Kein Ende des Ukrainekrieges?

Von Andreas Heinemann-Grüder (Universität Bonn)

Zusammenfassung
Die Ausgangslage der Ukraine zu Beginn des dritten Kriegsjahres seit Beginn der großangelegten russischen Invasion ist schwierig, aber nicht aussichtslos. Damit der Krieg sich nicht zu einer langwierigen dauerhaften Konfrontation entwickelt und ein ukrainischer Sieg ermöglicht wird, muss der Westen der Ukraine allerdings mehr strategische Ressourcen und Hochpräzisionswaffen liefern. So kann die Ukraine den russischen Nachschub, vor allem über die Krim, abschneiden, um aus dem bisherigen Artilleriekrieg auszubrechen, der für die Ukraine kaum zu gewinnen ist. Bei bröckelndem internationalen Rückhalt hingegen droht die Ukraine den Krieg zu verlieren, was in einen Verhandlungsfrieden um jeden Preis und erneuten Gebietsverlusten resultieren könnte – mit allen Konsequenzen.

Schwierige Ausgangslage

Das Jahr 2024 begann mit einer defätistischen Grundstimmung. Die ukrainische Offensive 2023 brachte keine Wende, während die Risse im Westen sich sukzessive vertiefen. Vier Fünftel der Russen befürworten nach wie vor den Vernichtungskrieg ihres Präsidenten, der sich im März neu inthronisieren lässt. Die russische Kriegswirtschaft erweist sich als anpassungs- und widerstandsfähig. Russland hat die Waffenproduktion über das Vorkriegsniveau hinaus gesteigert und umgeht die westlichen Sanktionen und Exportkontrollen. Der globale Süden ist wiederum erbost über Israels Bombardement im Gazastreifen, weniger über Putins Krieg. China, Indien, Südafrika, Saudi-Arabien und Brasilien kündigten Friedensinitiativen an, die sich allerdings als Worthülsen entpuppten. Gleichzeitig schmelzen die politischen, finanziellen und militärischen Ressourcen zur Unterstützung der Ukraine dahin. Der Anfang Februar abgesetzte ukrainische Oberbefehlshaber General Walerij Saluschnyj gab eine nüchterne Einschätzung der Lage: Sie ist festgefahren. Für den Zweifel am Triumph des Willens wurde er von Präsident Selenskyj entlassen.

Verpasste Chancen lassen sich nicht zurückgewinnen, denn militärisch sollte die Ukraine nie zu einer symmetrischen Kriegsführung befähigt werden. Die ukrainische Gegenoffensive scheiterte auch, weil die zugesagten Lieferungen von Marder, Iris-T, Tankfahrzeugen und Schwerlastsattelzügen zu Beginn der ukrainischen Offensive nicht eingetroffen waren und die Ukraine nur schleppend die gepanzerten Gefechtsfahrzeuge und die Artilleriemunition erhält. Während Russland fast täglich Angriffe auf Kyjiw fliegt, sollte den Menschen in Moskau kein größerer Schmerz als die Schließung von Ikea und McDonalds zugemutet werden. Das war und ist auch der Grund für die anhaltende Weigerung, Waffen an die Ukraine zu liefern, die Russland aus der Distanz treffen könnten. Der Westen ist sich bisher nur darin einig, dass die Ukraine als souveräner Staat überleben muss und eine Militärkonfrontation oder ein Atomkrieg mit Russland zu vermeiden ist.

Die Ablehnung der deutschen Regierungsparteien, Taurus-Raketen an die Ukraine zu liefern, und die Äußerungen des Chefs der Münchener Sicherheitskonferenz und früheren außenpolitischen Beraters von Kanzlerin Merkel, Christoph Heusgen, man müsse ein neues Minsk-Abkommen schließen und Präsident Selenskyj dafür »mitnehmen« (in der Sendung »Maischberger« vom 31.1.2024), belegen, dass die Beschwichtigungspolitik gegenüber Putins Russland nie tot war. Der Koalitionsfrieden, d. h. die Beteiligung an der Regierung, genießt für die Parteien der Ampelkoalition allemal höhere Priorität als das Überleben der Ukraine, und zwar selbst unter jenen Politikerinnen und Politikern der Grünen und der FDP, die sich bisher lautstark in Talkshows und auf Marktplätzen für die Lieferung von Taurus-Raketen ausgesprochen hatten.

