Staatenlosigkeit nach dem Zusammenbruch der UdSSR

Von Olga R. Gulina (RUSMPI UG, Institute on Migration Policy, Berlin)

Die Staatsbürgerschaft stellt eine rechtliche Verbindung zwischen Staat und Individuum dar, die dem Individuum die Ausübung seiner Rechte und Freiheiten garantiert, ihm Pflichten auferlegt und Schutz gewährt. Die Staatenlosigkeit hingegen bezieht sich auf eine Situation, in der ein Staat eine Person nicht als Staatsbürger im Sinne des Gesetzes anerkennt (De-jure-Staatenlosigkeit) oder wenn die Staatsbürgerschaft einer Person unwirksam ist (De-facto-Staatenlosigkeit).

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR waren die Probleme der Staatenlosigkeit in den neuen unabhängigen Staaten weitreichend: In einigen Staaten – Lettland, Estland, Usbekistan – wurden einzelne Personen zu Nicht-Staatsbürgern im Sinne der neuen Gesetze und unterlagen damit Diskriminierungen. In anderen Post-sowjetischen Staaten – Russland, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan – befanden sich Hunderttausende Bürger der ehemaligen UdSSR in einer Situation der Staatenlosigkeit, da die Staatsbürgerschaft der von der Weltkarte verschwundenen UdSSR für sie unwirksam war und die Staatsbürgerschaft der neuen unabhängigen Staaten unzugänglich wurde.

Staatenlosigkeit de jure

Beide Formen bringen eine schwerwiegende Einschränkung von Rechten mit sich, so z. B. in Lettland, wo Staatenlose von Wahlen, einigen Kirchen- und Staatsämtern und einigen Rechtsberufen wie Anwalt oder Notar ausgeschlossen werden. In Estland ist es den Nicht-Staatsbürgern untersagt, Stellen in Behörden und kommunalen Selbstverwaltungen zu bekleiden, Notar, Gerichtsvollzieher, Patentanwalt, vereidigter Übersetzer, Schiffslotse u. a. m. zu sein.

Eine solche Unterscheidung und Aberkennung der staatsbürgerlichen Rechte wurden in Litauen nicht beobachtet, und dies ist weitgehend das Verdienst der offiziellen Behörden des Landes. Nachdem Litauen die Unabhängigkeit erlangt hatte, wurde per Gesetz ein recht einfaches Verfahren für den Erwerb der Staatsbürgerschaft festgelegt: Die Staatsbürgerschaft des Landes wurde jeder Person verliehen, die u. a. vom 09.01.1919 bis 15.06.1940 im litauischen Staatsgebiet lebte, sowie drei Generationen von Nachkommen – Kindern, Enkeln und Urenkeln – gewährt. Das Staatsangehörigkeitsgesetz der Litauischen SSR 1989 legte ferner fest, dass »sonstige Personen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes ihren ständigen Wohnsitz im litauischen Staatsgebiet und einen festen Arbeitsplatz oder eine dauerhafte legale Existenzgrundlage hatten, verpflichtet sind, ihre Staatsangehörigkeit binnen zwei Jahren frei zu bestimmen«. Dieser Ansatz ermöglichte es dem Land, die diskriminierende Spaltung der Gesellschaft in Bürger und Nicht-Staatsbürger zu vermeiden.

Im Gegensatz zu Litauen gab es in Lettland und Estland eine beträchtliche Zahl von Nicht-Staatsbürgern, aber ihr rechtlicher Status und das Interesse der Staaten an der Bekämpfung solcher diskriminierenden Praktiken waren auffallend unterschiedlich. Nach dem lettischen Gesetz »Über die Rechtsstellung ehemaliger Staatsbürger der UdSSR« ist ein Nicht-Staatsbürger eine Person, die weder die Staatsbürgerschaft Lettlands noch eines anderen Staates erworben hat und das Recht hat, einen von der Republik Lettland auszustellenden Nicht-Staatsbürger-Pass zu erhalten. In Estland gibt es keine gesetzliche Definition des Begriffs »Nicht-Staatsbürger«, da das Ausländergesetz von 1993 nicht zwischen Ausländern und Staatenlosen unterscheidet. Damit schaffen beide Staaten Rechtsgrundlagen, die es der letzten Generation von russischsprachigen Trägern des sowjetischen Passes schwierig machen, sich vollends zu integrieren und vollwertige Bürger des jeweiligen Landes zu werden.

