Die entstehende Supermacht
Nach der Wirtschaftskrise von 2008/09 könnte man die allgemeine Wahrnehmung Chinas in Russland als die einer freundlichen zukünftigen Supermacht charakterisieren. Mit wenigen Ausnahmen (u. a. Andrej Piontkowskij) wurde China als ein Staat wahrgenommen, der sich auf die Herausforderungen konzentriert, die sich aus den inneren Entwicklungen ergeben, und dessen internationale Position noch nicht der jüngst gewonnenen Macht entspricht. Darüber hinaus gibt es großes Verständnis und Anerkennung für die von Peking signalisierten Versuche, in der internationalen Politik ein gewichtigeres Wort mitzureden, sowie hinsichtlich Chinas Durchsetzungsvermögen in Ostasien und innerhalb der globalen Ordnung. Wegen seiner materiellen Ressourcen und des bisherigen Tempos seines Aufstiegs wird China als potentiell gleichstark mit den Vereinigten Staaten eingeschätzt. Gleichzeitig sehen die meisten russischen Experten keine Entwicklung zu einer globalen Führungsrolle Chinas oder eine gemeinsame chinesisch-amerikanische »Herrschaft« voraus. Chinas Platz in einer zukünftigen post-amerikanischen Ordnung wird in einem »globalen Führungsclub« gesehen, zu dem auch andere Großmächte gehörten, darunter Russland.
Dieses Bild von China als zukünftiger Supermacht, die nur den USA nachsteht, ruft bei den russischen Beobachtern eine Mischung aus Neid und Faszination hervor. Die chinesischen Leistungen werden als reale Alternative zum westlichen Modell gefeiert. Ungeachtet aller alten und neuen Herausforderungen, etwa der zunehmenden (sozialen) Ungleichheit oder des zuletzt abgeschwächten Wirtschaftswachstums wurde der Aufstieg Chinas als Beispiel einer erfolgreichen und flexiblen »Modernisierung von oben« gelobt. Nach der erfolgreich vollzogenen Machtübergabe an die fünfte Generation der politischen Elite wird das Potential für eine innenpolitische Destabilisierung als gering eingestuft, insbesondere im Vergleich zu Russland nach den Protesten von 2011/12.
Die Wahrnehmung Chinas als potentielle Supermacht kann nicht von dem Bild getrennt werden, das Russland von sich selbst hat. Das Bild von China wird zu einem großen Teil durch die zunehmende Enttäuschung über Russlands Stagnation im innen- wie außenpolitischen Bereich beeinflusst. Für Putins Gegner versinnbildlicht Chinas Aufstieg all die Möglichkeiten, die Russland im vergangenen Jahrzehnt ausgelassen hat. Die Befürworter des derzeitigen Regimes sehen eine Notwendigkeit, Chinas praktische Politik nachzuahmen, insbesondere in Bezug auf das politische System und die Rolle des Staates in der Wirtschaft.
Neue Führung, neue Politik
Der Wechsel an der chinesischen Führungsspitze, der im März 2013 vollzogen wurde und mit der Entscheidung gepaart war, die erste offizielle Visite des neuen Führers Xi Jinping in Moskau abzustatten, hat in den Medien und Expertenkreisen Russlands für ein erhöhtes Interesse an China gesorgt. Während die russische Regierung die Kontinuität in den Beziehungen zwischen den beiden Mächten lobte und unterstrich, dass diese noch nie so eng gewesen seien, neigten die meisten Beobachter zu der Ansicht, dass die chinesische Innen- und Außenpolitik einen bedeutsamen Wandel erfahren werde.
Die Richtung, in der sich die Politik Chinas entwickeln wird, bleibt unklar. So sollte es nicht überraschen, dass die Idee eines »chinesischen Traumes von der großen Renaissance der chinesischen Nation«, die Xi Jinping kurz nach seiner Bestätigung als Präsident vorgetragen hat, von russischen Kommentatoren intensiv diskutiert wurde. Der »chinesische Traum« wurde als wegweisend für eine nationalistischere und selbstbewusstere Politik verstanden. Die bevorstehende Amtszeit von Xi, in die auch der hundertste Jahrestag der Gründung der Kommunistischen Partei im Jahr 1921 fallen dürfte, wird als förderlich für eine robustere Politik interpretiert, die sowohl den aktuellen Politbüromitgliedern einen Platz in der chinesischen Geschichte sichern, als auch die wachsenden Ansprüche der chinesischen Gesellschaft befriedigen soll. Die aus russischer Sicht wahrscheinlichsten Felder einer solchen Politik sind die endgültige Wiedervereinigung der chinesischen Länder (die praktisch die Unterwerfung von Taiwan bedeutete) und ein Umbau des gegenwärtigen sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungsmodells, damit die Wirtschaft weniger exportorientiert und stärker durch die Binnennachfrage vorangetrieben wird. Während eingeräumt wird, dass China sich vor allem den inneren Herausforderungen widmen dürfte, wird auch angenommen, dass Peking sich mehr auf der internationalen Bühne engagieren und dabei über das enge Verständnis von nationalem Interesse hinausgehen wird, von dem die chinesische Außenpolitik bislang geleitet wurde.
