Die politischen Herausforderungen eines Erdölbooms: Ressourcenfluch und politische Stabilität in Russland

Von Andreas Heinrich, Heiko Pleines (beide Bremen)

Zusammenfassung
Dieser Beitrag diskutiert die politischen Herausforderungen, die durch den Ölboom in Russland entstanden sind. Dies betrifft besonders die Regulierung von ausländischen Direktinvestitionen, die Rolle staatlicher Energieunternehmen und die Verwaltung der Einnahmen aus den Rohstoffexporten. Die konkreten Maßnahmen in diesen Bereichen werden abschließend in den Kontext des politischen Regimes eingeordnet.

Einleitung

Gemäß der landläufigen Einschätzung müssten Staaten, die über natürliche Ressourcen in Form von Bodenschätzen verfügen, eine bessere Wirtschaftsentwicklung aufweisen als rohstoffarme Staaten. Trotzdem ist die tatsächliche Wirtschaftsentwicklung von rohstoffreichen Volkswirtschaften eher enttäuschend; Russland bildet hier keine Ausnahme. Die ersten wissenschaftlichen Konzepte, die sich mit diesem Phänomen auseinandersetzten, waren der Rentierstaatsansatz und der Ansatz der »holländischen Krankheit« (Dutch disease).

Der Rentierstaatsansatz wurde im Zusammenhang der Entstehung der Erdölstaaten des Mittleren Ostens entwickelt. Die Grundannahme ist, dass im Zuge eines Erdölbooms große externe Renten in eine Volkswirtschaft fließen, d. h. bedeutende Einnahmen (aus dem Export von Erdöl) erzielt werden, ohne dass größere Kapitalinvestitionen notwendig gewesen wären (da in einer Boomphase die Weltmarktpreise für Erdöl bedeutend höher als die Produktionskosten sind). Dieser Ansatz wurde zuerst 1970 von Hossein Mahdavy in einer vergleichenden Studie zum Iran benutzt. Er betonte, dass der große Anteil externer Renten am Staatshaushalt bedeutende Konsequenzen für das politische System eines Landes hat: “A government that can expand its services without resorting to heavy taxation acquires an independence from the people seldom found in other countries. However, not having developed an effective administrative machinery for the purposes of taxation, the governments of rentier states may suffer from inefficiency in any field of activity that requires extensive organizational inputs. In political terms, the power of the government to bribe pressure groups or to coerce dissidents may be greater than otherwise. By the same token, this power is highly vulnerable since the stoppage of external rents can seriously damage the government.”

Die negativen makroökonomischen Auswirkungen eines Rohstoffbooms werden unter dem Begriff »holländische Krankheit« zusammengefasst. Dieser Begriff wurde in den 1970er Jahren vom britischen Wochenmagazin »The Economist« geprägt, das die Wirtschaftsentwicklung der Niederlande nach Erdölfunden in der Nordsee untersuchte. Ausgangspunkt dieses Konzepts ist der Zufluss großer Mengen von Petro-Dollars, der zu einem Anstieg des Wechselkurses führt. Dies wiederum hat zwei entscheidende Konsequenzen: eine hohe Inflationsrate und eine verminderte internationale Wettbewerbsfähigkeit des heimischen Nicht-Rohstoffsektors, was potentiell zu einer Deindustrialisierung führen kann. Gleichzeitig beschäftigt die Öl- und Gasindustrie nur eine geringe Anzahl an Menschen und induziert keine Modernisierung oder Innovationsprozesse für die gesamte Volkswirtschaft eines Landes.

Seit den späten 1980er Jahren untersuchten viele makro-statistische Studien die Korrelation zwischen Rohstoffboom und vielfältigen länderspezifischen Indikatoren mit dem Ergebnis, dass der Reichtum an Rohstoffen die Wahrscheinlichkeit von negativen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen (z. B. eine schlechte Wirtschaftsentwicklung, steigende soziale Ungleichheit, verbreitete Armut, eine schwach entwickelte Demokratie, weit verbreitete Korruption und sogar die Gefahr von Bürgerkriegen) erhöht. In diesem Zusammenhang wurde in einem 1993 veröffentlichen Buch von Richard Auty der Begriff des Ressourcenfluchs (resource curse) gebraucht. Diese Literatur hat sich als sehr einflussreich erwiesen: die Idee, dass Ressourcenreichtum schlecht für die Entwicklung eines Landes sei, ist heute weitgehend akzeptiert.

