Memorial und die Hoffnung

Von Jens Siegert (Moskau)

Dies werden keine üblichen Notizen aus Moskau. Denn diese Notizen sind mit Herzblut geschrieben. Meinem ganz persönlichen Herzblut. Memorial ist in Gefahr. Nicht einfach nur in Gefahr (wie schon seit mindestens zehn Jahren), sondern in tödlicher Gefahr. In der Gefahr, vom russischen Staat unter Wladimir Putin einfach zugemacht zu werden. Und Memorial ist, ich schreibe das ohne jede Scham so pathetisch, das Herz eines demokratischen Russland.

Memorial ist nicht nur die wohl größte und eine der ältesten unabhängigen russischen NGOs, sondern auch ein Vorbild innerer Demokratie. Memorial lebt, mit allen Kämpfen und Brüchen, den schwierigen Weg, demokratische Regeln nicht nur nach außen zu fordern, sondern auch im Inneren einzuhalten. Das macht es manchmal ein wenig unbeweglich und ist mitunter ermüdend, aber auf Dauer dürfte es der erfolgreichere, auch der stabilere Weg (gewesen) sein. Genug der Dithyramben…

Am Nachmittag des 11. Novembers saßen wir im Konferenzsaal von Memorial in einer größeren Runde von etwa 20 Personen. Es ging darum, wie Memorial mit Fällen von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz umgeht und wie, ganz allgemein, ein diskriminierungsfreies Arbeitsumfeld sichergestellt werden soll. Anlass für die schon vor der Pandemie begonnene Diskussion waren weniger Vorfälle bei Memorial selbst (auch wenn es, fast möchte ich schreiben: natürlich, kleinere Beschwerden gegeben hat), sondern der Fall Andrej Jurow, der vor einigen Jahren die russischen NGO-Welt erschütterte. Der langjährige Vorsitzende einer sehr aktiven Menschenrechtsgruppe hatte zugegeben, oder besser: zugeben müssen, ihm untergebene Frauen in seiner Organisation sexuell bedrängt zu haben. Bei Memorial organisierte sich daraufhin eine vorwiegend aus jüngeren Mitarbeiter*innen bestehende Arbeitsgruppe, die ein Anti-Diskriminierungsstatut erarbeitete. Über die vergangenen zwei Jahre wurde es in unterschiedlichen Foren innerhalb von Memorial diskutiert und immer wieder überarbeitet. Die Runde am 11. November wollte noch einmal alle Punkte durchgehen, bevor das Statut an den Vorstand gehen sollte, um dort hoffentlich beschlossen zu werden.

Wir waren etwa bei der Hälfte des Statuts angekommen, als Jelena Schemkowa, die Geschäftsführerin von Memorial, die Diskussion mit den Worten unterbrach: »Wir haben einen Notfall!« Dann las sie eine just eingetroffene E-mail des russischen Obersten Gerichts vor. Die Generalstaatsanwaltschaft habe die Schließung (im russischen Original: »Liquidierung«) von Memorial International (MI) beantragt und die Verhandlung auf den 25. November angesetzt. Kurze Zeit später traf die Nachricht ein, dass vor dem Moskauer Stadtgericht schon am 23. November wegen der von der Moskauer Staatsanwaltschaft geforderten Schließung des Menschenrechtszentrums Memorial (MRZ) verhandelt werden solle. Allen Versammelten, darunter dem Vorstandsvorsitzenden des Dachverbands Memorial International Jan Ratschinskij, dem langjährigen Vorsitzenden des Menschenrechtszentrums und zahlreichen anderen Vorstandsmitgliedern, war sofort klar, dass das ein Generalangriff ist und es nun buchstäblich um Leben und Tod geht.

Wie so oft, gab es wohl niemand im Raum, die oder der damit nicht gerechnet, ja so einen Angriff irgendwann für wahrscheinlich gehalten hatte. Und trotzdem war die Welt, nachdem es nun passiert war, plötzlich eine andere. Die Vorstellung, dies alles, Memorial, das Archiv, die Bibliothek, den (zumindest einigermaßen) geschützten Raum am Moskauer Karetnyj Rjad zu verlieren, wurde augenblicklich sehr konkret. Im selben Moment (das ist keine Übertreibung) begann aber auch die Vorbereitung der Verteidigung. So wenig irgendjemand der Versammelten sich darüber Illusionen machte, dass der russische Staat Memorial vernichten kann, wenn er oder besser seine Führung das ernsthaft will, so wenig durfte das ohne Kampf geschehen. Zum einen natürlich, weil eben niemand wirklich wissen kann, was der oder die dort oben wollen und was sie für ihr Wollen in Kauf zu nehmen bereit sind. Zum anderen aber selbstverständlich auch, weil es ohnehin ein ständiger Kampf ist, in Putins Russland als Memorial zu bestehen.

Entsprechend vorbereitet und entschlossen gingen die Vertreter*innen von Memorial gemeinsam mit ihren Anwält*innen in die beiden Gerichtsverhandlungen. Das Moskauer Stadtgericht vertagte am 23. November, nach ein paar eher lustlosen Scharmützeln, die Verhandlung gegen das MRZ sehr schnell um eine Woche. Wie es aussieht, wollte der Richter erst einmal schauen, was das Oberste Gericht macht. Die erste Verhandlung gegen MI am 25. November dauerte länger. Die im Gerichtssaal anwesenden Memorial-Mitarbeiter*innen hatten den Eindruck, dass die Vertreter*innen der Anklage (Generalstaatsanwaltschaft, Justizministerium und die für die Internetkontrolle zuständige Aufsichtsbehörde Roskomnadsor) ernsthaft darauf aus waren, die Schließung schnell über die Bühne zu bringen. Allerdings waren sie schlecht vorbereitet, einen (aus juristischer Sicht) noch schlechter erstellten Schließungsantrag zu rechtfertigen. Beides kann übrigens darauf hindeuten, dass die Schließung von Memorial längst von oben angeordnet ist, und das Gericht entsprechend instruiert. Warum also sich Mühe machen, wenn ohnehin alles vorentschieden ist?