Die jüngste Steigerung des chinesischen Selbstbewusstseins gegenüber seinen Nachbarn und den USA ist der Aufmerksamkeit der russischen Beobachter nicht entgangen. Es wurde registriert, dass Peking seinen Nachbarn gegenüber weniger zurückhaltend ist und sich offener der Dominanz der Vereinigten Staaten in Ostasien entgegenstellt. Gleichzeitig wurde die aktivere Mitarbeit Chinas bei der Lösung internationaler Krisen, etwa im Nahen und Mittleren Osten oder in Mali, als Streben nach größerem globalem Ansehen interpretiert. Diese Entwicklung in der chinesischen Außenpolitik wurde zum einen der wachsenden wirtschaftlichen und militärischen Macht zugeschrieben. Zum anderen wurde es auf die innere Entwicklung des Landes zurückgeführt, zu der unter anderem die Stärkung der Militärs und der Hardliner insgesamt wie auch die Zunahme des Nationalismus in der chinesischen Gesellschaft gehören. Die Modernisierung des Militärs ist in russischen Expertenkreisen sehr aufmerksam und mit Sorge verfolgt worden, obwohl keine Übereinstimmung darüber herrscht, wie es um die tatsächliche Leistungsfähigkeit der chinesischen Streitkräfte bestellt ist. Vielmehr ist es das Potential des chinesischen Nationalismus, dem die Führung des Landes nachgeben musste, das die Beobachter in Russland noch stärker zu beunruhigen scheint als ein »Upgrading« des Militärs.
Bisher geht man in Russland jedoch davon aus, dass die Hauptstoßrichtung der chinesischen Hardliner (und der Gemäßigten) gegen die Position der USA in Ostasien geht. Die Rivalität zwischen China und den USA wird als feste Größe angenommen. Ungeachtet des Grades an wechselseitiger Abhängigkeit zwischen den beiden Staaten wird das Denken in Russland von der geopolitische Logik eines Nullsummenspiels zwischen Washington und Peking dominiert. Der letztendliche Ausgang des Wettstreits zwischen China und den USA wird als entscheidende Entwicklung für die Zukunft der regionalen und globalen Ordnung betrachtet.
Russland wird (noch) von China gebraucht
Die Wahrnehmung von China als zukünftiger Supermacht hat dazu geführt, dass die zunehmende Ungleichheit zwischen Peking und Moskau mittlerweile weitgehend akzeptiert wird. Die Analytiker in Russland erkennen, dass Moskau in seinen 300-jährigen Beziehungen zu China erstmals der schwächere Partner geworden ist. Das vorherrschende Narrativ im russischen Diskurs über China lautet jedoch, dass Peking immer noch Moskaus Unterstützung braucht, um ganz nach oben aufzusteigen.
Die Rolle Russlands in Bezug auf China wird meist als die eines strategischen Hinterlandes und eines ungefährlichen Nachbarn im Norden skizziert. Die beiden Gruppen russischer Kommentatoren – diejenigen, die sich auf geopolitische Argumentationen stützen, und jene, die sich auf die wirtschaftlichen und Energieaspekte in den bilateralen Beziehungen konzentrieren – stimmen darin überein, dass Russland ein wichtiger Partner für China bleiben wird. Eine enge Zusammenarbeit mit Russland stärke Chinas Position gegenüber den Vereinigten Staaten, insbesondere angesichts deren Hinwendung nach Asien. Was den Energiebereich anbetrifft, so verfüge Russland über das Potential, China mit relativ sicheren und stabilen (insbesondere im Vergleich zu maritimen Routen) Öl- und Gaslieferungen zu versorgen. Russlands relativ ruhiger Umgang mit der chinesischen Präsenz auf dem Energiesektor der zentralasiatischen Erzeugerländer sorge für weitere Anreize der Zusammenarbeit zwischen den beiden Mächten.
