Zu den Charakteristika der bisherigen Präsidentschaften in der Ukraine gehörte, dass die Präsidenten jeweils auch eine eigene Geschichtspolitik betrieben. Bisher gibt es kaum analytische Zugriffe, die über eine solche präsidentenbezogene Kennzeichnung hinausgehen, strukturelle Bedingungen einbeziehen oder systematischer auch die regionale und überstaatliche Ebene untersuchen. Es scheint insgesamt im Blick auf den Zeitraum von 1991 bis heute eine Intensivierung geschichtspolitischer Aktivitäten seit der Präsidentschaft von Wiktor Juschtschenko 2005–2010 zu geben. Es lässt sich wohl nicht behaupten, dass Geschichtspolitik jeweils erst in der zweiten Hälfte einer Präsidentschaft an Bedeutung gewann, es quasi ein Feld von Ersatzaktivitäten wurde, welches dann eine Aufwertung erfuhr, wenn wirtschaftliche, soziale und politische Reformen erfolglos blieben.
In der jeweiligen Geschichtspolitik gestaltet und spiegelt sich sicherlich das Verhältnis zu den Nachbarn, vor allem zu Polen und zu Russland. Aber auch innerukrainische, vor allem regionale Dynamiken und unterschiedliche Akteure und Akteursebenen sind relevant. Die Präsidentschaft des vormaligen Präsidenten Petro Poroschenko (2014–2019) zeichnete sich durch eine sehr prononcierte Geschichtspolitik aus, die durch den russisch-ukrainischen Krieg im Osten der Ukraine geprägt und die Dekommunisierungsgesetze von 2015 sowie die Schaffung einer neuen, von Moskau unabhängigen Orthodoxen Kirche der Ukraine gekennzeichnet war. Fragwürdig war daran vor allem, dass der Staat über das 2006 gegründete Ukrainische Institut für Nationales Gedächtnis (UING) in die Beurteilung der Geschichte eingriff und die Freiheit der Wissenschaften angriff. Fragwürdig war darüber hinaus die Sicht auf den Zweiten Weltkrieg und hier vor allem auf Akteure wie die OUN (die 1929 gegründete Organisation Ukrainischer Nationalisten) und die UPA (die 1942 gegründete Ukrainische Aufstandsarmee) und deren Beteiligungen an massenhafter antipolnischer (in Wolhynien) und antijüdischer Gewalt.
Wie lässt sich vor diesem Hintergrund die Geschichtspolitik unter dem Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ein Jahr nach dem Antritt seiner Präsidentschaft kennzeichnen? Es gibt bisher keinen Bruch mit der Geschichtspolitik unter Poroschenko, aber es kam zu Änderungen bei innerukrainisch und international besonders kontrovers eingeschätzten Entscheidungen des früheren Präsidenten und zu ersten Ansätzen einer neuen Geschichtspolitik. Vom ersten Tag seiner Präsidentschaft war der Präsident mit Geschichtspolitik konfrontiert. Seine ursprünglich am 19. Mai 2019 vorgesehene Amtseinführung musste gegen seinen Willen um einen Tag verschoben werden, da der 19. Mai in der Ukraine der offizielle Gedenktag für die Opfer politischer Repressionen ist.
Kontinuitäten und Brüche
Zunächst zur Frage von Brüchen und Kontinuitäten zur bisherigen Geschichtspolitik. Das Ukrainische Institut für Nationales Gedächtnis existiert weiter, wenn auch 2020 mit einer deutlich geringeren Finanzierung ausgestattet, und die 2015 beschlossenen Dekommunisierungsgesetze sind weiterhin gültig und wurden nicht außer Kraft gesetzt. Der neue Präsident und das Parlament halten auch weiterhin an der Kennzeichnung des Holodomor als Völkermord fest und treten für dessen internationale Anerkennung ein, so wie es 2006 unter Präsident Juschtschenko von der Werchowna Rada beschlossen wurde. Dies sind nur die auffälligsten Kontinuitäten. Es muss offenbleiben, ob die neue regierende Elite hier einen angenommenen oder realen Konsens in der Gesellschaft trägt oder teilt, oder ob vor allem mit Bezug auf die Dekommunisierungsgesetze noch Änderungen bevorstehen.