Memorials Anwälte begannen, den Schließungsantrag auseinanderzunehmen. Das machte anscheinend Eindruck. Erst beim Gericht und dann auch bei den Anklagevertreter*innen. Es kam zu einer richtigen Gerichtsverhandlung, an deren Ende sich das Gericht auf den 14. Dezember vertagte. Das Moskauer Stadtgericht vertagte sich nach der zweiten Verhandlung gegen das MRZ auf den 16. Dezember. Beide Termine dürften nicht zufällig gewählt sein. Denn am 9. Dezember traf sich Wladimir Putin, wie jedes Jahr, um den Internationalen Tag der Menschenrechte mit dem Menschenrechtsrat beim Präsidenten. Dieses offizielle Beratungsgremium, dessen Vorsitzender Mitarbeiter der Präsidentenadministration mit Büro und Stab am Moskauer Staraja Ploschtschad ist, hatte sich in einer Erklärung, wenn auch ein wenig klausuliert-vorsichtig, gegen die Schließung von Memorial ausgesprochen (http://president-sovet.ru/presscenter/news/spch_obespokoen_situatsiey_vokrug_memoriala/). Wie zu erwarten war, hat sich Putin aber nicht in die Karten schauen lassen. Er nannte Memorial eine »lange von vielen geachtete Organisation«, um dann aber praktisch die Argumente der Staatsanwaltschaften in ihren Schließungsanträgen zu referieren: Das MRZ leiste mit seiner Liste der politischen Gefangenen extremistischen und terroristischen Organisationen Vorschub und Memorial International halte sich nicht an das Agentengesetz.

Trotzdem könnte eine vorsichtig hoffnungsfrohe Lesart lauten: Offenbar hat die öffentliche Solidaritätskampagne zugunsten Memorials auch die Gerichte nicht unbeeindruckt gelassen. Immerhin verzeichnete Memorial auf seiner Website Anfang Dezember 92 Petitionen, Solidaritätserklärungen, offene Briefe und vieles mehr (https://www.memo.ru/ru-ru/memorial/departments/intermemorial/news/627). Und offenbar war das Signal von oben, Memorial zu schließen, nicht ganz so klar und eindeutig, um die Gerichte nicht doch zu veranlassen, sich vor Vollzug lieber noch einmal rückzuversichern. Die Anweisung, gegen Memorial vorzugehen, könnte auch nicht direkt aus dem Kreml gekommen, sondern eine konzertierte Aktion der drei beteiligten Behörden sein, von denen allen bekannt ist, keine sonderlichen Freunde von Memorial zu sein. Andererseits sind, soweit erkennbar, in auch nur einigermaßen einflussreichen Stellungen schon längst keine Freund*innen von Memorial mehr übriggeblieben.

Die weniger optimistische Lesart wäre dann, dass das alles Teil eines Theaterstücks namens unabhängige russische Gerichte ist. Dass auch das Treffen Putins mit dem Menschenrechtsrat zu diesem Spektakel gehört, und dass dann, als Finale, sowohl Memorial International als auch das Menschenrechtszentrum aufgelöst werden.

In der Wahrnehmung vieler Beteiligter (von Memorial ebenso wie von Beobachter*innen von außen) schien die Sache direkt nach den Schließungsanträgen vor einem Monat klar: Nun geht es Memorial an den Kragen. Nach den drei Gerichtsverhandlungen und dem Treffen Putin-Menschenrechtsrat hat sich die Stimmung ein ganz klein wenig aufgehellt. Zwar scheint das Schicksal der MRZ weiter besiegelt, aber für Memorial International könnte es eine kleine Chance geben. So ein Ausgang, MRZ zu, Memorial International gerade noch einmal davongekommen, wäre auch durchaus im Stile Putins. Allerdings im Stile Putins vor 2021. In diesem Jahr macht der Staat mit unabhängigen Organisationen (bisher) eher Tabula rasa.

Da wir das aber alles nicht wissen, sondern maximal Vermutungen anstellen können (wie gut informiert oder argumentiert die auch immer sein mögen), bleibt wenig mehr übrig, als sich so lange wie möglich an die letzten Strohhalme zu klammern. Memorial wird also zusammen mit seinen Anwälten weiter so tun, als handele es sich um ganz normale Gerichtsverhandlungen, wird auf Recht, Gesetz und einzuhaltende Verfahrensregeln verweisen und diesen Rechtsweg bis zum Schluss beschreiten (wobei der Schluss, wie so oft in Russland, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sein dürfen, vor dem Memorial zweifellos Recht bekommen wird, ohne davon, zumindest vorerst, mehr als moralische Genugtuung erhalten zu können). Und wir alle sollten versuchen, den öffentlichen Druck möglichst lange hochzuhalten (in der Hoffnung, dass hier von Druck zu sprechen kein Euphemismus ist), so laut zu schreien, wie wir können. Und weiter hoffen.

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