Nach mehr als zwei Jahrzehnten der Forschung ist es allerdings noch immer nicht gelungen, endgültige Aussagen über die Effekte – geschweige denn über die Kausalmechanismen – des Ressourcenfluchs zu produzieren. Die widersprüchlichen Ergebnisse sind vor allem der sehr unterschiedlichen Qualität des Zahlenmaterials, der Operationalisierung der Variablen und der Konstruktion statistischer Modelle geschuldet. Bei der Analyse regionaler Unterschiede kommt Thad Dunning (2008) zu dem Ergebnis, dass Rohstoffe in vielen Regionen der Welt einen nachteiligen Einfluss ausüben, sich aber ein deutlich positiver politischer Einfluss auf die Entwicklung in Lateinamerika nachweisen lässt. Desweiteren haben einige rohstoffreiche Staaten, allen voran Norwegen, einen Ressourcenboom sehr gut gemeistert und die negativen Auswirkungen abgewendet oder zumindest abgeschwächt.

Das Konzept der resource challenges

Aus diesem Grunde bildet sich in der wissenschaftlichen Literatur zunehmend ein Konsens heraus, wonach schwache Institutionen zentral für die Erklärung der negativen Effekte eines Rohstoffbooms sind. Demnach sind die negativen Konsequenzen eines Ressourcenbooms keineswegs ein unabwendbarer »Fluch«, sondern vielmehr ein Phänomen, das durch adäquate Politikentscheidungen bearbeitet werden kann. Wenn man aber davon ausgeht, dass bestimmte Erscheinungsformen des Ressourcenfluchs durch Politikentscheidungen beeinflusst werden können, dann wird der politische Entscheidungsprozess zu einem wichtigen Erklärungsfaktor. Daher erscheint es angemessen, von resource challenges, verstanden als Herausforderungen eines Rohstoffbooms an Politikgestaltung, anstatt von Ressourcenfluch zu sprechen.

So sind mehrere Gruppen von Herausforderungen identifizierbar, die durch einen Erdöl-/Erdgasboom ausgelöst werden können. Um die Vergleichbarkeit der verschiedenen Politikentscheidungen bezüglich ähnlich gelagerter Herausforderungen zu gewährleisten, ist es sinnvoll, die resource challenges nach Politikfeldern zu sortieren und die Entwicklung der Politikentscheidungen im Zeitverlauf zu untersuchen. Natürlich sind diese Politikfelder miteinander verwoben und Entscheidungen in einem Feld beeinflussen die Politikentscheidungen in anderen Politikfeldern.

Eine der grundlegendsten resource challenges besteht darin, die Kontrolle über die Bodenschätze sicherzustellen, indem das staatliche Gewaltmonopol und das staatliche Eigentum über die Bodenschätze oder die staatliche Verfügungsgewalt über den Erlös ihres Verkaufes garantiert wird. Diese staatlichen Ansprüche können durch andere Staaten unterwandert werden, die die Rohstoffabbaugebiete zu annektieren suchen, durch separatistische Bewegungen in den Förderregionen oder durch bewaffnete Banden, die mit Gewalt versuchen, Rohstoffrenten zu extrahieren. In Falle von offshore-Vorkommen kann die Regelung von Eigentumsrechten internationalem Recht und internationaler Schiedsgerichtsbarkeit unterliegen.Eine weitere Gruppe von Herausforderungen stellt die Regulierung der Rohstoffproduktion dar, angefangen bei der Vergabe von Eigentums- und Nutzungsrechten über Besteuerung und ausländische Direktinvestitionen bis hin zu Umweltschutzauflagen, sowie die Verhandlungen mit ausländischen Investoren und die Frage der Errichtung eines staatlichen Förderunternehmens.Eine dritte Gruppe umfasst die Errichtung einer Exportinfrastruktur, da sich ein Öl-/Gasboom nur entwickeln kann, wenn ein Großteil der Produktion exportiert wird. Für die meisten erdölproduzierenden Länder beinhaltet dies lediglich die Schaffung von geeigneten Hafenanlagen. Einige Erdölproduzenten verfügen aber nicht über einen Zugang zum offenen Meer; sie sind auf den Bau von Exportpipelines angewiesen. Dasselbe gilt für die meisten Erdgasproduzenten, da Pipelines für Erdgas weiterhin die mit Abstand kostengünstigste Transportmöglichkeit darstellen.Weitere Herausforderungen betreffen die Verwaltung der durch den Rohstoffexport erzielten Einnahmen. Dies umfasst zum einen die Herausforderungen, die mit der »holländischen Krankheit« beschrieben werden, und zum anderen die Entwicklung einer Haushaltpolitik, die festlegt, wie die Einnahmen verwendet werden und welcher Teil unter welchen Bedingungen dem Staatshaushalt zugeführt wird. In autoritären Regimen können die Einnahmen aus dem Rohstoffexport genutzt werden, um die Regimestabilität zu erhöhen, wie dies vom Rentierstaatsansatz beschrieben wurde.Die fünfte Gruppe der resource challenges umfasst die effektive Implementierung der entwickelten Politikkonzepte (unabhängig von ihren spezifischen Inhalten). Das Hauptaugenmerk liegt hier auf Verwaltungsreformen oder Anti-Korruptionsmaßnahmen, da der Zufluss von Petro-Dollars das Risiko von Veruntreuung und Bestechung dramatisch erhöht.Die letzten beiden Gruppen von Herausforderungen, die langfristiger Natur sind, beziehen sich auf eine Industriepolitik zur Diversifizierung der Volkswirtschaft jenseits des Rohstoffsektors und auf die sozioökonomische Entwicklung zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung.