Präsident Selenskyj nahm darüber hinaus in seiner bisherigen Präsidentschaft an allen wichtigen nationalen Gedenkritualen teil. Im November 2019 ehrte er mit dem Orden der Fürstin Olha 3. Grades Agnieszka Holland, die Regisseurin des Films »Der Preis der Wahrheit« über den walisischen Journalisten Gareth Jones, der 1933 nach seiner Rückkehr aus der Ukraine die internationalen Medien über den Massenhunger in der Ukraine informiert hatte, sowie die amerikanische Journalistin und Historikerin Anne Applebaum, Autorin des Buches »Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine«. Auch medial weniger beachtete, aber ebenfalls hochsymbolische Beispiele zeugen von Kontinuitäten. So nahm der neue Präsident wie seine Vorgänger am jährlichen Gedenken an die Opfer im nordukrainischen Kruty teil. Hier hatten im Januar 1918 wenige hundert Studenten die Ukrainische Volksrepublik – und damit die ukrainische Staatlichkeit – gegen von Norden auf Kiew marschierende und an Zahl deutlich größere Militäreinheiten der Bolschewiki verteidigt. Insofern dominieren bisher in der Geschichtspolitik unter Selenskyj Kontinuitäten gegenüber Neuansätzen oder Brüchen.
Zu ersten Änderungen kam es allerdings unterhalb dieser allgemeinen Ebene. So entließ das ukrainische Kabinett am 18. September 2019 den bisherigen Direktor des UING, Wolodymyr Wjatrowytsch, und ernannte im Dezember 2019 den Doktor der Philosophie und Leiter des Bildungsprogramms am Holocaust-Gedenkzentrum Babyn Jar, Anton Drobowytsch, zu dessen Nachfolger. Wjatrowytsch sitzt nun für Poroschenkos Partei Europäische Solidarität im Parlament. In ersten Stellungnahmen trat der neue Direktor für Kontinuität ein und sprach sich unter anderem für die Fortsetzung der Arbeiten für ein Denkmal für die sog. Himmlischen Hundert und ein nationales Museum für die Revolution der Würde aus. In einem Interview mit der Deutschen Welle nannte er am 18. Dezember 2019 folgende Bereiche für die weitere Arbeit des Institutes: »Das ist vor allem die Dekommunisierung, die zu Ende geführt werden sollte. Zweitens sollte der Prozess, den Holodomor auf internationaler Ebene als Völkermord am ukrainischen Volk anzuerkennen, weitergeführt werden. Das heißt, die weiteren Anstrengungen zielen darauf ab, die Anzahl der Länder zu erhöhen, die dies anerkennen. Und vielleicht streben wir sogar eine völkerrechtliche Klärung an, mit Verweis auf die Resolution 260 (III) der Generalversammlung der Vereinten Nationen. Der dritte Bereich ist die Stärkung der Rolle des Instituts bei der Bekämpfung russischer Aggressionen, insbesondere im Kampf gegen historische Mythen, die in der ukrainischen Gesellschaft Feindseligkeiten hervorrufen.«
Gleichzeitig gibt es aber Anzeichen dafür, dass in einigen Regionen weiterhin fundamentalere politische Konflikte gären und auf dem Feld des historischen Erinnerns ausgetragen werden. So zerstörten Aktivisten in Charkiw Anfang Juni 2019 eine Büste des Marschalls der Sowjetunion Georgi Schukow (1896–1974) und hissten an seiner Stelle eine Nationalflagge. Im Juli wurde die Büste Schukows mit Unterstützung des Bürgermeisters restauriert, und in der Folge beantragte der Charkiwer Stadtrat die Rückbenennung der Petro-Hryhorenko-Allee in Marschall-Schukow-Allee. Ein Gericht (mit dem UING als dritte Partei) lehnte die Umbenennung allerdings ab. Anfang 2020 kam es in Kachowka im Chersoner Gebiet (Südukraine) zu einem Konflikt um die Denkmäler Lehendarna tatschanka (Legendäre Tatschanka) und Diwtschyna u schyneli (Mädchen im Mantel). Die Stadtverwaltung verweigerte den Abriss der beiden Denkmäler als Symbole des sowjetischen Systems, da es sich um Symbole der Stadt Kachowka handele. In einem laufenden Prozess wird nun über ein Museum in der Nähe des Denkmals Legendäre Tatschanka verhandelt, das der sowjetischen Denkmalspropaganda gewidmet ist. Das Denkmal war 1967 zu Ehren des 50. Jahrestages der Oktoberrevolution eröffnet worden.
