Russland entdeckt die Energiewende: Ein Sonderweg zur Dekarbonisierung?

Von Yana Zabanova (Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS), Potsdam, und Rijksuniversiteit Groningen)

Auf der Russischen Energiewoche im Oktober 2021 machte Präsident Putin eine verblüffende Ankündigung: Russland werde »spätestens« bis 2060 CO2-neutral sein. Diese Aussage, die noch vor wenigen Jahren völlig undenkbar gewesen wäre, steht symbolisch für einen qualitativen Wandel in der russischen Debatte über Klimapolitik und Energiewende. Schlagartig sind Begriffe wie Klima, Treibhausgase, Kohlenstoff und Dekarbonisierung in den Fokus der Aufmerksamkeit von Politik, Wirtschaft und Medien gerückt. Ein Vorbote dafür war die Ratifizierung des Pariser Abkommens durch Russland im September 2019 nach sehr langer Verzögerung. Dabei sind die Pariser Verpflichtungen Russlands sehr bescheiden: eine Reduzierung der Treibhausgasemissionen um 25–30 % bis 2030 gegenüber 1990 – ein Ziel, das Russland aufgrund des industriellen Abschwungs nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schon nahezu erreicht hat. Viel bedeutsamer in dieser Hinsicht sind die Pläne der EU zur Einführung eines CO2-Grenzausgleichsmechanismus (CBAM) gewesen, welche eine lebendige Debatte zum Thema Dekarbonisierung in Russland entfacht haben. Obwohl der von der Europäischen Kommission vorgeschlagene CBAM-Mechanismus anfangs auf heftigen Widerstand seitens Russland stieß (und immer noch hauptsächlich als ein geoökonomisches, und kein reines Klima-Instrument wahrgenommen wird), akzeptiert Russland mittlerweile, dass ein CO2-Grenzausgleich unausweichlich ist und sondiert deswegen Möglichkeiten zur Anpassung. Allein im Jahr 2021 hat Russland zusätzlich zum Ziel der Klimaneutralität vielfältige Maßnahmen getroffen: ein Gesetz zur Begrenzung der Treibhausgasemissionen, das die obligatorische Berichterstattung über Treibhausgasemissionen für große Unternehmen einführt; eine nationale Taxonomie für nachhaltige Finanzierung (»Grüne Taxonomie«), die sich stark am Beispiel der EU orientiert; das Wasserstoffentwicklungskonzept und eine kohlenstoffarme Entwicklungsstrategie. Der Klimawandel wird jetzt in der Nationalen Sicherheitsstrategie erwähnt; die Regierung erwägt die Einführung einer CO2-Bepreisung, und ein Gesetzentwurf zum sogenannten Sachalin-Experiment (ein Pilotprojekt zur Einführung eines Emissionshandelssystems auf der Insel Sachalin, die Klimaneutralität bis 2025 bestrebt) wird derzeit in der Duma verhandelt.

Diese beispiellose Aufmerksamkeit für die Klimaagenda spiegelt sich auch in den Reden von Präsident Putin wider. Putin mag sich einen Ruf als Skeptiker der Klima- und Energiewende erworben haben, aber er hat seine Haltung im Laufe der Zeit etwas angepasst (https://www.themoscowtimes.com/2021/07/01/skepticism-to-acceptance-how-putins-views-on-climate-change-evolved-over-the-years-a74391) und auch den anthropogenen Faktor des Klimawandels anerkannt. Nichtsdestotrotz betrachtet Putin die Klimapolitik und die Energiewende in erster Linie als Schauplatz für geopolitischen und geoökonomischen Wettbewerb und vertritt aktiv seine eigene Vision von Russlands Platz in einer dekarbonisierten Weltwirtschaft. Diese Vision unterscheidet sich freilich stark von der Energiewende, wie sie die EU mit ihrem Green Deal anstrebt. Die Hauptbotschaft ist, dass Russland die Dekarbonisierung zu seinen eigenen Bedingungen vorantreiben und Erdgas bei diesen Bemühungen weiterhin eine Schlüsselrolle spielen wird. Insbesondere Letzteres ist eine tiefe Überzeugung, die angesichts der Energiekrise in Europa in diesem Winter noch stärker geworden ist. Tatsächlich ist eines der Argumente, die Präsident Putin zugunsten der russischen Gaspipeline-Projekte anführt, dass die damit verbundenen CO2-Emissionen weitaus geringer sind als die von Flüssiggasimporten aus den USA.