2020 lebten in Lettland 1,9 Millionen Einwohner; 10,6 % bzw. 197.888 von ihnen waren Nicht-Staatsbürger, z. Vgl.: 1993 waren es 33,6 % bzw. 876.436 Menschen. Das Verfassungsgericht des Landes stellte 2005 sogar fest, dass der Status von »Nicht-Staatsbürgern« eine »neue, bisher unbekannte Kategorie von Personen« im Staatsgebiet des Landes darstellt. Das Verfassungsgericht konsolidierte regelmäßig die Rechtspraxis, wonach »Nicht-Staatsbürger« »weder als Staatsbürger, noch als Ausländer, noch als Staatenlose angesehen werden können«, da der Status des »Nicht-Staatsbürgers« ein stabiles Rechtsverhältnis zwischen der Republik Lettland und ihren »Nicht-Staatsbürgern« voraussetzt und damit die Situation der Staatenlosigkeit (im klassischen Sinne) ausschließt. Dieser Ansatz wurde von internationalen und europäischen Institutionen immer verurteilt. Im Jahr 2000 verabschiedete der lettische Seimas schließlich ein Gesetz, das die Verleihung des Nicht-Staatsbürgerstatus an Neugeborene verbietet, was jedoch nicht zu einer Verringerung von Nichtstaatsbürgern in anderen Altersgruppen führt. Die damit verbundenen Probleme überlässt man der Zeit.

Trotz einer Reihe von Maßnahmen des estnischen Staates gibt es in Estland immer noch das Phänomen der Nicht-Staatsbürger. 2016 entfielen in Estland auf 1,3 Millionen Einwohner sechs Prozent bzw. 82.000 Nicht-Staatsbürger; 2011 betrug der Anteil der Personen mit unbestimmter Staatsbürgerschaft sieben Prozent gegenüber 32 Prozent im Jahr 1992. Jahr für Jahr nimmt die Zahl der Nicht-Staatsbürger ab, da Nicht-Staatsbürger aktiv die Staatsbürgerschaft Russlands oder anderer neuer unabhängiger Staaten wie der Ukraine annehmen.

Das Parlament des Landes trägt durch die Änderung des estnischen Staatsangehörigkeitsgesetzes dazu bei, das Phänomen der Staatenlosigkeit im Land einzudämmen. Das Gesetz von 1998 erkannte das Recht auf die estnische Staatsbürgerschaft ohne obligatorische Ablegung der Prüfung in den Kenntnissen der Staatssprache für Minderjährige an, die nach dem 26.02.1992 in Estland geboren wurden und deren Eltern seit mindestens 5 Jahren in Estland lebten. Die Änderungen des Staatsangehörigkeitsgesetzes von 2019 haben auch den Zugang zur Staatsbürgerschaft für diejenigen, die in Estland studiert haben, und für diejenigen, die über 65 sind, vereinfacht. All diese aktiven Maßnahmen führen zu einem Rückgang der Zahl der Nicht-Staatsbürger in Estland, beseitigen jedoch nicht die diskriminierenden Praktiken der Verletzung der politischen, wirtschaftlichen und sonstigen Rechte von Nicht-Staatsbürgern.

Das usbekische Gesetz über die Staatsangehörigkeit von 1992 garantierte die Staatsbürgerschaft des unabhängigen Usbekistans nur denjenigen, die vor dem 28. Juli 1992 in Usbekistan ihren ständigen Wohnsitz hatten und dort registriert waren. Infolgedessen lebten 2019 97.346 Staatenlose im Land, von denen 49.228 Menschen (50,6 Prozent aller Staatenlosen im Land) nach dem Zusammenbruch der UdSSR staatenlos wurden. Das Phänomen der Staatenlosigkeit in Usbekistan hat keine ausgeprägte ethnische Konnotation, obwohl vor allem Einwohner der ehemaligen UdSSR, die wegen eines Bürgerkriegs in Tadschikistan ins benachbarte Usbekistan geflohen sind, und jene Sowjetbürger, die Anfang der 1990-er Jahre in das Land zurückgekehrt sind, statistisch gesehen keine Pässe im unabhängigen Usbekistan besitzen. Die Situation der Staatenlosigkeit soll durch die Neufassung des Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 13. März 2020 geändert werden.

Apatriden de facto

Das Völkerrecht hat unter dem Begriff »Apatride« lange Zeit nur eine Person verstanden, die nicht Staatsbürger eines Staates kraft seines Rechts werden kann. Nur in der Schlussakte des Übereinkommens von 1961 wurden Empfehlungen für die Staaten aufgenommen, die sicherstellen sollten, dass die Staaten die De-facto-Staatenlosen genau so wie die De-jure-Staatenlosen behandeln und ihnen die Möglichkeit geben, eine effektive Staatsbürgerschaft zu erwerben.