Neue Impulse für die geschichtspolitischen Beziehungen zu Israel
Auf politischer Ebene kündigen sich geschichtspolitische Neuansätze vor allem in den ukrainisch-israelischen und in den ukrainisch-polnischen Beziehungen an. Der andauernde russisch-ukrainische Krieg im Osten der Ukraine friert dagegen jede Gesprächsmöglichkeit mit Russland über strittige historische Fragen ein.
Die Verbesserung der ukrainisch-israelischen Beziehungen durch gegenseitige Präsidentenbesuche im Sommer 2019 und im Januar 2020 hat auch geschichtspolitische Rückwirkungen. Im August 2019 besuchte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu die Ukraine und beide Politiker erinnerten aus diesem Anlass auch an den deutschen Massenmord an den ukrainischen Juden in Babyn Jar. Der ukrainische Staatspräsident Selenskyj besuchte Ende Januar 2020 anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz Jerusalem, vermied dort auf dem 5. Weltforum zum Gedenken an den Holocaust allerdings ein Treffen mit dem ebenfalls anwesenden russischen Präsidenten Wladimir Putin. Selenskyj erinnerte und ehrte mit einer Kranzniederlegung die Opfer des Holocaust in Yad Vashem. Yad Vashem entschuldigte sich später dafür, dass in den Materialien zum Weltforum der Molotow-Ribbentrop-Pakt (Hitler-Stalin-Pakt), die Teilung Polens sowie die Rolle der UdSSR beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges unerwähnt geblieben waren und die bei der Zeremonie gezeigten Videos fast ausschließlich die Rolle der Sowjetunion bei der Niederlage Deutschlands gezeigt hatten, während die USA, Großbritannien und andere Länder kaum repräsentiert waren.
Bereits zuvor, am 14. Januar 2020, hatte sich der neue Direktor des UING Drobowytsch mit dem Botschafter Israels in der Ukraine, Joel Lyon, getroffen. Gesprächsthemen waren unter anderem der Zustand der Holocaust-Gedenkstätten in der Ukraine, die Frage der Anerkennung des Metropoliten der Griechisch-Katholischen Kirche Andrej Scheptyzkyj (1865–1944) als Gerechter unter den Völkern, die Frage zum geplanten neuen Gedenkkomplex in Babyn Jar sowie mögliche gemeinsame Schritte zum Gedenken an den aus Odessa stammenden Journalisten und politischen Führer der zionistischen Bewegung, Wladimir Jabotinsky (Wladimir Schabotinski, 1880–1940), anlässlich dessen 140. Geburtstages. Der israelische Botschafter schlug auch die Gründung einer ukrainisch-israelischen Historikerkommission vor, die sich mit den neuralgischen historischen Erfahrungen und Erinnerungen auseinandersetzen solle.
Babyn Jar im Zentrum der Aufmerksamkeit
Die aktuellen öffentlichen Debatten in der Ukraine kreisen vor allem um einen geplanten neuen Gedenkkomplex in Babyn Jar. Sie können hier nur skizziert werden. Im Kern geht es um zwei unterschiedliche Projekte: Auf der einen Seite steht ein seit Ende September 2016, anlässlich des 75. Jahrestages der Tragödie von Babyn Jar, geplantes Projekt des Babyn Yar Holocaust Memorial Center (BYHMC), das ursprünglich in Zusammenarbeit mit dem Bildungs- und Kulturministerium, der Staatlichen Verwaltung der Stadt Kiew und mit einem anerkannten internationalen Team (prominent hier der Historiker Karel Berkhoff, der sich inzwischen wieder von dem Projekt distanziert hat) entwickelt und von Oligarchen mitfinanziert wurde, die Geschäftsverbindungen nach Russland unterhalten. Im Zuge der Ernennung von Ilja Chrschanowski zum künstlerischen Leiter des Projekts, seines künstlerischen Programms und seines umstrittenen Filmprojekts »DAU« kam es zu wiederholten personellen Wechseln bzw. Kündigungen eines großen Teils der Mitarbeiter*innen und zu einer unübersichtlichen Situation in den leitenden Gremien. Der Vorsitzende der Arbeitsgruppe für die Hauptausstellung, der Wiener Kunsthistoriker Dieter Bogner, legte sein Amt im Herbst 2019 nieder und erklärte in einem offenen Brief: »Mit den in der Präsentation skizzierten Ideen wird die Hauptausstellung eher zum ›Holocaust-Disney‹ als zu einem Ort der Erinnerung und Reflexion über die unglaubliche Tragödie, die sich in Babyn Jar und Osteuropa ereignete.« Der Co-Vorsitzende der Vereinigung jüdischer Organisationen und Gemeinschaften der Ukraine, Iosif Sissels, wandte sich im Herbst 2019 ebenfalls gegen das Projekt und erklärte: »Ich sehe in diesem Projekt ein trojanisches Pferd. Die Russen zeigen damit der ganzen Welt, dass die Ukrainer relativ gesehen Antisemiten sind, Faschisten, die selbst kein Denkmal bauen können.« Inzwischen haben 85 ukrainische Kulturschaffende in einem offenen Brief an den Aufsichtsrat von BYHMC die Entlassung von Ilja Chrschanowski als künstlerischer Leiter gefordert.