Ungeachtet der Bedeutung Russlands für China haben die meisten Kommentatoren in Russland die Möglichkeit einer antiwestlichen Allianz zwischen den beiden Staaten verworfen. Die Einschätzungen gehen dahin, dass Russland nicht in der Lage ist, die USA oder die ASEAN-Staaten als Chinas Handelspartner zu ersetzen. Weder Moskau noch Peking schienen in der Lage zu sein, globale Herausforderungen allein zu bewältigen. Der Wille, sich die Bewegungsfreiheit zu erhalten, sowie das fehlende Interesse, offen die USA zu konfrontieren, verringere zusätzlich die Anreize für ein Militärbündnis. Wie einige Analytiker, beispielsweise Sergej Karaganow meinen, sollte Moskau darüber hinaus nicht nur von dem Streben nach einem Bündnis mit Peking Abstand nehmen, sondern zudem als ausgleichende Kraft zwischen China und den USA agieren. Das Russland von heute wird mit dem China der 1970er und 1980er Jahre verglichen, das damals als schwächstes Element des Dreiecks gleichwohl in der Lage war, die geopolitische Dynamik zu beeinflussen. Eine Situation, in der Russland zwischen diesen beiden Staaten wählen müsste, gilt als das problematischste Szenario für Moskau.
Langfristig droht Ungewissheit
Wenn der Ton der russischen Diskussion hinsichtlich der kurzfristigen Aussichten im Großen und Ganzen optimistisch zu sein scheint, so überwiegt bei den langfristigen Aussichten Unsicherheit. Der wichtigste Grund ist hier das Misstrauen, dass nach Ansicht von Anhängern wie Gegnern einer Zusammenarbeit mit China nicht überwunden sei – trotz der Fortschritte, die über die letzten zwei Jahrzehnte in den bilateralen Beziehungen erzielt wurden. In der Unsicherheit über die langfristigen Perspektiven sind in der russischen Wahrnehmung Chinas zwei Linien vorherrschend.
Zum einen sind da diejenigen, die gegen engere Beziehungen zwischen Russland und China eintreten und argumentieren, dass dies nur den chinesischen Interessen dienen würde. Sie fürchten, dass eine wirtschaftliche Abhängigkeit Russlands sich in eine politische verwandeln könnte. Das beruht auf der Einschätzung, dass Peking nicht willens ist, Moskau irgendwelche Zugeständnisse zu machen, und bei Verhandlungen eine weitreichende Unbeweglichkeit demonstriert. Darüber hinaus werden in der chinesischen Politik Elemente wahrgenommen, die als aktive Interessenpolitik zum Schaden Russlands interpretiert werden, beispielsweise das Vordringen in den postsowjetischen Raum (nicht nur in Zentralasien, sondern auch im westlichen Teil der GUS), die Aktivitäten in der Arktis oder die Modernisierung des Militärs. Die Beschreibung Russlands als Chinas »Ressourcenanhängsel« fasst diese Befürchtungen zusammen. Peking wird als ein unzuverlässiger, wenn nicht gar potentiell aggressiver Partner betrachtet.
Die Befürchtungen in Bezug auf die langfristige Entwicklung werden allerdings nicht nur von chinaskeptischen Beobachtern geäußert. Selbst jene Beobachter in Russland, die die gegenwärtigen Beziehungen als exzellent loben, würden dieses Bedrohungsszenario zumindest teilweise unterschreiben. Russlands Ferner Osten und Sibirien gelten hier als die wahrscheinlichsten Quellen für zukünftige Spannungen mit China. Es wird allerdings eingeräumt, dass dies eher an der Passivität der russischen Regierung liegt, denn an einer zielgerichteten chinesischen Politik. Das Fehlen einer umfassenden Entwicklungsstrategie der russischen Regierung für diese Regionen drohe, Russland entweder in eine Konfrontation mit China zu treiben oder die russischen Interessen den chinesischen Prioritäten unterzuordnen.
Wie bei der aktuellen Wahrnehmung Chinas ist auch die Einschätzung der langfristigen Aussichten mit dem Bild von Russland selbst verwoben. Die zukünftige Gestalt der Beziehungen hängt gleichermaßen davon ab, welche Politik und Strategien Moskau umsetzt und wie sich die politische und wirtschaftliche Entwicklung in China gestaltet. China wird – wie bereits der Westen – für Russland zu einem weiteren Gegenüber, durch das es sich definieren kann.
Übersetzung: Hartmut Schröder