Wie plant nun Russland, CO2-Neutralität zu erreichen? Die vom Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung entworfene und im November 2021 verabschiedete Strategie zur kohlenstoffarmen Entwicklung enthält einige nennenswerte Details. Wie erwartet plant Russland, seine bestehenden technologischen und natürlichen Vorteile zu nutzen. Das bedeutet, den Anteil von Atom- und Wasserkraft zu erhöhen, massiv in die Abscheidung, Nutzung und Speicherung von Kohlenstoff (Carbon Capture, Usage and Storage, CCUS) zu investieren – Russland verfügt über hervorragende geologische Speicherbedingungen – sowie die CO2-Aufnahmefähigkeit der Wälder drastisch zu erhöhen. Es ist kein Zufall, dass in den Reden des Präsidenten häufig so scheinbare Fachbegriffe wie »Absorption« und »absorptiv« auftauchen: Russland beharrt darauf, dass die Rolle seiner riesigen Wälder als globale Kohlenstoffsenke erheblich unterschätzt wird, und drängt darauf, dass dies international anerkannt wird. Das Problem ist, dass aufgrund fehlender Überwachung und zuverlässiger Daten niemand wirklich genau weiß, wie viel CO2 die russischen Wälder absorbieren (und emittieren). Das Thema ist hochpolitisch, deswegen besteht hier die Gefahr, dass Greenwashing betrieben wird. Anders gesagt: Russland könnte sich in der globalen Dekarbonisierung eine stärkere Rolle beimessen als ihm wirklich zusteht. In jedem Fall lenkt die übermäßige Fokussierung auf dieses Thema von der Notwendigkeit ab, erneuerbare Energien schneller einzusetzen. Bezeichnenderweise ist Putin eher zurückhaltend, erneuerbare Energien zu erwähnen. Dies spiegelt die untergeordnete Bedeutung der erneuerbaren Energien in Russlands Dekarbonisierungspolitik und die begrenzte installierte Kapazität wider: lediglich ca. 3,5 GW Wind- und Solarkraftanlagen trotz des enormen Potenzials Russlands.

Wasserstoff ist ein weiterer neuer Begriff, der in Putins Reden im Jahr 2021 häufig auftauchte. Russland betrachtet die Idee, CO2-armen Wasserstoff für den Export zu produzieren, als eine der Möglichkeiten, seine Relevanz in der dekarbonisierten Welt zu bewahren. Der Schwerpunkt würde auf Wasserstoff liegen, der aus Erdgas hergestellt wird – entweder »blauer« Wasserstoff, wo das CO2 nicht in die Atmosphäre freigesetzt, sondern gespeichert oder industriell verarbeitet wird, oder der weitgehend klimaneutrale, aber noch nicht marktreife »türkise« Wasserstoff, der durch die thermische Spaltung von Erdgas ganz ohne CO2-Emissionen auskommt. Es besteht auch ein gewisses Interesse an nuklearbasiertem und erneuerbarem Wasserstoff. Das im August 2021 verabschiedete russische Wasserstoffentwicklungskonzept setzt ehrgeizige Exportziele: zwischen 2 und 12 Millionen Tonnen bis 2035 und 15 bis 50 Millionen Tonnen bis 2050. Die EU und der asiatisch-pazifische Raum werden dabei als die wichtigsten Exportziele für Wasserstoff genannt. Darüber hinaus wird in Russland über die potenzielle Nutzung von Wasserstoff im Verkehrssektor und zur Dekarbonisierung der exportorientierten Industriebranchen Russlands zunehmend diskutiert.

Bisher hat die Duma den Themen Klima und Dekarbonisierung eher geringe Aufmerksamkeit geschenkt. Dafür gibt es mehrere Erklärungen. Angesichts des relativ neuen Fokus Russlands auf diesen Themenbereich werden viele der geplanten politischen Dokumente und Gesetzesentwürfe aktuell noch von der Regierung entwickelt und wurden der Duma noch nicht vorgelegt. Darüber hinaus werden technische Fragen eher nicht im Plenum, sondern im Duma-Energieausschuss diskutiert. In der Tat spielt die Dekarbonisierung in den dortigen Diskussionen eine sehr wichtige Rolle. Es ist zu erwarten, dass sich dies im Laufe der Zeit mit fortschreitender Arbeit an den entsprechenden Gesetzesentwürfen auch in den Duma-Debatten widerspiegeln wird.

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Der Beitrag wurde im Rahmen des GET Hydrogen Projektes mit Mitteln des Auswärtigen Amtes unterstützt.

Lesetipps / Bibliographie

  • Yana Zabanova. Navigating Uncharted Waters: Russia’s Evolving Reactions to the CBAM and the European Green Deal. Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung e.V., 12.11.2021, abrufbar unter https://www.boell.de/index.php/en/2021/11/12/navigating-uncharted-waters.
  • Yana Zabanova, Kirsten Westphal. Russland im globalen Wasserstoff-Wettlauf: Überlegungen zur deutsch-russischen Wasserstoffkooperation. SWP-Aktuell 2021/A 48, 29.06.2021. doi:10.18449/2021A48.

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