Ein alternatives Projekt schlugen im Februar 2019 Historiker der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine (NAWU) unter der Leitung des stellvertretenden Direktors des Instituts für Geschichte der Ukraine der NAWU, Professor Hennadij Borjak, vor. Sie nahmen damit ein Ersuchen des Kulturministeriums der Ukraine und des Nationalen Historischen und Gedenkortes ‚Babyn Jar‘ auf. Das Projekt sah allerdings keine Institutionalisierung vor, sondern hatte ein bescheideneres Format und schlug eine neue Gestaltung des Areals von Babyn Jar, ein neues Geschichtsmuseum sowie ein neues Holocaust-Mahnmal vor. Ein zusätzliches Ziel war wohl auch, so zu einer schnelleren Lösung zu kommen. Es wurden auch internationale Historiker einbezogen, aber es kam bisher zu keiner breiteren öffentlichen Debatte unter Einziehung unterschiedlicher gesellschaftlicher Akteure oder Akteursgruppen. Bereits im Frühjahr 2017 hatte eine Gruppe von Historikern der NAWU die Pläne zum Bau eines Babyn Jar Holocaust Memorial Center mit den Worten kritisiert: »Wir halten es für falsch, zu versuchen, Babyn Jar nur mit der Geschichte des Holocaust zu verbinden und andere Opfer und andere dramatische Momente seiner Geschichte zu ignorieren. (…) Wir glauben, dass das Holocaust-Museum und das Babyn-Jar-Museum getrennte Institutionen sein sollten, die unterschiedliche Aspekte und Kontexte der tragischen Geschichte des 20. Jahrhunderts offenbaren.«
Es zeigt sich, dass die ukrainische Gesellschaft weiter um das Gedenken an den Holocaust und allgemeiner an die Opfer des Zweiten Weltkrieges ringt und weit von einem Konsens entfernt ist.
Neue Initiativen der ukrainisch-polnischen Aufarbeitung
Die mit einem Besuch von Präsident Selenskyj in Polen vom 31.8. bis zum 1.9.2019 anlässlich des 80. Jahrestags des deutschen Überfalls auf Polen und des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges verbesserten politischen Beziehungen zwischen beiden Ländern wirken sich ebenfalls geschichtspolitisch aus. So beschlossen der polnische und der ukrainische Präsident die Einsetzung einer bilateralen Arbeitsgruppe zu historischen Themen unter der Schirmherrschaft der beiden Präsidenten. An der polnisch-ukrainischen Grenze soll ein Versöhnungsdenkmal errichtet werden, polnische Experten können seitdem die unterbrochenen Such- und Exhumierungsarbeiten der polnischen Opfer ukrainischer Gewalt der Jahre 1942–43 in Wolhynien wieder fortsetzen und gleichzeitig sollen in Polen Erinnerungsstätten für ukrainische Opfer polnischer Gewalt geschaffen werden. Diese Schritte können einen Neuanfang sowohl für die Aufarbeitung der polnisch-ukrainischen Massengewalt 1942–43 als auch insgesamt für die ukrainisch-polnischen Beziehungen bedeuten. Es bleibt abzuwarten, welche weiteren Schritte folgen.
Am 9. Januar 2020 sprachen der neue Direktor des UING Drobowytsch und der Botschafter Polens in der Ukraine, Bartosz Cichocki, über die weitere Zusammenarbeit in Fragen der gemeinsamen Erinnerung an die Opfer von Krieg und politischer Repression in Polen und der Ukraine und tauschten ihre Vorstellungen für die nähere Zukunft aus. Bei einem erneuten Besuch von Selenskyj in Polen am 26.–27. Januar 2020 anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz erinnerte der ukrainische Präsident unter anderem auch an die aus der Ukraine stammenden Gerechten unter den Völkern. Der polnische Präsident Andrzej Duda schlug Selenskyj bei diesem Besuch vor, gemeinsam an das Militär beider Länder zu erinnern, das 1920 gegen den Vormarsch der Roten Armee gekämpft habe. Auch dankte er dem ukrainischen Präsidenten dafür, dass dieser sein Versprechen vom Sommer 2019 eingehalten habe und polnische Experten ihre Arbeit an der Exhumierung polnischer Opfer auf dem Territorium der Ukraine fortsetzen können. Es wird sich zeigen, ob die politische Entspannung und Kooperationsansätze auch von den regionalen Akteuren auf- und angenommen und dauerhafter sein werden.
Fazit
In jedem Fall bleibt der Zweite Weltkrieg weiterhin der zentrale Anlass und Bezugspunkt geschichtspolitischer Debatten, sowohl innerukrainischer als auch internationaler Art. Die Gedenk- und Feierlichkeiten zum Kriegsende am 8. und 9. Mai 2020 fielen in diesem Jahr wegen Covid-19 weitgehend aus. In einer offiziellen Ansprache verband Wolodymyr Selenskyj den sowjetischen Sieg im Zweiten Weltkrieg mit der gegenwärtigen Verteidigung der Ukraine im Krieg im Osten des Landes, ließ Russland dabei aber unerwähnt. Selenskyj wies auf den Beitrag der Ukrainer*innen im Kampf der Anti-Hitler-Koalition hin und antwortete indirekt auf eine Äußerung Putins aus dem Jahr 2010, nach der die Sowjetunion den Krieg auch ohne die Ukrainer gewonnen hätten: »Zweifellos hat eine menschliche Leistung keinen Pass. Aber der Beitrag der Ukrainer zum Sieg über den Nationalsozialismus ist enorm. Und heute kann niemand den Sieg privatisieren und sagen, dass es ohne Ukrainer hätte gehen können.« Selenskyj erwähnte zudem vier Glocken als neues Gedenksymbol: Er habe am Vortag, dem 8. Mai, das Dorf Milowe im Gebiet Luhansk besucht, wo im Zweiten Weltkrieg die Befreiung der Ukraine begonnen habe. Am 9. Mai sei er in der Karpathenukraine, dem letztem Ort des Rückzuges der Deutschen. In beiden Gebieten sollen zur Erinnerung Glocken eingeweiht werden: eine Erinnerungsglocke im Gebiet Luhansk und eine Siegesglocke in der Karpathenukraine. In der Zukunft sind auch eine Friedensglocke in Donezk sowie eine Einheitsglocke in Simferopol geplant. Auch in der Aktualisierung des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg schloss Selenskyj somit an seinen Vorgänger eher an, als dass er sich von ihm explizit absetzte.
Die Skizze verdeutlicht zunächst, dass auch Selenskyj – wie seine Vorgänger – Geschichtspolitik als Bestandteil seiner Politik begreift. In diesem Politikfeld dominierten im ersten Jahr die Kontinuitäten zur vorherigen Politik. Gegenüber Polen und Israel zeigt sich eine neue Gesprächsfähigkeit, die man zwar als Neuansätze bezeichnen kann, aber die noch nicht auf Dauer gestellt sind und noch zu keinen Ergebnissen geführt haben. Es ist auch noch nicht bekannt, inwieweit die ukrainische Gesellschaft bereit ist, die eingeschlagenen Wege mitzugehen. Viele Städte und Gebiete haben geschichtspolitische Akteure mit einer eigenen Agenda. Die Geschichtspolitik spiegelt insofern die generelle Situation im Lande: eine hohe Dynamik und neue und alte Muster der kulturellen Integration und Fragmentierung. Das lässt Zweifel am Ausblick Selenskyjs in seiner Neujahrsrede aufkommen: »Lernen wir, im Respekt für die Zukunft unseres Landes zusammen zu leben. Wir stellen sie uns gleichermaßen vor – es ist ein wohlhabendes Land, ohne Krieg, ein Land, das sein Volk und seine Territorien vereint hat. Wo es egal ist, wie die Straße heißt, denn sie ist beleuchtet und asphaltiert. Wo es keinen Unterschied gibt, neben welchem Denkmal du auf das Mädchen wartest, in das Du verliebt bist.« Auf absehbare Zeit wird der Straßenname wichtig bleiben.