Im Februar 2015 musste der ukrainische Präsident Poroschenko dem Minsk II-Abkommen zustimmen, da 5000 ukrainische Soldaten in Debalzewe eingeschlossen waren. Lehren aus den sogenannten Minsker Abkommen von 2014 und 2015, die einen fragilen Waffenstillstand bewirkten, die strukturellen Vorteile Russlands und die Besatzung ukrainischen Territoriums jedoch zementierten, sind nie gezogen geworden. Die Logik der Unterstützung für die Ukraine läuft auf eine Wiederholung von Minsk II hinaus: Wenn die Ukraine mit dem Rücken zur Wand steht, wird sie »mitgenommen«, um ein Minsk III-Abkommen unter Vermittlung Deutschlands und möglicherweise einiger Staaten des globalen Südens abzuschließen.

Die zwischenzeitlich verstummten Rufe, die USA mögen sich doch mit Putin über die Kriegsbeendigung einigen, werden vor diesem Hintergrund wieder vernehmbarer. Die Biden-Administration scheint bisher nicht gewillt zu sein, über die Zukunft des Krieges nachzudenken bzw. ob und wie die USA den Krieg durchhalten kann und will, und durch den beginnenden Präsidentschaftswahlkampf wird der Fokus verstärkt auf innenpolitischen Themen liegen. Die EU engagiert sich vermehrt mit Finanzzusagen über 50 Milliarden Euro bis Ende 2027, kann jedoch allein selbst jene Waffen nicht liefern, die die Ukraine zum Durchhalten benötigt. Die europäische Rüstungsindustrie kann nicht liefern, was nötig wäre, damit die Ukraine gewinnt. Vor die Wahl gestellt zwischen »alles für die ukrainische Front« und der eigenen Verteidigungs- und Bündnisfähigkeit obsiegt letztere. Der Krieg war und bleibt so ein asymmetrischer. Die Rede davon, dass die Ukraine Europa verteidigt, war nie recht ernst gemeint – die Ukraine bindet russische Kräfte, aber sie ist kein Bündnisfall, weder für die NATO noch einzelne ihrer Mitglieder. Die Ukraine stellt nur sicher, dass die NATO und die EU nicht selbst in einen Krieg mit Russland geraten.

Was bringt 2024?

Die Ukraine demonstriert die russische Verwundbarkeit, während Russland weiterhin Teile der Gebiete von Donezk, Luhansk, Cherson, und Saporischschja kontrolliert. Das militärische Kräftemessen kann sich noch mehrere Jahre hinziehen. Nicht auszuschließen ist, dass es eine dauerhafte Konfrontation mit Phasen intensiver und Phasen reduzierter Gewaltintensität gibt. Das schwärzeste Szenario wäre, dass die Ukraine gänzlich die Kontrolle über die von Russland annektierten Territorien verliert, weitere Geländeverluste erleidet, keine Waffen, Munition und Menschen mehr hat, um sich der russischen Kriegsmaschinerie entgegenzustellen, seine strategische Infrastruktur zerstört wird und die Bevölkerung vom Krieg so zermürbt ist, dass die Rufe nach einem Verhandlungsfrieden um jeden Preis die Oberhand gewinnen.

Ein solches Szenario wird umso wahrscheinlicher, je näher der Wahlkampf in den USA rückt und je mehr die militärischen Bestände der Ukraine an ihre Grenzen kommen. China, Russland und der Iran stiften im Nahen Osten, in Südostasien und in Osteuropa mit einer konzertierten Aktion militärisches Chaos. Im düsteren Szenario streicht der US-Kongress die Mittel, der Westen verliert seine Geschlossenheit, gibt der Ukraine nicht die Waffen, die sie braucht, und die Ukraine verliert. Selbst die nächste und übernächste Generation in der Ukraine hätte sich der russischen Großmannssucht zu erwehren, der Osten Europas müsste dauerhaft mit russischer Bedrohung leben.

Dieses Szenario wäre verhinderbar, wenn das Sondervermögen der Bundeswehr vorerst ganz der Ukraine zugutekommt. Das Fehlen von Langstreckenraketen, von Luftstreitkräften zur Kontrolle des Luftraums, von Gerätschaft zur Minenräumung und von »Jammern« gegen russische Drohnen hat die ukrainische Offensive in 2023 behindert. Die Ukraine müsste in die Lage versetzt werden, eine Gegenoffensive in 2024 mit kombinierten Waffen zu starten. Präzisionswaffen mit großer Reichweite können dazu beitragen, die Zerstörung der russischen Artillerie, Logistik und Transportinfrastruktur zu beschleunigen.