Natürlich sind – abhängig von den länderspezifischen Bedingungen – nicht alle dieser resource challenges relevant und manche sind drängender als andere. Das bedeutet, dass jedes Land, welches einen Ressourcenboom erlebt, mit einer sehr spezifischen Kombination von Herausforderungen und Problemen konfrontiert ist. Zudem reagieren verschiedene politische Akteure zum Teil sehr unterschiedlich auf dieselben Herausforderungen, wodurch sich das Ergebnis von Politikentscheidung verändert. Diese Sachverhalte bringen ein dynamisches Element in das Konzept der resource challenges. Kurzfristig kann ein Wechsel in der Führung eines Landes (oder selbst die Tatsache, dass ein Staatsführer seine Meinung ändert) dazu führen, dass ein Politikwechsel bezüglich der resource challenges eintritt. Langfristig kann sich auch die Kombination der Herausforderungen oder die Dringlichkeit ihrer Bearbeitung ändern.

Resource challenges im post-sowjetischen Raum

Die länderspezifischen Bedingungen für Russland, meist eine Hinterlassenschaft der Sowjetzeit, bestimmen weitestgehend die relevanten resource challenges. Da die Produktion der sowjetischen Erdöl- und Erdgasindustrie im Landesinneren in Westsibirien konzentriert war, erlangte die Sowjetunion nie die Fähigkeiten zur offshore-Produktion. Die Wirtschaftskrise in der Folge des Zusammenbruchs der Sowjetunion führte zu Kapitalengpässen für große Explorations- und Entwicklungsprojekte im Energiesektor. Fehlende Finanzmittel, unzureichende Technologie und mangelnde Erfahrung schufen ein starkes Bedürfnis nach ausländischen Direktinvestionen (FDI). Gleichzeitig existierten keine rechtlichen Regelungen bezüglich Eigentumsrechten und Investitionen. Die resource challenges der Regulierung des Erdöl- und Erdgassektors waren deshalb für Staaten der ehemaligen Sowjetunion von besonderer Wichtigkeit.

Die Erfahrungen von Hyperinflation, schwachen Finanzinstitutionen und geringer internationaler Wettbewerbsfähigkeit machten Russland zudem besonders anfällig für die »holländische Krankheit« und von daher die Verwaltung der Finanzflüsse aus den Rohstoffexporten umso wichtiger. Zudem zeichnet sich die weiterhin sowjetisch geprägte Bürokratie durch schwache Verwaltungskapazitäten aus und auch die Bekämpfung der Korruption stellt eine wichtige Herausforderung dar.

Die Fördergebiete von Erdöl und Erdgas befinden sich weit entfernt von Verladehäfen und Absatzmärkten, was zur Folge hat, dass Exporteinnahmen nur generiert werden können, wenn ein funktionierendes System von Exportpipelines zur Verfügung steht.

Die Nostalgie großer Teile der Bevölkerung für das sowjetische Wohlfahrtssystem hat desweiteren das Potential, Druck auf die politische Führung auszuüben und die Verbesserung der sozioökonomischen Bedingungen oder zumindest die Beibehaltung großer Teile des sowjetischen Sozialsystems zu fordern.

