere der Umgang mit dem 20. Jahrhundert rief lebhafte und intensive Diskussionen hervor. Aus der Distanz betrachtet lässt sich feststellen, dass dabei nicht die nationale Zugehörigkeit die Hauptrolle spielte, sondern das unterschiedliche Verständnis von Geschichte und die unterschiedlichen didaktischen Traditionen in Polen und Deutschland. Für die Autoren der Empfehlungen war klar, dass ihre Aufgabe nicht darin bestand, noch eine weitere Abhandlung zu den bilateralen Beziehungen zu verfassen. Ihre Arbeit war um einiges anspruchsvoller, denn es ging darum, ein Konzept für ein zukünftiges Regellehrwerk für den Geschichtsunterricht vorzustellen, das in der schulischen Praxis in Polen und Deutschland eingesetzt werden kann und der Jugend Wissen über die gesamte Geschichte (die allgemeine und die nationale) vermittelt. In den erarbeiteten Empfehlungen heißt es: »Die nationalen Spezifika, die den jeweiligen Lehrplänen gemäß behandelt werden, sollten in ihrer Wechselwirkung erfasst, aufeinander bezogen und zuweilen auch miteinander konfrontiert werden.« Der Hauptgedanke der Autoren war, die Geschichte Europas und – soweit wie möglich – die allgemeine Geschichte darzustellen. Erst vor diesem Hintergrund sollen die Themen der nationalen Geschichte und der polnisch-deutschen Beziehungen entfaltet werden. Um dieses Ziel zu erreichen, wurde die Anwendung didaktischer Methoden empfohlen, die die Herausbildung eines kritischen Bewusstseins bei den Schülern befördern sollen. Auf diese Weise sollen die Schüler die Geschichte Europas aus einer anderen Perspektive entdecken als aus dem engen nationalen Blickwinkel. Es wurde darauf hingewiesen, dass die Geschichte Europas immer wieder auf die Geschichte der Gründerstaaten der Europäischen Union verengt wird, was eine nicht zu rechtfertigende Beschränkung der Geschichtsvermittlung darstellt. Das Ziel des gemeinsamen Schulbuchs soll sein, den Blickwinkel zu erweitern, um auf die Geschichte des Nachbarn auch mit dessen Augen blicken zu können, und auf Probleme aufmerksam zu machen, die in der bisherigen Schulpraxis gar nicht vorkamen. Auf diese Weise sollen die Schüler die Geschichte Europas und der Welt gewissermaßen neu entdecken, unabhängig von den im jeweiligen Land vorherrschenden nationalen Interpretationen. Dazu heißt es in den Empfehlungen: Das Lehrwerk kann »Orientierung geben und dafür sensibilisieren, was zu verschiedenen Zeiten und aus verschiedenen Perspektiven als Europa und europäisch verstanden worden ist und heute verstanden wird. Das Schulbuch, so der Wunsch des Expertenrates, sollte die Vielgestaltigkeit Europas und die Pluralität von europäischen Erinnerungskulturen sichtbar machen und in altersgemäßer Weise den Blick dafür schärfen, wie Geschichte geschrieben und historische Erinnerung konstruiert wird. Damit kann es zugleich für die Gefahren sensibilisieren, die mit einem ideologischen oder politischen Gebrauch von Geschichte verbunden sein können.«
Zweifelsohne haben diese Empfehlungen den künftigen Autoren des Schulbuchs sehr ambitionierte Ziele gesteckt. Ausgehend von den verbindlichen Lehrplänen und den nationalen Traditionen sollen sie einen neuen Blick auf die Geschichte Europas und der Welt entwickeln und vor diesem Hintergrund auf die Geschichte ihrer eigenen Nationen. Dabei soll die nationale Geschichte nicht negiert werden, sondern es wurde angeregt, sie kritisch und aus unterschiedlichen Perspektiven zu durchdenken.
Die Vorstellung der Empfehlungen im Dezember 2010 in Warschau stieß auf lebhaftes Interesse seitens der Lehrer. Bedauerlich ist aber, dass die Ergebnisse der monatelangen Arbeit auf ungleich weniger Interesse der Medien trafen. Dies ist umso verwunderlicher, als der Beginn der Arbeiten von viel Aufmerksamkeit und sogar Protesten, insbesondere in Polen, begleitet worden war. Einige Zeitungen, die dem national-konservativen Lager nahe stehen, wie die Tageszeitungen »Rzeczpospolita« und »Nasz Dziennik«, hatten begonnen Alarm zu schlagen. Sentenzen wie »das Vergessen der nationalen Geschichte«, »der Verlust der eigenen Identität«, »politisches Instrument zur Geschichtsfälschung« oder »das Polentum opfern für eine relativistische Ideologie« geben den Ton der Kommentare wieder. Die Urheber dieser harten Bewertungen haben jedoch nicht öffentlich versucht, ihre Prognosen mit dem Inhalt der erarbeiteten Empfehlungen zu konfrontieren. Vielleicht war ein Grund dafür die Tatsache, dass die erste Arbeitsphase am gemeinsamen Schulbuch positiv abgeschlossen werden konnte. Wie sich gezeigt hat, sind Zusammenarbeit und ein konstruktiver Dialog möglich. Die Empfehlungen waren allgemein zugänglich, nichts wurde vor niemandem verbo(r)gen. Es wurde redlich gearbeitet und nichts gab Anlass, die öffentliche Meinung wegen einer angeblichen Gefährdung der »historischen Wahrheit« zu alarmieren.
Was wird nun weiter mit dem ambitionierten Vorhaben für die polnisch-deutschen Beziehungen geschehen? Zum Jahresanfang 2011 fand die Ausschreibung für die Bildung eines polnisch-deutschen Verleger-Tandems statt. Hier kam also der dritte Faktor ins Spiel. Trotz verschiedener Bemühungen konnten bisher keine interessierten Verlage gefunden werden. Von Anfang an war klar, dass die Verlage das ganze Unternehmen unter anderen Gesichtspunkten betrachten müssen, als dies Wissenschaftler und Politiker tun. Deutlich wird hier, dass nicht der Wille zur Zusammenarbeit, der Ehrgeiz dieser oder jener Wissenschaftler oder der politische Wille über den Erfolg des Projektes entscheiden wird, sondern schlicht und einfach die ökonomische Rechnung. Auf dem freien Markt, denn dazu gehören Schulbücher, entscheidet sich das Schicksal des polnisch-deutschen Schulbuchprojekts.
Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate