Menschenrechte in der Hochschullehre in Russland

Von Dmitry Dubrovskiy (Karls-Universität Prag und Brīvā Universitāte, Lettland)

Zusammenfassung
Die Sprache, mit der Menschenrechte an russischen Hochschulen in Studienplänen und Lehre beschrieben werden, war und ist weitgehend eine leicht modifizierte sowjetische Sprache über Menschenrechte. Trotz der politischen Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte spiegelte diese weiterhin das Verständnis von Menschenrechten bei der russischen Bevölkerung wider, das in sowjetischer Sprache und Theorien wurzelte. Seit Beginn des vollumfänglichen Angriffskriegs gegen die Ukraine wurde die Menschenrechtslehre gezwungen, zu den Mustern der 1970er Jahre zurückzukehren, da sich sowjetische Menschenrechtskonzeptionen mit aggressiver, kriegstreiberischer Propaganda verbinden. Das Völkerrecht wird dabei ins komplette Gegenteil verkehrt.

Resowjetisierung der Rhetorik in Menschenrechtskursen

Die UdSSR hatte sich zwar an der Ausarbeitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beteiligt, dann aber deren Endfassung kritisiert, die 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde. Kern dieser Kritik war, dass Menschenrechte nicht Gegenstand des Völkerrechts sein sollten und der Vorrang in diesem Bereich dem nationalen Recht vorbehalten bleiben sollte. Gleichzeitig kritisierte Andrej Wyschinskij, der Vertreter der UdSSR bei den Vereinten Nationen, den Inhalt der Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als zu »formal-juristisch« und wegen des Fehlens »realer, konkreter, praktischer Maßnahmen sozialer Absicherung«, wie es sie in der UdSSR gebe. Mit letzteren meinte er vor allem soziale und wirtschaftliche Rechte. Die Folge war, dass der Begriff »Menschenrechte« in der Nachkriegszeit von der UdSSR nicht verwendet wurde. Erst nach Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki und dem Aufkommen der Bürgerrechtsbewegung in der UdSSR wurde ein »sozialistisches Konzept der Menschenrechte« entwickelt. Eine vorrangige Rolle kam den sozialen und wirtschaftlichen Rechten zu. Und die Rechte waren untrennbar mit »der Erfüllung der Pflichten der Sowjetbürger« verbunden, unter anderem mit der Pflicht zur Arbeit. Die sozialistische Menschenrechtsdoktrin wurde zum Gipfelpunkt des Rechtsdenkens in diesem Bereich erklärt. Erst in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre löste sich Michail Gorbatschow von diesem partikularen Menschenrechtskonzept in der UdSSR und erklärte, Menschenrechte seien universell.

Menschenrechtsbildung in den 1990er Jahren: Erwartungen und Wirklichkeit

Meine Respondent:innen aus der russischen Wissenschaft bezeichnen die 1990er Jahre oft als eine Zeit beträchtlicher rechtlicher Freiheit, insbesondere im Hochschulwesen. Russland trieb intensiv den Strukturwandel des Hochschulsystems voran und trat 1996 dem Europarat bei. So wurden erste praktische Erfahrungen gesammelt und Fachleute für den Bereich des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) hervorgebracht. Es entstanden auch Berufsverbände von Anwält:innen, die sich der Erforschung und der Verteidigung der Menschenrechte widmeten, die die russische Verfassung garantierte.

Dozent:innen russischer Rechtsfakultäten und juristischer Institute lehrten Menschenrechte und rechtlich bindende Menschenrechtsdokumente, vor allem im Rahmen des russischen Verfassungsrechts und des Völkerrechts. Russische Anwält:innen durchliefen im Ausland Praktika und beteiligten sich intensiv an der Reformierung des russischen Rechtssystems. Die russische Fachgemeinschaft diskutierte diese Themen ausführlich und publizierte dazu in russischen und internationalen juristischen Zeitschriften. Ungeachtet der Anstrengungen von Aktivist:innen blieb die russische juristische Ausbildung jedoch konservativ und war nicht in der Lage, die Erfahrungen der sowjetischen Vergangenheit aufzuarbeiten. Das wurde insbesondere in den Lehrplänen deutlich, in denen die Dozent:innen Menschenrechtsliteratur aus der Sowjetzeit verwendeten.

Der Prozess der Entsowjetisierung der russischen juristischen Ausbildung stellte sich leider als eine beträchtliche Herausforderung heraus. Die große Schwierigkeit bestand darin, die Kontinuität von der sowjetischen zur russischen juristischen Ausbildung nachhaltig zu brechen. Viele russische Professor:innen hatten ihre Ausbildung in der UdSSR genossen und sahen keine Notwendigkeit, ihre Ansätze und Sichtweisen zu überdenken. Das trug zu einer Rückkehr zu sowjetischen Bildungsprinzipien bei, als sich die autoritären Tendenzen im Land wieder verstärkten.

Hybride Autokratie und Menschenrechts­bildung

Die Zunahme autoritärer Tendenzen nach Putins Machtantritt 1999 wirkte sich nicht nur auf das Hochschulwesen als Ganzes aus, sondern auch auf die Praxis und den Inhalt der Menschenrechtsbildung. Die 2000er Jahre waren eigentlich eine Zeit positiver Dynamik für die Menschenrechtsbildung in Russland. Es wurden UNESCO-Lehrstühle an russischen Universitäten eingerichtet, an denen Studierende unter anderem die Grundlagen der Menschrechte und ihres Schutzes vermittelt bekamen. Trotz einer beträchtlichen Zahl von Dozent:innen, die ausgewählte Kurse zu verschiedenen Menschenrechtsaspekten anboten, gab es an russischen Universitäten allerdings keine umfassenden Menschenrechts-Studiengänge.

Anfang der 2010er Jahre verbesserte sich die Situation: Russische Universitäten gründeten ein Konsortium, um Menschenrechte in Masterprogrammen zu lehren. Hierzu gehörten mehrere führende Universitäten, die Masterstudiengänge zu Menschenrechten anboten, meist im Rahmen von internationalem Recht (internationales Strafrecht, humanitäres Völkerrecht). Die Higher School of Economics (HSE) in Moskau legte einen MA über Menschenrechte auf. Das Smolny College führte ein Menschenrechtsprogramm als Nebenfach an der Staatlichen Universität St. Petersburg ein (Das Smolny College war das erste geisteswissenschaftliche College, das Mitte der 1990er Jahre als ein Experiment an der Staatlichen Universität St. Petersburg geschaffen wurde, um die Vermittlung der Liberal Arts in Russland weiterzuentwickeln).

Studienpläne zu Menschenrechten in den 2000er Jahren: Rechtsstaatlichkeit und sowjetisches Erbe

Während diese Entwicklungen (Kurse und Masterprogramme zu Menschenrechten) oberflächlich positiv erschienen, verdeckten sie tieferliegende Probleme in Bezug auf den Inhalt und die Form der Menschenrechtsbildung, die von Anfang an bestanden hatten. Meine gemeinsam mit Andrej Starodubzew verfasste Analyse aus dem Jahr 2012 förderte eine Reihe bedeutender Fragen zu den Lehrplänen an russischen Universitäten bis zu den 2010er Jahren zutage (wir hatten 22 von ihnen untersucht). Die meisten Kurse wurden von Dozent:innen geleitet (meist Anwält:innen), die ihre Ausbildung in der UdSSR erhalten hatten. Dieser Hintergrund hatte unmittelbare Auswirkungen darauf, wie diese Dozent:innen Menschenrechte auffassten, und wie sie ihr Wissen im Lehrsaal vermittelten.

In der Beschreibung der Menschenrechtskurse setzten die Autor:innen der Programme Menschenrechte mit Bürgerrechten gleich und betonten dabei die wechselseitige Abhängigkeit von Rechten und Pflichten der Bürger:innen. Diese Haltung ist ein charakteristisches Merkmal der sowjetischen Konzeption von Menschenrechten. Die Sichtweise geht auf die sowjetische Vorstellung zurück, der zufolge Menschenrechte mit der Erfüllung bestimmter Pflichten verknüpft sind. Ein weiteres sowjetisches Merkmal besteht darin, dass sozioökonomische Rechte sehr viel stärker im Vordergrund stehen, zulasten der ersten Generation von Menschenrechten (die als »negative Rechte« bekannt sind) [also als Rechte, die eine Unterlassung implizieren, etwa in Bezug auf repressive Handlungen des Staates gegenüber der Bevölkerung, Anm. d. Red.]. Auch das war für den sowjetischen Menschenrechtsdiskurs kennzeichnend.

Der sowjetische Einfluss ist auch in der offenkundigen Vernachlässigung des Vorrangs des Völkerrechts vor russischem Recht erkennbar, wenn es um Menschenrechte geht. Das lässt sich schon am Aufbau der Lehrpläne erkennen. In fast allen der untersuchten Kurse ging die Analyse von Menschenrechten im Rahmen des russischen Verfassungsrechts der Behandlung internationaler Abkommen voraus. Dabei sollte eigentlich der Vorrang, den internationale Normen und Vorgaben zu den Menschenrechten vor der russischen Verfassung haben, in den meisten Fällen klar definiert werden. Bei einigen Kursen war offensichtlich, warum dem so ist: Die Abfolge entstammt der Annahme eines russischen »Sonderwegs«, der jetzt nicht mehr sozialistisch ist, sondern »zivilisatorisch«.

Bei der Abhandlung der gesellschaftlichen und politischen Grundlagen von Menschenrechten unternahmen die Lehrpläne der 2000er Jahren große Anstrengungen, die russische Rechtskultur als einzigartig herauszustellen und die Menschenrechtsideologie mit den »zivilisatorischen« oder »kulturellen« Besonderheiten des Landes zu verknüpfen. Der russische Weg in Bezug auf Recht und Menschenrechte wird somit als einzigartig beschrieben. Es gab also damals bereits eine merkliche Tendenz zum Isolationismus, auch wenn Russland formal zu den demokratischen Ländern gehörte. Dabei wurden Menschenrechtstheorien entwickelt, die angeblich allein für Russ:innen als Angehörige einer besonderen Kulturgemeinschaft gelten würden.

Menschenrechtsorganisationen und deren Geschichte in der UdSSR fehlten nahezu in sämtlichen untersuchten Kursen. Wenn Menschenrechtsorganisationen erwähnt wurden, dann waren es vor allem staatliche Organisationen, und keine Nichtregierungsorganisationen. Erwähnte Menschenrechtsverletzungen betrafen vorwiegend eine begrenzte Reihe von Bevölkerungsgruppen (meist Frauen, Kinder und Personen mit Behinderungen) und Rechten (meist sozioökonomische oder ökologische). Politische Rechte und Freiheiten wie auch deren Verletzung waren in diesen Studienplänen nur spärlich vorhanden.

Auch die Pflichtliteratur dieser Kurse ist bemerkenswert: die Bücher, die nach Angaben der Autor:innen der Kurse zuverlässige Informationen boten, waren oft in den 1960er und 1970er Jahren in der UdSSR erschienen.

Es ist sicher so, dass nur bestimmte Aspekte des Bildungsprogramms die tatsächlich gehaltenen Kurse direkt beeinflussen. Doch spiegeln die Rhetorik und die Sprache, die bei der Vermittlung von Menschenrechten verwendet werden, eindeutig eine spezifische Wahrnehmung von Menschrechten wider. In westlichen Demokratien ist diese Wahrnehmung anscheinend eine geraume Weile übersehen worden, wohl in der Annahme, dass Menschenrechtsbildung an sich positiv ist, ganz gleich, wie und von wem sie vermittelt wird.

Die internationale Zusammenarbeit bei der Menschenrechtsbildung – die erwartungsgemäß nach Beginn des großangelegten Angriffskrieges gegen die Ukraine endete – hat die Inhalte des Curriculums, die heute an russischen Universitäten zum Thema Menschenrechte angeboten werden, nicht wesentlich beeinflusst. So besteht das Menschenrechts-Konsortium weiter und umfasst neun Master-Studiengänge. Die Inhalte der Kurse, die bei diesen Studiengängen angeboten werden, haben sich erst nach Beginn von Russlands großangelegtem Angriffskrieg gegen die Ukraine merklich geändert.

Menschenrechtsbildung in den 2010er Jahren: Abkehr von der europäischen Tradition

In den neuen Kursen, die zwischen 2010 und 2020 entwickelt wurden und an den am Konsortium beteiligten Universitäten angeboten werden, finden wir eben jene Merkmale, von denen wir vermuteten, dass sie für die Menschenrechtskurse dieser Periode charakteristisch sein würden.

So werden in dem Menschenrechtskurs, der 2017 unter dem Titel »Menschenrechte im russischen Rechtssystem und im System des internationalen Rechts« bewilligt und an der Föderalen (Wolga-)Universität Kasan angeboten wurde, die russischen Rechtsnormen stets vor den internationalen Bestimmungen genannt.

Der Menschenrechtskurs, der an der juristischen Fakultät der Higher School of Economics (HSE) in Moskau angeboten wird, beinhaltet keine internationalen Standards zu Menschenrechten; es werden nur die russischen behandelt. Die Literaturliste an der HSE verzeichnet auch Publikationen aus den 1970er Jahren mit Titeln wie »Rechte und Pflichten sowjetischer Bürger« oder »Der rechtliche Status des Individuums in der sozialistischen Gesellschaft«.

In dem Kurs an der Universität Kasan wurden grundlegende Elemente des sowjetischen Diskurses wieder aufgegriffen:

  • Menschenrechte werden als ein »System von Rechten und Pflichten« dargestellt;
  • Sowjetisches Rechtsdenken wurde zum integralen Bestandteil des gegenwärtigen Menschenrechtsdiskurses und die gegenwärtigen Kurse zu Menschenrechtsfragen beziehen sich auch auf die sowjetischen Verfassungen von 1936 und 1977 (!);
  • Die Vorstellung vom »zivilisatorischen Aspekt« bei Menschenrechten wird beim Thema »Menschenrechte und Zivilisation« bekräftigt, wie auch als »nationale und internationale Aspekte im System der Menschenrechte«.

In der Gesamtschau stellt sich die Lage ambivalent dar. So erscheint der Menschenrechtskurs von Professor Mark Entin am Moskauer Institut für internationale Beziehungen (MGIMO) professionell und ausgewogen, frei von den Mängeln, die den meisten gegenwärtigen Menschenrechtskursen eigen sind. Die wissenschaftlichen Publikationen von Professor Entin sind allerdings offen tendenziös, insbesondere in Bezug auf europäische Mechanismen zum Schutz von Menschenrechten.

Schließlich ist aber auch zu beachten, dass eine Reihe von Kursen und Studiengängen, die bei der Vermittlung des Themas einen ausgewogeneren Ansatz verfolgen, weiterbestehen. Beispiele hierfür sind die Geisteswissenschaftliche Universität in Jekaterinburg und die Petersburger Filiale der HSE. Gleichzeitig wurden die dezidierten Menschenrechtsprogramme an der HSE in Moskau nach Beginn des Krieges gegen die Ukraine abgewickelt. Das Smolny College an der St. Petersburger Staatlichen Universität, an der einst Menschenrechte in einem ganz anderen Kontext vermittelt wurden, ist vollkommen aufgelöst worden.

Rückkehr des sowjetischen Menschenrechtskonzepts?

Allgemein ist zu beobachten, dass die Sprache, mit der Menschenrechte an den Hochschulen beschrieben werden, weitgehend eine leicht modifizierte sowjetische Sprache über Menschenrechte war und ist. Trotz der politischen Veränderungen spiegelte diese weiterhin das Verständnis von Menschenrechten bei der russischen Bevölkerung wider, das in sowjetischer Sprache und Theorien wurzelte. Und es erklärt den Umstand, dass Menschenrechte bei außenpolitischen Auseinandersetzungen weiterhin als Instrument eingesetzt werden.

Die russische Bevölkerung fasste Menschenrechte schon immer eigenwillig auf und hatte das Menschenrechtskonzept der Sowjetzeit weitestgehend übernommen. Studien aus den späten 1990er und frühen 2000er Jahren zeigen, dass die postsowjetische Bevölkerung sozioökonomische Rechte hochschätzte und am Staat und an der Verteidigung politischer Rechte praktisch nicht interessiert war. Die Lage hat sich unter Putins Herrschaft nur sehr wenig geändert. Insgesamt kann man festhalten, dass in der russischen Bevölkerung die Wahrnehmung zu Menschenrechten im Kern sowjetisch geblieben ist. Es gab lediglich einige Veränderungen zum Positiven in Bezug auf die Bedeutung von habeas corpus, also dem Schutz vor willkürlicher Verhaftung.

Das Misstrauen gegenüber dem Westen, das seit den frühen 2000er Jahren zunimmt, und die allgemeine Desillusionierung in Bezug auf die Wirtschaftsreformen und die politische Transformation wie auch die langwährende aggressive Propaganda des Regimes gegen Menschenrechte haben dazu geführt, dass Menschenrechte als »westliche Theorie« wahrgenommen werden, die nicht zum russischen Volk passt. In modernen Menschenrechtskursen gibt es beispielsweise einen Verweis auf die Monografie von Sergej Tkatschenko, in der die Reformen der 1990er Jahre direkt als »Verwestlichung in Form von Kolonialisierung« bezeichnet werden. Die damaligen Änderungen im russischen Recht, auch in Bezug auf Menschenrechte, werden ausschließlich mit Skepsis betrachtet.

Dies erleichterte es in den 2010er Jahren, Menschenrechte in der außenpolitischen Rhetorik des Kreml und dem anschließenden Angriffskrieg gegen die Ukraine als Waffe einzusetzen. Die Rede von einem »Schutz der Menschenrechte« diente als Rechtfertigung für die Annexion der Krim und den großangelegten Angriffskrieg gegen die Ukraine. Die russische Praxis, Recht als Waffe einzusetzen (»lawfare«) bezog auch Menschenrechte mit ein. Es ließe sich argumentieren, dass die russischen Hochschulen daran beteiligt sind, das internationale System der Menschenrechte zu einem »autoritären Völkerrecht« der Menschenrechte zu degradieren.

Schlussfolgerungen

Der Beginn des großangelegten Angriffskrieges gegen die Ukraine hat in Russland zu einer offenkundigen Krise bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Menschenrechten und bei deren Vermittlung geführt. Die Krise rührt vor allem daher, dass alles, was geschah und geschieht, einen eklatanten Verstoß gegen das Völkerrecht darstellt. Die russischen Streitkräfte verletzten nicht nur die Genfer Konventionen, sondern verübten auch Verbrechen des Völkermords (insbesondere in Butscha und Mariupol). In dieser Situation wird es schwierig, international anerkannte Menschenrechtsstandards zu unterrichten. Es erscheint nun viel leichter und sicherer zu behaupten, alle demokratischen Menschenrechte seien »politisiert«, während Russland lediglich »defensiv« agiere. Dadurch erfolgte ein Wiederaufleben der Menschenrechtslehre im sowjetischen Stil, wobei die universellen Mechanismen geleugnet und internationale Institutionen wie der EGMR kritisiert werden. Letzteren hat Russland bereits verlassen.

Im russischen Hochschulwesen ist jetzt – in Peter Pomerantsevs Sinne – »alles möglich«: Man kann nachhaltige Entwicklung, ökologische Rechte, Fragen der Armut zusammen mit Kolonialismus (in dessen russischem Verständnis) diskutieren. Die Muster der Sowjetzeit sind nicht nur rhetorisch, sondern auch in der Praxis zurückgekehrt. Heute müssen Dozent:innen, die in Russland zu Menschenrechten lehren, entweder die Menschenrechtsstandards über Bord werfen, wenn der Krieg in der Ukraine oder Menschenrechtsverletzungen in Russland erörtert werden. Oder sie müssen auf Äsopische Sprache, offizielle Phrasen oder andere Schutzmechanismen zurückgreifen, die an jene erinnern, die von einer früheren Generation von Professor:innen in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren benutzt werden mussten. Der einzige Unterschied zu damals besteht jetzt in dem totalen Boykott russischer Universitäten durch demokratische Länder und die meisten internationalen Organisationen. Die Menschenrechtslehre wurde gezwungen, zu den Mustern der 1970er Jahre zurückzukehren, da sich sowjetische Menschenrechtskonzeptionen mit aggressiver, kriegstreiberischer Propaganda verbinden. Das Völkerrecht wird dabei ins komplette Gegenteil verkehrt.

Diese Publikation wurde in Zusammenarbeit mit der Deutschen Sacharow-Gesellschaft im Rahmen des Projektes »Wege zur Aufarbeitung von Krieg und Diktatur« durchgeführt. Dieses Projekt wird vom Auswärtigen Amt im Rahmen des Förderprogramms »Ausbau der Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft in den Ländern der Östlichen Partnerschaft und Russland (ÖPR-Programm)« finanziert.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

Lesetipps / Bibliographie

Zum Weiterlesen

Analyse

Russland und der EGMR: Mitgliedschaft mit eigenen Regeln

Von Caroline von Gall
Am 14. Juli 2015 hat das russische Verfassungsgericht entschieden, dass Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Russland nur noch umgesetzt werden müssen, wenn das Verfassungsgericht geklärt hat, dass diese Urteile nicht gegen die Verfassung verstoßen. Die Verfassung habe Vorrang vor Verpflichtungen aus internationalen Verträgen. Der Zeitpunkt für die Entscheidung ist bewusst gewählt. Sie kommt in einem Moment, da Russland vom EGMR verpflichtet wird, 1.9 Milliarden Euro Entschädigung an die Jukos-Aktionäre zu zahlen und die anti-westliche Rhetorik des Verfassungsgerichtspräsidenten einen neuen Höhepunkt erreicht. (…)
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