Von 2014 bis 2019 hat die kirgisische Regierung mit Unterstützung des UNHCR Aktivitäten unternommen, um im Land lebende Nicht-Staatsbürger zu identifizieren und ihnen die Staatsbürgerschaft zu verleihen. In dieser Zeit haben mehr als 13.700 Staatenlose und Personen mit unbestimmter Staatsangehörigkeit Pässe und Staatsbürgerschaft der Kirgisischen Republik erworben. Kirgisistan hat 2019 als erstes Land in Eurasien und weltweit diese Empfehlungen umgesetzt und das Problem der Staatenlosigkeit damit gelöst.

Bis heute sind im postsowjetischen Raum internationalen Experten zufolge 7.111 Einwohner Turkmenistans, 47.746 Einwohner Tadschikistans, 7.757 Einwohner Kasachstans Apartriden de facto, alle sind größtenteils Inhaber von UdSSR-Pässen. Es ist wichtig zu beachten, dass der Status eines Staatenlosen in Kasachstan und in Russland keine Verletzung der Rechte der Einzelperson mit sich bringt: Staatenlose und Staatsbürger haben die gleichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte. Damit gehen beide Staaten aktiv gegen die Diskriminierungen der letzten Generation von Sowjetbürgern ohne aktuelle Staatsbürgerschaft vor, auch wenn sie das Problem der Staatenlosigkeit durch die Vergabe von Staatsbürgerschaften nicht lösen können.

Fragen der Staatenlosigkeit sind politisch komplexe Themen, weshalb Länder aus verschiedenen Gründen den internationalen Konventionen zu Staatenlosigkeit und Rechten von Staatenlosen nicht beitreten. Belarus, Russland, Kasachstan, Tadschikistan und Usbekistan haben weder das Übereinkommen über die Rechtsstellung der Staatenlosen von 1954 noch das Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit von 1961 unterzeichnet. Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Lettland, Litauen, Moldawien, Turkmenistan und die Ukraine sind Vertragsparteien der beiden UN-Konventionen, die von ihnen Maßnahmen wie z. B. die Verleihung der Staatsangehörigkeit an jede geborene Person in ihrem Hoheitsgebiet, die sonst staatenlos wäre, einfordert.

Strategie Russlands: Fehler aus der Vergangenheit korrigieren

Der Zusammenbruch der UdSSR machte Hunderttausende von Sowjetbürgern zu Menschen ohne Heimat, Staatsbürgerschaft und Pässe. Die meisten von ihnen waren im Gebiet des neuen unabhängigen Russlands ansässig. Das Gesetz über die Staatsangehörigkeit der Russischen Föderation von 1991 war unvollkommen und erlaubte nicht jedem Bürger der ehemaligen UdSSR, der in der Russischen Föderation lebte, die russische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Nach dem damals geltenden Gesetz konnten Bürger der ehemaligen UdSSR mit alten Dokumenten in Russland leben, und die schrittweise Ersetzung sowjetischer Dokumente durch russische war bis Dezember 2005 möglich. All diese Faktoren zusammen führten dazu, dass es eine große Anzahl von Staatenlosen im Gebiet der Russischen Föderation gab. Laut Experten lebten in Russland im Jahr 2019 68.209 Staatenlose; 2018 – 75.679; 2017 – 82.148; 2016 – 90.771.

Im Jahre 2003 wurde Art. 14-4 des Staatsangehörigkeitsgesetzes geändert, der nun festlegte, dass ehemalige Staatsangehörige der UdSSR »in der Russischen Föderation vereinfacht eingebürgert werden, wenn sie ihren Wunsch bekunden, die Staatsbürgerschaft der Russischen Föderation zu erwerben«. 2014 wurde das erleichterte Verfahren zum Erwerb der russischen Staatsbürgerschaft auf alle »Muttersprachler der russischen Sprache« ausgeweitet. Heute wird ein Gesetzentwurf »Über die Wiedereinbürgerung in der Russischen Föderation« diskutiert, der allen Landsleuten, einschließlich der Staatsangehörigen der unabhängigen Staaten und Staatenlosen, die innerhalb und außerhalb des Gebietes der Russischen Föderation leben, das Recht auf die Wiedereinbürgerung oder Staatsbürgerschaft gewährt, wenn sie an der russischen Staatsbürgerschaft interessiert sind und die russische Sprache in der Familie und im Alltag frei verwenden.

Eine solche Ausweitung der russischen Pässe, die Gewährung der doppelten Staatsbürgerschaft für Bürger anderer postsowjetischer Staaten, können und sollten als Korrektur der Fehler der Vergangenheit und als neues Instrument des geopolitischen Einflusses Russlands betrachtet werden. Experten sind zuversichtlich, dass dieser Ansatz Russlands »ein Faktor ist, der den postsowjetischen Raum neu zementieren wird« und das Phänomen der Staatenlosigkeit sowohl in Russland selbst als auch in Eurasien indirekt ausrottet.

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