Die Regulierung von ausländischen Direktinvestitionen

Ohne vorhandene rechtliche Regelungen sahen alle post-sowjetischen Staaten Production sharing agreements (PSA) als bevorzugte Regelungen für FDI im Erdöl- und Erdgassektor an. Diese fallspezifischen Abkommen sind von administrativen und legislativen Änderungen im Gastland ausgenommen und bieten Investoren so weitreichende Sicherheiten.

Auch wenn Gastland und (ausländischer) Investor komplementäre Interessen haben, beide profitieren von einer steigenden Erdöl-/Erdgasproduktion, haben diese Gemeinsamkeiten ihre Grenzen. Einerseits können große multinationale Unternehmen einen Informationsvorteil haben, da sie oft über bessere Kenntnisse der Förderstätte verfügen und somit die finanziellen und technischen Notwendigkeiten sowie die möglichen Gewinne besser abschätzen können. Andererseits erfordert die Förderung von Erdöl und Erdgas hohe Kapitalaufwendungen. Dadurch ist das Gastland in der Lage, bereits getätigte Investitionen als »Geisel« zu nehmen und einen größeren Anteil an den Gewinnen einzufordern und/oder die Eigentums- und Nutzungsrechte des Investors mittels Enteignung zu verringern.

Der russische Staat hat sich als bemerkenswert unentschlossen in Bezug auf ausländische Direktinvestitionen in der Erdöl- und Erdgasindustrie erwiesen, hin und hergerissen zwischen dem dringenden Bedarf an Investitionen zur Modernisierung eines der wichtigsten Wirtschaftssektoren des Landes und der Angst, die Kontrolle über diesen wichtigen Sektor an ausländische Investoren zu verlieren. Welcher dieser beiden Aspekte gerade die Oberhand gewann, hing von der jeweiligen politischen und ökonomischen Situation des Landes ab. Bis 1992, als die Begeisterung für marktwirtschaftliche Reformen noch anhielt, wurden die rechtlichen Grundlagen für die Gründung von Gemeinschaftsunternehmen (joint ventures) gelegt. Als aber die öffentliche Meinung umschwenkte und eine anti-kapitalistische Stimmung um sich griff, wurden die Restriktionen für ausländische Investitionen verschärft. Nach der Finanzkrise von 1998 waren ausländische Investoren allerdings die einzig mögliche Kapitalquelle; daher wurde eine attraktive PSA-Regulierung umgehend eingeführt. Wachsende Einnahmen durch den starken Anstieg des Weltmarktpreises für Erdöl haben das Interesse an ausländischen Direktinvestitionen in Russland in den 2000er Jahren aber wieder abkühlen lassen. Im Zuge eines Ressourcennationalismus hat sich vielmehr die Rolle staatlicher Energieunternehmen wieder erhöht.

Russland liegt damit in einem internationalen Trend: die Verlockung enormer Profite hat viele erdölproduzierende Länder dazu veranlasst, zu versuchen, ihren vertraglich festgeschriebenen Anteil an den Einnahmen zu erhöhen, oft unter Verletzung der Rechte der Investoren. Russische Behörden bemühten sich, den Anteil des Landes an den Erdöl-/Erdgaseinnahmen zu erhöhen, indem die Rechte der an den Projekten beteiligten ausländischen Unternehmen unterminiert wurden, z. B. durch Anschuldigungen, die Umweltauflagen verletzt oder vertragliche Verpflichtungen nicht erfüllt zu haben. Sobald aber die Verträge zugunsten der russischen Seite umgeändert waren, wurden diese Anschuldigungen schnell fallengelassen. Dadurch haben russische Unternehmen mittlerweile in allen Erdöl- und Erdgasförderprojekten im Land eine führende Rolle eingenommen.

Die Förderung nationaler Erdöl- und Erdgasunternehmen

Als ein Instrument, um eine dominante Rolle bei der Ausbeutung der Rohstoffvorkommen einzunehmen und die notwendigen Kenntnisse und Erfahrungen für ihre Förderung zu erlangen, dienen nationale Förderunternehmen, die gleichzeitig gewährleisten, dass die Regierung die Souveränität und Kontrolle über die heimischen Bodenschätze behält.