Russland hat wiederholt mit (nuklearer) Eskalation gedroht. Doch als Frankreich und Großbritannien Präzisionswaffen mit großer Reichweite lieferten, tat Moskau: nichts. Die Eskalationsdrohungen sind leer. China hat dem Kreml deutlich gemacht, dass es den Einsatz von Atomwaffen ablehnt. Im Kreml weiß man vermutlich selbst, dass der Einsatz einer Atomwaffe keine Vorteile bringt. Kurzum, »wir«, d. h. die westlichen Unterstützer der Ukraine, sollten die Angst vor Putin überwinden. Sie ist seine schärfste Waffe.

Wenn der Westen der Ukraine die strategischen Ressourcen und hochpräzisen Langstreckenraketen zur Verfügung stellt, könnte das Land die russischen Nachschublieferungen, insbesondere auf der Krim, unterbinden. Der Ukraine wird nichts anderes übrigbleiben, als die eigene Rüstungsindustrie massiv hochzufahren und damit unabhängiger von der volatilen Unterstützung des Westens zu werden. Während das bei der Produktion von Drohnen bereits gut funktioniert – im letzten halben Jahr konnte die heimische Drohnenproduktion um 900 % gesteigert werden auf 50.000 pro Monat – gibt es bei der Fertigung anderer Waffensysteme großen Nachholbedarf. Die Ukraine sollte das Überleben der eigenen Soldaten prioritär schützen, andernfalls wird es noch schwieriger, genügend frische Kräfte zu mobilisieren, und sie sollte versuchen, mit Distanzwaffen, Drohnen und Cyber-Kriegsführung die »rückwärtigen Dienste« Russlands zu treffen. Entweder wird der bisherige artilleriezentrierte Krieg von der Ukraine anders geführt als in den letzten zwei Jahren – als Luft- und Cyberkrieg, woraufhin Selenskyjs Ankündigung einer neuen Teilstreitkraft ausschließlich für die Kriegsführung mit Drohnen hindeutet – oder Russlands Hebel ist tatsächlich länger. Dies wird voraussichtlich bedeuten, das die ukrainische Armee wie im Fall von Awdijiwka weitere bisher gehaltene Gebiete preisgeben muss. Das Jahr wird entweder in eine technologisch überlegene, für die Ukraine ressourcenschonende Kriegsführung münden oder zum schleichenden Kollaps der Ukraine führen.

Minimalziele

Eine Beendigung des Krieges ist nur denkbar, wenn Putin keine andere Wahl hat und die internationalen Sicherheitsgarantien für die Ukraine robust sind. Die Ukraine möchte im Mindesten den territorialen Status quo von vor dem 24. Februar 2022 wiederherstellen, die Zugänge zum Schwarzen Meer und zum Asowschen Meer bewahren, jegliche Vetomacht Russlands über die ukrainische Innen- und Außenpolitik ausschließen und einen Zustand erreichen, der künftige russische Angriffe hinreichend abschreckt. Um einen schmutzigen Frieden oder Siegfrieden Putins zu verhindern, müsste »der Westen« seine roten Linien definieren und gegenüber der Öffentlichkeit kommunizieren.

Eine Minimierung der Kriegsziele würde nur dann eine Kriegsbeendigung näher rücken lassen, wenn sie symmetrisch verliefe, denn gingen der Ukraine die Waffen aus, würde Russland seine Kriegsziele nur ausweiten, während umgekehrt die Ukraine ihre Kriegsziele in Abhängigkeit von schwindenden russischen Kriegsressourcen ausweiten dürfte. Eine Drosselung von Waffennachschub würde nur die Kriegsziele der schwächeren Partei begrenzen und damit zum Sieg der stärkeren Partei beitragen.

Wie könnte Russlands Regime dazu gebracht werden, seine Kriegsziele zu minimieren? »Realisten« könnten den ideologischen Gesinnungstätern in den Arm fallen. Die Rivalitäten und Schuldzuweisungen zwischen den Machtzentren nehmen zu, auch die Spannungen zwischen dem Zentrum und den Regionen. Der Krieg ist schon heute nicht mehr populär, selbst wenn es eine diffuse vaterländische Eintracht gibt. Die Sanktionen schränken den Lebensstandard spürbar ein. Die öffentliche Stimmung könnte noch kippen. Der Unmut über die Kriegsfolgen in Russland wird trotz der Propaganda wachsen, gerade in den Großstädten und in Teilen der Eliten.