Während in der russischen Erdgasindustrie das Monopolunternehmen Gazprom unter staatlicher Kontrolle verblieb, wurden große Teile der Erdölindustrie in den 1990er Jahren privatisiert. Es wurden auch keine Vorkehrungen getroffen, bestimmte Förderstätten ausschließlich für staatliche Unternehmen zu reservieren. Dies resultierte darin, dass sich der Anteil der staatlichen Unternehmen an der Erdölförderung auf unter 15 % im Jahre 2002 reduzierte. Während der Präsidentschaft von Wladimir Putin wurde dieser Trend allerdings gestoppt und die Unterstützung der Regierung für die staatlichen Förderunternehmen im Rahmen des Ressourcennationalismus führte dazu, dass sich der Förderanteil staatlicher Unternehmen zwischen 2004 und 2007 verdreifachte (siehe Grafik 1 im Anschluss an diesen Beitrag). In der Ölindustrie wurde diese Trendwende vor allem durch politischen Druck und dubiose juristische Maßnahmen herbeigeführt. Die Jukos-Affäre ist dafür wohl das bekannteste Beispiel. In der Folge wurde das staatliche Ölunternehmen Rosneft zum führenden Akteur der russischen Erdölindustrie.

Viele Experten betrachten die dominierende Rolle staatlicher Unternehmen als einen Hauptgrund für ineffizientes Rohstoffmanagement. Diese Ansicht setzt allerdings Wettbewerbsmärkte voraus. Der Rohstoffsektor ist aber grundsätzlich durch die Dominanz einiger weniger Unternehmen gekennzeichnet. Zudem erschweren extreme economics of scale den Eintritt neuer Firmen in den Sektor. In seiner Analyse der Rolle von Staatsunternehmen im Erdöl- und Erdgassektor kommt Joseph Stiglitz (2007) deshalb zu dem Ergebnis, dass in einem solchen Umfeld Privatunternehmen nicht notwendigerweise effizienter arbeiten als Staatsunternehmen. Vielmehr komme es auf die institutionellen Rahmenbedingungen und die politische Einstellung der jeweiligen Regierungen an, ob ein Energiesektor effizient funktioniere.

Im Russland wird die Effizienz staatlicher Förderunternehmen durch drei Faktoren herabgesetzt. Erstens fehlt den Unternehmen organisatorische Stabilität als Folge regelmäßiger struktureller »Reformen« und Personalwechsel. Zweitens bürdet die Regierung den Unternehmen Aufgaben auf, die normalerweisen nicht in ihr Kerngeschäft fallen, wie z. B. regulatorische Aufgaben und die Bereitstellung von subventionierten Leistungen für die Industrie und soziale Institutionen. Dadurch wird die wirtschaftliche Leistungskraft der Unternehmen gravierend beeinträchtigt. Drittens dienen Staatsunternehmen oft als »Selbstbedienungsladen« für die politischen Eliten, die eigentlich mit der Überwachung der Firmen beauftragt sind. Ein Bericht des Warschauer Zentrums für Oststudien kommt zu dem Ergebnis: “The process of Gazprom’s assets being taken over by private companies and business partners from within Vladimir Putin’s closest circle is underway.” Neben Gazprom und Rosneft, die von der föderalen Regierung kontrolliert werden, ist auch das unter Kontrolle der Regionalregierung in Tatarstan stehende Erdölunternehmen Tatneft ein herausstechendes Beispiel für die negativen Aspekte von Staatsunternehmen.

Verwaltung der Rohstoffeinnahmen

Umfangreiche Zuflüsse von Devisen durch den Export von Rohstoffen machen die Haushaltssituation einer Volkswirtschaft höchst abhängig von teilweise sehr volatilen Weltmarktpreisen. Um für Zeiten des Preisverfalls gerüstet zu sein und um den Anstieg der Geldmenge durch den Devisenzufluss zu begrenzen (Gefahr der »holländischen Krankheit«), wurden vielfach Staatsfonds (sovereign oder national wealth funds) gegründet. Sie stellen eines der Hauptinstrumente zur Verwaltung der Devisenzuflüsse dar, die durch Rohstoffexport erzielt werden.