Abkommen zur Befriedung

Für Friedensabkommen müssen die Gegner erschöpft sein. Frieden muss mehr Sicherheit bieten als Krieg und die Lasten spürbar reduzieren. Ein Friedensabkommen müsste nicht nur robuste Sicherheitsgarantien für die Ukraine klar definieren, sondern auch die Aufarbeitung der Kriegsverbrechen, das Recht auf Rückkehr, die Reparationen, den Status der besetzten Gebiete (einschl. der Krim), den Wiederaufbau, die Grenze zwischen Russland und der Ukraine, die Art der Friedenssicherung an der künftigen »Kontaktlinie« und die Bündniszugehörigkeit der Ukraine klären.

Jede Kriegsbeendigung ist mit schweren Entscheidungen verbunden, die politisch verkauft werden müssen. Entweder wird die territoriale Integrität und Souveränität eines Landes gewährleistet oder ein »Land für Frieden«-Deal geschlossen. Der Kampf um Erhalt der territorialen Integrität kann einen langanhaltenden Krieg nach sich ziehen, der die Lebensfähigkeit des Landes bedroht. Der Krieg kann mit der Wiederherstellung von Recht und Gerechtigkeit enden oder mit einem Friedensabkommen, das die Kriegsschuld außen vorlässt. Darüber hinaus sind sich die Kriegsgegner uneins, ob ein langer oder kurzer Krieg zum eigenen Vorteil gereicht, man also weiterkämpfen oder sich einigen soll. Je länger der Krieg andauert, umso schwieriger wird eine Reintegration der derzeit von Russland kontrollierten Menschen und Gebiete, denn über kurz oder lang wird jeder, der unter russischer Besatzung lebt, Kompromisse machen müssen, die von ukrainischer Seite wiederum als Kollaboration ausgelegt und verfolgt werden. Die Befreiten könnten Angst vor den Befreiern bekommen. Schließlich will keine Seite zuerst Kompromissbereitschaft signalisieren, weil sie als Zeichen der Schwäche ausgelegt würde. Mit welchem Kriegsergebnis könnten die Machthaber in Moskau und Kyjiw und die Bevölkerungen leben?

Die Kriegsbeendigung kann nicht an den Kollaps des putinschen Regimes geknüpft werden. Die Kriegsbeendigung kann ebenso wenig von der Mitgliedschaft der Ukraine in der EU und der NATO abhängig gemacht werden, selbst wenn dies längerfristig die einzige Sicherheitsgarantie sein wird. Maximale Kriegsziele können nur infolge von Sicherheitsgarantien, an denen China und die USA mitwirken müssen, begrenzt werden. Die westlichen Unterstützer sollten deshalb zusammen mit der Ukraine bald konkrete Vorstellungen von den unverzichtbaren Inhalten eines Friedensabkommens entwickeln. Ein Zwischenschritt können Inseln der Übereinkunft sein, z. B. das Getreideabkommen, örtlich und zeitlich begrenzte Waffenstillstände oder der Gefangenenaustausch, und ein internationalisiertes Übergangsregime in Gebieten sein, die derzeit noch von Russland kontrolliert werden.

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Analyse

Zwei Jahre russischer Angriffskrieg. Welche politischen, militärischen und strategischen Erkenntnisse lassen sich ziehen?

Von Mykola Bielieskov
Der Beitrag bietet einen Überblick über die politischen, militärischen und strategischen Erkenntnisse, die sich in den letzten zwei Jahren im großen russisch-ukrainischen Krieg herauskristallisiert haben. Auf beiden Seiten reichten die Ressourcen bisher nicht aus, um die strategische Initiative auf dem Schlachtfeld herzustellen und die politischen Ziele zu erreichen. An Land führt diese Situation aktuell zu einem fast statischen Frontverlauf, der sich jedoch schnell wieder ändern könnte. In der Luft konnte die Ukraine Russlands enorme Lufthoheit fast neutralisieren. Und auf See gelang es der Ukraine sogar ohne nennenswerte eigene Marine die russische Schwarzmeerflotte zurückdrängen und auf Jahre erheblich zu schwächen. (…)
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