Russland hat einen solchen Staatsfond während der ersten Amtszeit von Präsident Putin erfolgreich eingerichtet. Der Fonds, welcher 2008 in zwei separate Fonds aufgeteilt wurde, hat eine beträchtliche Summe akkumuliert (siehe Grafik 2), während gleichzeitig die Staatsschulden stark abgebaut wurden (Grafik 3). Gemeinsam haben die beiden Fonds dazu beigetragen, offensichtliche Symptome der »holländischen Krankheit« abzuwehren und, möglicherweise sogar wichtiger, die Auswirkungen der internationalen Finanzkrise von 2008–09 auf die nationale Volkswirtschaft abzumildern.

Ein Team aus Technokraten hat die akkumulierten Einnahmen gegen die Ansprüche politischer Interessengruppen verteidigt. Trotz der ineffizienten und korrupten Staatsbürokratie können Politikentscheidungen in Russland erfolgreich umgesetzt werden, sofern diese direkt vom Präsidenten/Premierminister unterstützt und von einer kleinen Gruppe von Technokraten durchgeführt werden.

Weitere resource challenges

Die oben beschriebenen resource challenges können alle erdöl- und erdgasproduzierenden Länder treffen. Sie sind für die Länder der ehemaligen Sowjetunion nur insofern spezifisch, als dass sie dort besonders dringlich sind; dort musste nicht nur die spezielle Gesetzgebung für die Erdöl- und Erdgasindustrie, sondern die gesamte Gesetzgebung und Staatsverwaltung nach marktwirtschaftlichen Prinzipien neu geschaffen werden.

Zwei weitere resource challenges sind für Russland ebenfalls relevant. Die erste resource challenge ist typisch für den post-sowjetischen Raum: Da sich die meisten Förderstätten im Inland bzw. weit entfernt von internationalen Schifffahrtswegen befinden, sind post-sowjetische Erdöl-/ Erdgasproduzenten einige der wenigen, die stark von internationalen Exportpipelines abhängig sind. Das hat bedeutende Konsequenzen. Da es sich bei Exportpipelines um sehr langfristige Projekte handelt, hängen sie von der strategischen Kooperation sowohl mit Konsumentenländern als auch mit Transitländern ab. Daher haben Entscheidungen über den Bau von Exportpipelines immer auch eine geopolitische Dimension und sind Teil der Außenpolitik eines Landes.

Eine weitere wichtige resource challenge für Russland ist die Verbesserung der sozioökonomischen Entwicklung des Landes. Zum einen ist zwei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Regulierung der Erdöl- und Erdgasindustrie und der Anpassungsprozess an höhere Weltmarktpreise (verbunden mit einem Ressourcennationalismus) weitgehend abgeschlossen. Von daher haben die Herausforderungen, die von der Regulierung des Energiesektors ausgingen, an Wichtigkeit verloren; andere Herausforderungen werden nun als dringlich empfunden. Zum anderen hat der Ölboom der 2000er Jahre die russischen Staatsfonds stark anwachsen lassen, eine Entwicklung, die die Erwartungen der Bevölkerung auf eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen stark geschürt hat. Öffentlicher Druck ist in Russland deutlich spürbar. Obwohl die Regierung öffentliche Proteste zu unterbinden versucht, sind diese trotzdem möglich, wie die letzten Monate gezeigt haben.

Daher hat die russische Regierung einige populistische Transferleistungen für die Bevölkerung ins Leben gerufen (siehe auch Grafiken 4 und 5). Es sind aber auch Versuche unternommen worden, langfristige Projekte zur Verbesserung der sozioökonomischen Entwicklung zu erarbeiten. Bereits Mitte der 2000er Jahre begann Russland vier aus Mitteln der Staatsfonds finanzierte sogenannte nationale Projekte, die sich vor allem auf Infrastrukturprobleme konzentrieren. Zudem versucht die Regierung, die Modernisierung der Wirtschaft als Mittel zur Diversifizierung weg vom Rohstoffsektor voranzutreiben. Der Erfolg dieser langfristigen Strategien ist allerdings sehr gering. Das Haupthindernis sind Ineffizienz und Korruption in der Staatsbürokratie.

Politische Ziele

Russland hat sich als relativ effizient in der Bearbeitung von resource challenges erwiesen, sofern diese klar definierte und begrenzte Aufgaben technokratischer Natur darstellten, wie z. B. die Regulierung ausländischer Direktinvestitionen und die Verwaltung der Staatsfonds. Darum war es Russland möglich, die Erdöl- und Erdgasproduktion zu stabilisieren und die gravierendsten Symptome der »holländischen Krankheit« zu vermeiden.

Sobald die politischen Eliten allerdings in diese Aktivitäten eingreifen, entstehen ernsthafte Governanceprobleme, die in einer verringerten Effizienz und Nachhaltigkeit der getroffenen Politikentscheidungen und Regulierungen resultieren, sowohl bei den staatlichen Energieunternehmen als auch im sozialen Bereich. Auch die Beziehungen Russlands zu ausländischen Investoren haben darunter gelitten.

Bezogen auf das Ziel, die öffentliche Wohlfahrt zu fördern, weist Russland im Umgang mit dem Ölboom starke Defizite auf. Für die russischen Eliten scheint aber vielmehr der wahre Maßstab die Aufrechterhaltung der politischen Stabilität und die Steigerung persönlichen Reichtums und persönlicher Macht zu sein.

Das relativ stabile politische Umfeld unter Präsident Putin hat die Herausbildung größerer Elitennetzwerke ermöglicht, wobei oft zwischen Oligarchen und Siloviki unterschieden wird; ihre Zusammensetzung ist allerdings wesentlich komplexer. Es scheint, dass sich vielschichtige Patronagenetzwerke entwickelt haben, welche helfen, die politische Führung zu stabilisieren, indem potentielle Opponenten kooptiert werden. Diese Netzwerke, die in die verfassungsmäßigen Institutionen ausstrahlen und auf der Logik des meist bilateralen Austausches zwischen Patron und Klient basieren, spielen eine entscheidende Rolle für die Regimestabilität in Russland. Obwohl Rohstoffeinnahmen keine Vorbedingung für die Bildung von Patron-Klient-Beziehungen in der Politik darstellen, dienen die enormen Einnahmen aus dem Erdöl-/Erdgasboom durchaus dazu, diese Netzwerke attraktiver und dauerhafter zu machen und sie in die Lage zu versetzen, sich auszubreiten und breitere Schichten der Gesellschaft einzubinden.

Es ist nicht klar, inwieweit diese Netzwerke von der politischen Führung aktiv und bewusst geschaffen wurden oder inwieweit die politische Führung lediglich darin gescheitert ist, Elitengruppen daran zu hindern, sich zu bereichern. Diese Unklarheit ändert aber nichts an der Natur dieser Netzwerke. Obwohl die verschiedenen in den Netzwerken involvierten Gruppen häufig untereinander konkurrieren, betrachten sie doch alle den Präsidenten/Premierminister als ihren Patron und sind gewillt, ihm Loyalität und Unterstützung im Gegenzug für den Zugang zu öffentlichen Ämtern und Staatseigentum zu gewähren.

Daher sind die oben beschriebenen Governanceschwächen (bezüglich der Förderung der öffentlichen Wohlfahrt) möglicherweise genau das, worauf es der Patron anlegt. Einerseits erlauben es die ineffiziente Verwaltung und die häufige politische Einflussnahme auf die Führung staatlicher Erdöl- und Erdgasunternehmen, Rohstoffeinnahmen für Patronagenetzwerke zur Verfügung zu stellen. Andererseits garantiert die Abschirmung der Verwaltung der Rohstoffeinnahmen durch die Staatsfonds von diesen Patronagenetzwerken, dass auch in der Zukunft Ressourcen zu verteilen sein werden. Gleichzeitig soll die Verwendung kleiner Teile des Rohstoffreichtums für Projekte, die der Allgemeinheit zugutekommen, verhindern, dass ernsthafte politische Proteste entstehen.

Diese Feststellungen haben zwei wichtige Implikationen. Erstens sind die wahren Herausforderungen für post-sowjetische Rentierstaaten nicht der Mangel an Governancekapazitäten, wie der Wohlfahrtsansatz vermuten lassen würde. Die wahre Herausforderung ist vielmehr das Patronagesystem, welches schwache Governance bewusst fördert, so dass Eliten dies zu ihrem eigenen Vorteil ausnutzen können. Zweitens ist die Argumentation, dass das bestehende Governancesystem nicht tragbar ist, da es ineffizient und verschwenderisch mit den Finanzflüssen umgeht, nicht haltbar: Tatsächlich haben die politischen Führungen in den post-sowjetischen Rentierstaaten die Ressourcen sehr effizient genutzt, um weitreichende und tragfähige Patronagenetzwerke zu entwickeln, die in der Lage sind, die politische Stabilität in diesen Ländern aufrechtzuerhalten.

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